A/N: So, die Sommerpause ist vorbei, und ich sitze wieder regelmässig am Computer und werdewenn möglichauch wieder wöchentlich ein Kapitel posten. (Montags, wenn nicht gerade SchweizerNationalfeiertag ist, so wie gestern). Auch nach den Ferien freue ich mich über Reviews - das Knöpfchen ist unten links zu finden ;)
Disclaimer: Zur Abwechslung möchte ich einmal wieder erwähnen, dass immer noch alle bekannten Elemente wie Elben, Maia unfd Istari von Tolkien stammen, auch wenn ich mir erlaubt habe, sie teilweise umzutaufen.
Und jetzt viel Spass mit dem nächsten Kapitel!
Götter und Sterne
Die kleine Gruppe von Reitern zog langsam durch das niedrige, trockene Gestrüpp am Rand der Wüste. Araym hatte betont, wie wichtig es sei, nicht auf direktem Weg zum Gebirge zu reiten, sondern sich einer weit in die Wüste hinausragenden Felszunge von Süden her zu nähern. Auch wenn dies ein paar Tage Umweg bedeutete, hatte Tiruial sich mit dieser Absicht einverstanden erklärt. Der Elb hatte sich noch nicht vollständig von seiner Verwundung erholt; er fühlte sich schwach und elend, und noch immer schmerzte ihn jede grössere Bewegung.
Der Hengst Tilion schien die schlechte Verfassung seines Reiters zu spüren, denn er bewegte sich langsam und setzte seine Hufe sorgfältig, um jede unnötige Erschütterung zu vermeiden.
Tiruial wusste, dass er im Augenblick das schwächste Mitglied der Gruppe war, und er fürchtete, dass er seine Begleiter in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn sie von den Südwinden entdeckt würden. Eine längere Flucht konnte er in seinem Zustand unmöglich überstehen.
Auch wenn Tiruial erst dagegen gewesen war, so war er jetzt doch froh, dass Anarya sich durchgesetzt hatte und ihn in den Westen begleitete. Wenn er die Reise nicht überstehen sollte, so bestand doch immerhin die Hoffnung, dass die junge Frau einen Weg nach Imladris finden würde, und den Elben dort das Alquaros übergeben könnte. Die Söhne Elronds würden schon wissen, was sie damit anfangen mussten.
Im Augenblick ritt Anarya neben ihrem Bruder, und Tiruial hörte, dass sie ihm von Imladris erzählte. Ariën, die fuchsfarbene Stute, tänzelte nervös, weil ihr die Nähe von Tárions Kamel nicht behagte, aber Anarya schien keine Schwierigkeiten mit dem Pferd zu haben. Tiruial war froh, dass er ihr das Tier überlassen hatte, denn Ariën war noch nicht so erfahren wie Tilion, und in ihren Adern floss das Blut der Pferde von Rohan, was sie temperamentvoller machte als den weissen Hengst. Ariën hätte sich wohl kaum darum gekümmert, dass ihr Reiter nicht auf dem Höhepunkt seiner Kräfte war.
Zuvorderst ritt Marek neben Araym. In den Tagen in Kirgus Hütte, als sie sich gemeinsam um den verletzten Elben gekümmert hatten, waren sich die beiden Soldaten näher gekommen, und aus anfänglichem Misstrauen war eine kameradschaftliche Beziehung entstanden, vor allem nachdem klar war, dass Araym kein Feind war. Die beiden unterhielten sich stundenlang über die verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihnen boten, wenn sie erst einmal das Gebirge erreicht hätten. Tiruial überliess ihnen die Entscheidung gerne, denn er fühlte sich nicht in der Lage, die Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen, und er vertraute Mareks Erfahrung und Arayms Wissen über die Südwinde. Plötzlich hielt Araym sein Kamel an und hob die Hand zum Zeichen, dass man warten solle. Er beriet sich noch einmal kurz mit Marek und wandte sich dann an den Rest der Gruppe.
„Wir werden jetzt in die Wüste hineinreiten und uns langsam dem Gebirge nähern. Wenn wir uns leicht südwärts halten, bewegen wir uns abseits von den Handelspisten und somit in Bereichen, die nicht von den Südwinden bewacht werden. Trotzdem schlage ich vor, dass wir uns jetzt umziehen. Selbst wenn uns aus der Nähe die Pferde verraten, so können wir die Südwinde aus einer grösseren Entfernung vielleicht täuschen."
Tárion nickte und begann sofort in seinen Satteltaschen zu wühlen. Auch Anarya beugte sich über ihr Gepäck und entnahm ihm ein dunkelblaues Tuch. Tiruial schloss sich an und zog seinerseits den Schleier hervor, mit dem sie sich tarnen würden. Araym hatte diese Idee am Tag vor der Abreise vorgebracht, und Tiruial musste zugeben, dass sie gut war. In die blauen Tücher gehüllt, würde man sie auf grosse Entfernung für Südwinde auf Patrouille halten. Ausserdem schützten die Schleier vor Sonne, Sand und Austrocknung, wenn man sie richtig trug. Araym hatte es ihnen zwar gezeigt, aber nun kam er trotzdem von Reiter zu Reiter und half jedem, das grosse Tuch auf die richtige Weise umzulegen.
Der Schleier roch seltsam, da man das feine Leinen erst im letzten Moment noch dunkelblau gefärbt hatte. Nachdem sich aber alle verschleiert hatten, war die Täuschung selbst aus der Nähe eindrücklich. Auf Arayms Rat hin trugen die Reiter über ihren Rüstungen helle Hemden, die aus der Ferne wirkten wie die Lederrüstungen der Südwinde. Nachdem alle ihre Umhänge abgelegt hatten und nun nur noch den blauen Schleier über dem hellen Hemd anhatten, nahmen Mareks Männer Anarya und Tiruial in die Mitte, so dass man die Pferde nicht gerade auf den ersten Blick sehen konnte. Erneut übernahmen Marek und Araym die Führung und die anderen folgten ihnen.
Für den Rest des Tages kam die kleine Gruppe ungehindert voran. Gegen Abend waren sie schon recht weit in die Wüste vorgedrungen, und Araym fand einen geeigneten Lagerplatz, der von hohen Dünen umgeben war. Man konnte es nicht wagen, Feuer zu machen, obschon es nach Sonnenuntergang rasch ziemlich kalt wurde. Marek teilte Wachen ein und setzte sich dann zu Anarya und Tárion, die müde an dem trockenen Brot herumknabberten, das wohl noch für längere Zeit ihr Hauptnahrungsmittel sein würde. Tiruial lag regungslos neben ihnen am Boden. Er hatte abgewehrt, als Anarya sich um ihn kümmern wollte und hatte ihr gesagt, er brauche nur Ruhe.
„Wo ist der Gardist?"
Anarya hörte an Tárions gereiztem Tonfall, dass er Araym immer noch nicht traute. Marek dagegen schien keinerlei Zweifel mehr zu haben, was die Gesinnung des ehemaligen Südwindes betraf. Er deutete zu den Pferden.
„Er untersucht die Beine der Tiere. Morgen kommen wir laut ihm in ein Gebiet, wo wir deutliche Spuren hinterlassen werden. Es wäre gut, wenn wir die Pferdehufe umwickeln könnten, damit sie nicht so offensichtliche Abdrücke hinterlassen."
Anarya blickte dorthin, wo die Pferde standen. Sie hatten sie nicht angebunden, da sie laut Tiruial sowieso nicht weggehen würden. Tilion hatte sich soweit wie möglich von den Kamelen entfernt hingelegt. Ariën dagegen stand mit geblähten Nüstern da und blickte nervös zu Araym, der sich ihr zögernd näherte. Als er ihr zu nahe kam, legte sie die Ohren flach an den Kopf und fletschte drohend die Zähne. Araym zuckte zurück, worauf die Stute einen Schritt auf ihn zu kam. Auch wenn der Anblick reichlich amüsant war, hatte Anarya ein Einsehen mit dem jungen Mann und stand auf. Rasch ging sie an Araym vorbei zu ihrem Pferd und fasste es an der Mähne. Dann nickte sie Araym zu.
„Kommt näher, damit ich euch einander vorstellen kann."
Araym gehorchte zögernd und ging langsam auf Anarya und das Pferd zu. Anarya bemerkte, dass Marek und Tárion der Aktion grinsend zusahen und wandte sich an ihren Bruder.
„Du kannst auch gleich herkommen. Dich kennen die Pferde ebenfalls noch nicht, und es könnte sein, dass du auch einmal mit ihnen zu tun hast."
Tárion schüttelte grinsend den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung, aber seine Schwester liess nicht so einfach locker.
„Hast du etwa Angst? Sollte der Krieger der königlichen Armee sich wirklich vor einem einfachen Reittier fürchten?"
Mit einem knurrenden Laut stand Tárion auf und ging langsam auf Anarya zu.
„Angst? Das ich nicht lache! Ich weiss nur nicht, was du an diesen Biestern findest."
Ariën schien das Ganze Spass zu machen, denn sie bäumte sich an Anaryas Seite spielerisch auf und machte Drohgebärden gegen die beiden jungen Männer, die nicht recht wussten, wie sie denn nun näher kommen sollten. Marek lehnte sich genüsslich zurück, um das Schauspiel in Ruhe zu beobachten.
„Sie hätte sie besser zu Tilion geführt. Er ist nicht so übermütig und würde sie an sich heranlassen, wenn man es ihm befiehlt."
Tiruials Stimme war so leise, dass Marek ihn kaum verstanden hatte. Er drehte sich um und sah zu dem Elben hinüber, der sich auf die Ellenbogen aufgestützt hatte und auch zu den Pferden sah. Tiruial bemerkte seinen Blick und schüttelte leicht den Kopf.
„Fragt nicht! Es geht mir recht gut. Ein paar Stunden Ruhe sind alles, was ich brauche. Nun Marek, Ihr scheint Euch nicht so vor den Pferden zu fürchten, wie die anderen."
Der alte Soldat lachte leise auf.
„Ihr mögt Euch nicht mehr erinnern, aber wir haben einst zusammen gespielt, als wir noch Kinder waren. Damals habt Ihr mir schon gezeigt, dass man Pferde auch anders zähmen kann, als wir es hier in Amarond tun."
Tiruial lächelte.
„Ihr seid tatsächlich dieser Marek. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir Euch damals im Wald gefunden haben, meine Schwester und ich. Es freut mich, dass auch Ihr es nicht vergessen habt."
Marek lächelte auch, aber dann wurde er ernst.
„Es ist erstaunlich, was seither alles geschehen ist. Ich bin ein alter Mann, Eure Schwester ist noch älter als ich und Ihr seht immer noch aus, als wärt ihr gerade erst der Jugend entwachsen."
Tiruial seufzte und Marek verfluchte sich für seine Taktlosigkeit.
„Verzeiht mir, ich wollte nicht..."
Tiruial winkte ab.
„Nein, es fallt mir nur sehr schwer über solche Dinge nachzudenken. Meine Mutter ist tot und meine Schwester ist eine alte Frau, aber mein Vater ist unsterblich. Im Westen halten mich alle Menschen für einen Elben und die Elben nennen mich Peredhel, Halbelb, und sind überzeugt davon, ich hätte die Wahl getroffen, unsterblich zu sein. Nun, ich selber weiss, dass ich nie bewusst eine solche Wahl getroffen habe. Was, wenn ich nun nicht unsterblich bin? Was, wenn ich eines Tages anfange zu altern? Oder wenn ich urplötzlich einfach sterbe, weil meine Lebensspanne abgelaufen ist? Jeden Tag frage ich mich, ob ich schon graue Haare habe, ob die ersten Falten in meinem Gesicht zu sehen sind, ob mein Körper um mich herum zu zerfallen beginnt. Manchmal gelingt es mir zu vergessen. Aber nicht hier, wo meine Zwillingsschwester lebt, hier, wo ich jeden Tag Anarya sehe, die ich im Fieber für Miradan gehalten habe, die aber stattdessen ihre Enkelin ist. Im Westen kann ich mit der Ungewissheit leben, kann sie verdrängen und so tun als wäre ich ein Elb wie alle anderen. Aber nicht hier - hier fühle ich mich sterblicher denn je, und daran ist nicht nur meine Verletzung schuld."
Tiruial verstummte. Für eine Weile hingen beide Männer ihren eigenen Gedanken nach, aber dann beschloss Marek, das Thema zu wechseln. Die Unsterblichkeit der Elben war ihm fremd, und er wusste nicht, wie er auf Tiruials Überlegungen eingehen sollte. Somit deutete er wieder zu den Pferden, die inzwischen von Tárion und Araym zaghaft gestreichelt wurden.
„Ariën und Tilion sind ungewöhnliche Namen. Haben sie in Eurer Sprache eine Bedeutung?"
Tiruial nickte.
„Ich habe Tilion in Imladris geschenkt bekommen, als mein letztes Pferd einem Orkangriff zum Opfer fiel. Wegen seines silberweissen Fells hatte man ihn dort Tilion getauft. Dies ist unser Name für den Mond, oder genauer gesagt für den Maia, der den Mond über den Himmel lenkt."
Marek nickte langsam.
„Arynne und Silon, ich hätte früher darauf kommen müssen! Eure Stute heisst demnach nach der Sonne, nicht wahr?"
Tiruial sah den alten Soldaten verwirrt an.
„Ja, ich habe sie als Fohlen gekauft und auf diesen Namen getauft, weil es gut zu Tilion passte und sie ein rotes Fell hatte. Aber wer sind Arynne und Silon?"
Marek atmete tief durch.
„Ich bin kein Meister im Geschichtenerzählen, aber ich werde es versuchen. Habt ihr schon von Yoris und Simurakh gehört?"
Tiruial nickte.
„Die beiden unsterblichen Könige, die in Farad regierten?"
„Genau. Man weiss nicht viel über ihre Herkunft, aber sie haben ihre eigenen Götter mit nach Farad gebracht. Seit der Zeit von Yoris und Simurakh verehrt man dort die Amanir. Es gibt höhere Götter, die Wind und Wasser, Himmel Erde, Pflanzen, Tiere, Leben und Tod unter sich haben. Dann gibt es die niederen Götter, Mashari, die nur für kleine Dinge zuständig sind. Wenn ich mich recht erinnere, so sind Arynne und Silon solche Mashari, die das Sonnenschiff und die Mondinsel lenken. Ich habe nie verstanden, weshalb der Mond eine Insel sein soll, aber in Farad glaubt man fest daran."
Tiruial setzte sich ruckartig auf.
„Sonnenschiff und Mondinsel? Das ist interessant! Es scheint tatsächlich, als wäre das Wissen über die Valar bis zu euch in den Osten gekommen."
Er runzelte die Stirn.
„Man sagte mir, dass Yoris und Simurakh immer in blau gekleidet waren, nicht wahr?"
Marek nickte.
„Ja, es kam nur höchst selten vor, dass sie keine blauen Gewänder trugen."
„Die Ithryn Luin. Kann es denn sein, dass sie hierher gekommen sind?"
Marek wusste nicht, wovon der Elb sprach, aber ihm fiel noch etwas anderes ein.
„Es heisst, Yoris und Simurakh seien selbst solche Mashari gewesen. Deshalb hätten sie so grosse Zauberkräfte gehabt – sie stammten selbst aus dem fernen Aman und waren Götter."
Tiruial war eindeutig fasziniert von seiner Idee. Seine Augen leuchteten, als er weitersprach.
„Die Ithryn Luin. Sie müssen es gewesen sein! Hierhin sind sie also verschwunden."
„Verzeiht, aber ich verstehe nicht, was Ihr damit sagen wollt. Was ist mit diesen Luin?"
Der Elb räusperte sich erfolglos und begann dann mit leiser, heiserer Stimme zu erzählen.
„Als das Böse auf Mittelerde immer stärker wurde, sandten die Valar fünf Maiar aus, um den Widerstand mit ihrer Zauberkraft zu unterstützen. Diese Abgesandten wurden auf Mittelerde Zauberer genannt, Istari in der Sprache der Elben. Jeder von ihnen wurde mit einer Farbe in Verbindung gebracht: Curumo der Weisse, Olorin, der Graue, Aiwendil, der Braune und schliesslich Alatar und Pallando, die Blauen Zauberer oder Ithryn Luin für die Elben.
Diese beiden kamen zwar auf Mittelerde an, über ihren weiteren Verbleib ist jedoch nichts bekannt. Es hiess immer, sie seien in den Osten gezogen, doch niemand kannte die Gründe und niemand wusste, was dort aus ihnen geworden war. Nun scheint mir, als wären Alatar und Pallando tatsächlich hierher gekommen. Was ich bisher über Yoris und Simurakh erfahren habe, weckt in mir den Verdacht, bei ihnen habe es sich um die Ithryn Luin gehandelt. Da sie selbst aus Valinor stammten, würde es erklären, dass die Menschen von Farad die Valar und Maiar unter denselben Namen kennen, wie wir im Westen. Ausserdem ist Aman eine andere Bezeichnung für Valinor; eine Bezeichnung, die auch uns Elben bekannt ist. Die geringfügigen Unterschiede in der Aussprache, so wie Ariën und Arynne, kommen vermutlich daher, dass hier nur Sterbliche leben, und es schon hunderte von Jahren her ist, dass Yoris und Simurakh ihr Wissen verbreiteten. So wurde wohl vieles in den Überlieferungen verändert oder vergessen."
Marek, der sich weit vorgebeugt hatte, um Tiruials leise Worte zu verstehen, lehnte sich nun wieder zurück und blickte einen Moment lang stumm an den Himmel. Dann nickte er langsam und bedächtig.
„Das erklärt vieles. Ihr müsst wissen, dass ich einst der königlichen Armee angehörte. Von den Soldaten der Königin erwartet man, dass sie sich nicht nur in der Kunst der Kriegsführung üben, sondern auch andere Dinge lernen. So hat jeder Soldat der Königin Zugang zur königlichen Bibliothek, wo unzählige alte Schriften aufbewahrt werden. Am Ende der Ausbildung muss man nicht nur eine Waffenmeisterprüfung für eine bestimmte Waffe ablegen, sondern auch eine schriftliche Arbeit über einen Aspekt der Geschichte Amaronds.
Ich habe mich damals dafür interessiert, weshalb Amarond und Farad verschiedene Götter verehren, obschon Amarond von Verbannten aus Farad gegründet wurden. Dabei fiel mir auf, dass sowohl die Astarden aus Farad wie auch die Nomaden des Westens und die Karmandi im Süden die Sonne anbeten. Kein Wunder, denn Farad liegt an der Felswüste Jira, Karmand in der Wüste des Koron und Amarond ist im Osten und Süden von Wüsten umgeben. In solchen Gebieten ist es nahe liegend, die Sonne zu verehren, denn sie ist es, welche die Felder verbrennt und die Wolken auflöst, bevor Regen fallen kann.
Interessant war, dass auch die Valdograd im fernen Osten die Sonne anbeteten und ihr sogar Menschenopfer darbrachten, um ihre Gnade zu erflehen. Ja, selbst bei den Tarvik im Norden spielte die Sonne immer eine wichtige Rolle, da sie die nötige Wärme spendete, um auf den kargen Feldern Getreide heranziehen zu können.
Zu der Zeit, als die Astarden aus Farad verbannt wurden, war es dort immer noch die Sonne, die man verehrte. Dann kamen Yoris und Simurakh, und nun verehrt man Manave und Varta, den Gott des Windes und die Herrin der Sterne. Arynne, die Sonne, spielt in der Religion der Farad nur eine untergeordnete Rolle. Ich habe mich damals gefragt, woher Yoris und Simurakh kommen mochten, und wie es kam, dass sie die Religion Farads so grundlegend ändern konnten."
Tiruial sah den Gutsverwalter des Fürsten plötzlich mit anderen Augen an. Bisher hatte er in ihm nur den alternden Soldaten gesehen, nun erkannte er plötzlich, dass viel mehr in dem Mann steckte, als er ihm zugetraut hätte. Es gab wohl im ganzen Westen Mittelerdes nicht einen menschlichen Soldaten, der sich mit der Geschichte seines Landes so gut auskannte, und der so viele unterschiedliche Interessen hatte, wie Marek. Der alte Mann erinnerte ihn entfernt an Elrond aus Imladris, der zwar in bedeutenden Schlachten gekämpft hatte und als Herold des Elbenkönigs Gil-galad grosse Taten vollbracht hatte, der aber trotzdem als einer der Weistesten von Mittelerde galt. Doch Elrond hatte eine Ewigkeit, um sein Wissen zu mehren, während Marek nur die kurze Lebensspanne eines Menschen zur Verfügung stand.
„Wisst Ihr weshalb mich die Sonne damals am meisten fasziniert hat? Ich las über die verschiedenen Länder und ihre Götter. Überall stand die Sonne im Mittelpunkt, ausser im fernen Shadrinam. Das Volk von dieser Insel im Ostmeer unterscheidet sich in vielen Dingen von den Völkern der Koldarebene. Ihre Wissenschaft ist sehr weit fortgeschritten, und sie besitzen Dinge, deren Macht an Magie grenzt, obschon kein Zauber dahinter steckt. So betrachten die Shadri den Himmel durch lange Rohre, in denen sich geschliffene Glasscheiben befinden. Auf diese Weise wird alles stark vergrössert. Nun behaupten die Shadri, dass die Sonne nichts anderes sei als ein Stern, der sich näher an unserer Welt befinde, als alle anderen Sterne. Für sie ist die Sonne nur ein Feuerball am Himmel, der von ihrem Gott dorthin gesetzt wurde, aber keinen eigenen Willen hat. Den Mond bezeichnen sie als einfachen Steinklumpen, der um unsere Welt kreist, und sie behaupten, es gäbe andere Welten am Himmel, die auch von Monden umkreist würden.
Es gibt in Amarond nur wenig über Shadrinam zu erfahren, aber die Unterschiede zu den anderen Ländern des Ostens haben mich immer interessiert."
Tiruial hatte aufmerksam zugehört und schien nun angestrengt nachzudenken. Schliesslich ging er zögernd aus Mareks Ausführungen ein.
„Einst haben die Valar die Unsterblichen Lande aus dieser Welt entrückt. Nur noch den Elben ist es vergönnt, auf dem geraden Weg dorthin zu segeln. Es heisst, die Menschen, die in den Westen segeln, würden nach langer Zeit an die Ostküste von Mittelerde stossen, da die Erde für sie nun die Form einer Kugel habe. Wer weiss, ob nicht Ariën nur noch über Valinor ihre Bahnen zieht, und nicht über der Welt der Sterblichen. Und doch erscheint es mit unmöglich, was Ihr erzählt. Ein Stern, der näher ist als alle anderen? Wieso sollte Elbereth, die Sternenkönigin so etwas tun?"
Marek neigte nachdenklich den Kopf zur Seite.
„Vielleicht hat sie den Stern dorthin gesetzt, weil Ariën wirklich nur noch über Euren Unsterblichen Landen segelt. So hat sie den Menschen einen Stern gegeben, damit sie nicht in ewiger Nacht leben müssen."
Tiruial lächelte erstaunt.
„Ihr seid ein weiser Mann, Marek. Ich sage nicht, dass ich an die Geschichten der Shadri glaube, aber Eure Ausführungen sind interessant. Nun lasst mich aber ein wenig ruhen, denn der Ritt morgen wird anstrengend, und ich bin erschöpft."
Mit einem Seufzer legte er sich hin und starrte in den Himmel. Marek hatte das Gefühl, er suche mit seinen scharfen Augen den Himmel nach den fremden Welten mit ihren Monden ab, von denen er ihm erzählt hatte.
