A/N und Disclaimer: Mittelerde und seine Bewohner sind immer noch Eigentum von Tolkien und seinen Erben. Tiruial habe ich erfunden, und auch wenn er ein Elb ist, tut er in diesem Kapitel etwas, was Tolkien nie so erwähnt hat. Nennen wir es künstlerische Freiheit… Eigentlich habe ich mich bemüht, die Elben nicht als allzu übermenschlich darzustellen, aber irgendwie hatte es Tiruial nach seiner Verletzungspause nötig, sich mal wieder zu beweisen…
Misstrauen
Mit zermürbender Langsamkeit stieg man bergauf. Der Weg war furchteinflössend, und manch einer der Soldaten wagte es nicht mehr, hinunter auf den Grund der Schlucht zu blicken. Auf der rechten Seite der Reiter stieg die Felswand immer noch senkrecht empor, links fiel die Wand ebenso steil ab. Der Pfad war schmal und steil, aber obschon man gewaltig an Höhe gewann, schien die Oberkante der Felswand nicht näher zu rücken. Die Kamele marschierten geduldig voran, und ihre Reiter liessen sie ihren Weg selbst suchen. Auch Tilion setzte vorsichtig Huf vor Huf, während sich Marek nervös an seine Mähne klammerte. Ariën dagegen war schweissbedeckt. Ihre weit aufgerissenen Augen zeugten von ihrer Angst, und immer wieder versuchte sie, seitwärts auszubrechen. Anarya murmelte beruhigende Worte, aber innerlich verging sie fast vor Angst.
Mit der Zeit wurde der Wind immer lauter und übertönte schliesslich jedes andere Geräusch. Ein messingfarbener Schleier senkte sich über die Karawane und nahm einem die Sicht. Bald konnte man nur noch den Reiter ausmachen, der gerade vor einem ritt. Die Kamele pressten ihre Nüstern zu schmalen Schlitzen zusammen und schritten mit hochmütigem Gesichtsausdruck voran; den Pferden dagegen machte der Sand in der Luft zu schaffen. Keuchend schleppten sie sich hinter den Kamelen her, und nach und nach verloren Marek und Anarya die anderen aus den Augen.
Araym ging es zuvorderst auch nicht besser. Unzählige Male war er diesen Pfad gegangen, aber noch nie hatte er so zu kämpfen gehabt. Bei gutem Wetter konnte man die Sandfeste in zwei oder drei Stunden erreichen, aber heute konnten sie froh sein, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit auf der anderen Seite des Grates waren. Der Sturm war um einiges heftiger als Araym angenommen hatte. Bestimmt waren inzwischen schon alle Südwinde irgendwo in Sicherheit, wohl selbst die Wachen auf den Türmen. Araym hatte selber ab und zu Wachdienst gehabt, und er wusste, wie langweilig es einem mit der Zeit wurde. Bei diesem Sturm standen die Aussichten günstig, dass sich niemand mehr auf dem Turm befand, sondern dass die Wachen unten sassen und würfelten oder Karten spielten.
Nach einer letzten schier endlosen Steigung endete der Pfad urplötzlich auf dem Grat zwischen zwei Nebenarmen der Schlucht. Auf der Stelle blickte Araym zum Wachturm, aber er konnte in dem Sandsturm nicht einmal den Turm erkennen, geschweige denn die Wachen. Vorsichtig ritt er ein wenig weiter, so dass ihm die nächsten Reiter auf den etwas breiteren Weg folgen konnten. Plötzlich schob sich Tiruial neben ihn. Er beugte sich weit zu Araym hinüber, aber der Gardist konnte ihn trotzdem kaum verstehen.
„Es ist niemand auf dem Turm!"
Araym blickte noch einmal in Richtung des Turmes. Vage konnte er die Umrisse des Baus ausmachen, aber es war ihm unmöglich zu sagen, ob jemand oben stand oder nicht. Tiruial sah dagegen sehr überzeugt aus, und so nickte Araym und beugte sich nun seinerseits zu dem Elben.
„Reiten wir weiter. Bei den anderen Türmen wird es nicht so einfach sein!"
Langsam folgten sie dem Grat bis sie zu einer Stelle kamen, wo er sich zu einer Plattform verbreiterte, auf der alle Reiter problemlos Platz hatten. Von dieser Plattform aus führte ein breites Felsband westwärts, dorthin, wo man bei klarem Wetter den Pass über das Gondramgebirge hätte erkennen können. Eine zweite, sehr schmale Felszunge ging nach Nordwesten von der Plattform weg. Araym gab Tárion, Marek und Tiruial mit Zeichen zu verstehen, dass er besprechen wolle, wie man weitergehe. Die drei Männer scharten sich dicht um ihn, so dass der Gardist sich trotz des Windes mit ihnen verständigen konnte.
„Ihr seht die beiden Wege, die von hier aus weiterführen. Nach einer Weile nähern sich die beiden Felsbänder einander bis auf vierzig Fuss. An dieser Stelle befindet sich auf dem breiteren Grat der zweite Wachturm. Um zur Feste zu gelangen, müssen wir hier dem schmalen Weg folgen. Allerdings wird man uns vom Turm aus bestimmt sehen und kann uns über die Schlucht hinweg ohne Schwierigkeiten abschiessen."
Tárion nickte.
„Wird uns der Sturm schützen?"
„Nein, der Wind wird natürlich ihre Treffsicherheit einschränken, und der Sand wird ihnen die Sicht nehmen, so dass sie uns erst spät entdecken werden, aber wir entfernen uns immer mehr von der Wüste und es wird immer weniger Sand in der Luft haben."
Tiruial gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er etwas sagen wollte. Er beugte sich zu Tárion, der neben ihm stand und liess ihn gegen den Wind anschreien.
„Tiruial meint, wir sollten uns trennen. Zwei oder drei von uns reiten zum Wachturm, die anderen folgen dem schmalen Weg."
Die Männer tauschten nervöse Blicke, aber schliesslich nickte Marek.
„Ich werde mich mit einigen meiner Männer um die Wachen kümmern. Araym soll euch auf dem schmalen Pfad anführen – der Weg sieht gefährlich aus."
Der Sturm war zu heftig für einen längeren Wortwechsel, und so ritt man kurz darauf weiter. Marek nahm mit vier Soldaten den breiten Weg, während Araym sein Kamel auf den schmalen nordöstlichen Grat trieb. Hinter ihm kam Tiruial, der wieder auf sein Pferd gewechselt hatte, und Anarya sah, dass er seinen Bogen kampfbereit in der Hand hielt. Sie selber ritt dicht hinter dem Elben, gefolgt von ihrem Bruder, dem sich die restlichen Soldaten anschlossen.
Es dauerte nicht lange, bis Araym erneut das Zeichen zum Halten gab. Undeutlich konnte Anarya in einiger Entfernung zu ihrer Linken ein Gebäude ausmachen, das sich auf der anderen Seite der Schlucht befand. Tiruial vor ihr hob mit einer unglaublich raschen und fliessenden Bewegung seinen Bogen und schoss in schneller Folge zwei Pfeile ab. Es schien Anarya, als sähe sie etwas von dem Turm herunterstürzen, aber sie war sich nicht sicher. Tiruial befestigte den Bogen wieder an seinem Köcher und begegnete dabei ihrem Blick. Anarya sah, dass er ihr aufmunternd zulächelte, aber sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass die Angst in ihr ständig zunahm.
Als sie unbedingt mit auf diese Reise kommen wollte, hatte sie darin nur ein Abenteuer gesehen. Sie hatte alle Warnungen der anderen in den Wind geschlagen, hatte weder auf ihren Vater noch auf Tárion oder Tiruial hören wollen und hatte es schliesslich geschafft, mitgenommen zu werden. Nun hatte sie soeben mit eigenen Augen gesehen, wie Tiruial auf Menschen geschossen hatten, die ihm völlig fremd waren. Sie zweifelte nicht daran, dass die drei Wachen in dem Wachturm sterben würden; getötet durch Tiruials Pfeile oder von Marek und seinen Männern. Auch wenn Anarya klar war, dass die drei Wachen nicht gezögert hätten, sie anzugreifen, schmerzte es sie, dass man sie einfach so tötete. Es waren Menschen wie sie, und sie wurden einfach so erschossen, ohne dass man je mit ihnen gesprochen hätte, ohne dass man versuchte, mit ihnen zu verhandeln. Eigentlich wusste Anarya, dass Verhandlungen zu nichts geführt hätten, aber das ungute Gefühl in ihr blieb bestehen.
Tiruial blickte aufmerksam zum Turm, so als ob er wirklich sehen könne, was sich dort abspielte. Es verging einige Zeit, bis der Elb die Hand hob und ein paar Mal langsam hin und her winkte. Anarya bezweifelte, dass man beim Wachturm die Geste wahrnehmen konnte, aber Araym hatte das Winken gesehen und ritt nun langsam auf dem schmalen Grat weiter.
Zeitweise war das Felsband so schmal, dass die Reittiere einen Fuss vor den anderen setzen mussten. Der Sturm war keine grosse Hilfe bei der Überquerung der gefährlichsten Stellen, und Anarya wagte es nicht mehr, an der Flanke ihres Pferdes entlang in die Tiefe zu blicken. Zum Glück schien Ariën die Gefährlichkeit der Situation erfasst zu haben, denn sie setzte nun ihre Hufe äusserst vorsichtig und hatte mit ihren nervösen Sprüngen aufgehört.
Endlich machte die Schlucht zur Rechten einen scharfen Knick nach rechts, und der Grat verbreiterte sich wieder zu einer Plattform, ähnlich der vorhergehenden. Hier wartete man auf Marek und seine Soldaten, die nach einiger Zeit langsam über den Grat herankamen. Anarya sah in ihren angespannten Gesichtern, dass ihnen der Weg ganz und gar nicht gefiel. Auf Tárions fragenden Blick hin nickte Marek grimmig. Er ritt zu Tiruial hin und reichte ihm etwas Längliches. Dazu rief er ein paar Worte, die Anarya wegen des Windes nicht verstehen konnte. Tiruial legte die rechte Hand auf sein Herz und neigte dankend den Kopf. Zu ihrem Entsetzen sah Anarya, dass er zwei Pfeile aus einem Tuch auswickelte und sie zurück in den Köcher steckte. Das Tuch stopfte er achtlos in die Satteltasche.
Erneut sammelte Araym die anderen um sich und besprach mit ihnen den weiteren Weg. Anarya verstand nicht, was sie sagten, aber ihre ernsten Gesichter sprachen Bände. Schliesslich scharte Marek seine Soldaten um sich, während Tárion zu ihr herüber kam, um ihr die Lage zu erklären.
„Wir kommen jetzt auf das letzte Stück Weg vor der Sandfeste. 'Messers Schneide' nennen die Südwinde den Grat, über den wir reiten müssen. Laut dem Gardisten führt er fast bis vor das Tor der Feste. Neben dem Tor befinden sich noch zwei Wachtürme, die den Pfad überblicken."
Anarya sah ihren Bruder erschrocken an.
„Und wie sollen wir dort ungesehen vorbeikommen?"
„Tiruial hat vorgeschlagen, die Wachen von den Türmen zu schiessen. So kämen wir an der Feste vorbei, aber es würde wohl nicht sehr lange dauern, bis man die Toten entdeckt und daraus die richtigen Schlüsse zieht. Der Gardist hatte einen anderen Vorschlag, aber ich traue dem Kerl einfach nicht."
Tárion warf einen grimmigen Blick zu Araym hinüber, und Anarya sah, dass der ehemalige Südwind alleine am Rand der Plattform stand und in Richtung der Sandfeste blickte. Sie wandte sich an ihren Bruder.
„Was hat er gesagt?"
Tárion zuckte mit den Schultern.
„Laut ihm fällt die Felswand zur Rechten des Grates senkrecht ab bis auf den Grund der Schlucht. Auf der linken Seite gibt es dagegen eine Stufe, die etwa vierzig Fuss unter dem Grat liegt. Von dem Teich hinter der Sandfeste fliesst das Wasser durch einen immer tiefer werdenden Graben zu dieser Stufe im Fels und fällt dort über die Felskante hinab in die Schlucht hinunter, wo es dann nach einiger Zeit versickert. Der Gardist sagt, es sei möglich, den Sprung auf diese Felsplattform zu überleben, wenn man es schafft, im Wasser zu landen, das sich dort in einem Becken sammelt, bevor es in die Tiefe stürzt. Es selber sei einmal dort hinuntergestürzt und habe keine Schäden davongetragen."
Anarya schauderte es beim blossen Gedanken an diesen Sprung in die Tiefe.
„Was denkst du?"
„Wenn es stimmt, was der Gardist sagt, könnten wir in dem Graben bergauf steigen, den das Wasser in den Fels gefressen hat. So kämen wir dann direkt zu dem Teich, wo die Schlucht, der wir folgen müssen, ihren Ausgang hat. Allerdings wissen wir nicht, ob dieser Mann die Wahrheit sagt. Wir kennen weder den Teich noch die Schlucht, noch wissen wir, ob sich mit diesem Sprung in die Tiefe nicht auf einfache Weise unserer entledigen will."
Anarya quälte noch ein anderer Gedanke.
„Was ist mit unseren Reittieren? Ich bezweifle, dass wir sie zu dem Sprung in die Tiefe bewegen können, und selbst wenn, werden sie es kaum überleben."
Tárion senkte den Kopf.
„Ich weiss es nicht. Ich werde mich jetzt mit Marek beraten, aber ich wollte dir erst sagen, wie unsere Lage aussieht."
Mit diesen Worten ging er wieder zu Marek und seinen Soldaten hinüber, und Anarya blieb alleine zurück.
Für einen Augenblick sass sie einfach nur da und liess den Blick über die Landschaft schweifen. Der Sturm tobte mit unverminderter Stärke, aber wie Araym gesagt hatte, gab es hier weniger Sand in der Luft, und man konnte etwas weiter sehen als beim ersten Wachturm. Araym stand immer noch abseits, und blickte dem Grat entlang, auf dem sie weiterreiten mussten. Anarya fragte sich, woran er wohl denken mochte. Sie wusste nicht, was sie von dem Gardisten halten sollte. Er hatte versucht Tiruial zu töten, war einer der gefürchteten Gardisten und er hielt sich, seit sie zu dieser Reise aufgebrochen waren, meist abseits der anderen auf. Nur mit Marek sprach er ab und zu, aber sonst war er äusserst wortkarg. Selbst Tiruial schien ihm nicht zu trauen, wie ihr sein Griff zum Dolch gezeigt hatte. Tiruial! Plötzlich fiel es Anarya wie Schuppen von den Augen. Rasch drängte sie ihr Pferd zu dem des Elben hinüber und sprach ihn an.
„Kann ich eine Frage stellen?"
Tiruial, der wie Araym den schmalen Grat betrachtet hatte, wandte sich der jungen Frau zu und lächelte freundlich.
„Frage nur, Anarya. Wir werden sehen, ob ich dir eine befriedigende Antwort geben kann."
Anarya zögerte. Sie hatte gedacht, viel über die Elben zu wissen, aber trotzdem war es ihr unangenehm über diese Sache zu sprechen. Schliesslich nahm sie allen Mut zusammen und stellte ihre Frage.
„Als wir uns vor zehn Jahren gesehen haben, sprachen wir über die Magie von Amarond und die Menschen mit den Schattenaugen."
Tiruial nickte.
„Ich erinnere mich daran."
„Damals hast du gesagt, du bräuchtest keine Schattenaugen, um in die Herzen der Menschen zu blicken. Wie alle Elben hättest du die Gabe, unsere Gedanken zu lesen. Kannst du nicht feststellen, ob Araym die Wahrheit spricht?"
Der Elb lächelte milde.
„Ich kann keine Gedanken lesen, Kind. Es stimmt, dass ich in den Herzen der Menschen lesen kann, aber das ist nicht so einfach, wie es klingt. Wenn ich dich ansehe, so spüre ich deine Sehnsucht nach Abenteuern, aber auch deine Furcht davor, was uns noch alles auf unserer Reise erwartet. Ich fühle auch das Grauen, das von dir Besitz ergriffen hat, seit du gesehen hast, wie ich die Wachen erschossen habe, und es tut mir leid, dass du dies erleben musstest. Es ist nicht schwierig dich zu durchschauen, Anarya, denn du bist jung und offenherzig, und du hast das Misstrauen noch nicht gelernt. Araym ist ganz und gar dein Gegenteil. In seinem Leben hat er nie gelernt, anderen Menschen zu vertrauen. Er ist verschlossen und einzelgängerisch, und er hat in seinen jungen Jahren weit mehr erlebt, als mancher alte Mann. Sein Geist ist mir verschlossen, und das Wenige, das ich spüre, sagt mir nichts über seine Gesinnung aus."
„Aber kannst du denn gar nichts tun? Tárion misstraut ihm, und ich weiss nicht, wie es jetzt weitergeht. Wie sollen wir an dieser Sandfeste vorbeikommen, wenn wir nicht wissen, ob unser einziger Führer uns den richtigen Weg weisen wird? Wir können doch nicht einfach hier stehen bleiben! Wenn der Sturm sich legt, wird man uns entdecken, und dann sind wir verloren!"
Sie war den Tränen nahe, und Tiruial beugte sich zu ihr herüber und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
„Hab keine Angst, Anarya. Deine Idee war gut, auch wenn sie sich nicht so einfach ausführen lässt, wie du vielleicht dachtest. Die Macht der Elben ist in manchen Dingen nicht so gross, wie du es erwartest, in anderen jedoch viel grösser, als du es dir vorstellen kannst. Ich kann nicht in Arayms Herz lesen, wenn er sich mir verschliesst, aber ich könnte noch viel mehr erfahren als nur seine Gefühle, wenn er sich dazu bereit erklären würde, mir zu helfen. Ich danke dir für deinen Rat; ich werde jetzt versuchen, mit ihm zu sprechen."
Mit diesen Worten liess er Anarya los und sprang von Tilions Rücken hinunter. Rasch ging er hinüber zu Araym und bedeutete ihm, dass er mit ihm sprechen wolle. Anarya sah, wie der Südwind sich zu ihm herunterbeugte und wie die beiden eine Weile miteinander redeten. Schliesslich nickte der Gardist, und sein Kamel kniete nieder. Er stieg ab und kam zusammen mit Tiruial zu Anarya herüber. Der Elb trat zu ihr hin und bedeutete ihr abzusteigen.
„Wir brauchen deine Hilfe, Anarya."
Anarya glitt von Ariëns Rücken und blickte hilflos von einem zum anderen. Araym schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er trat unruhig von einem Fuss auf den anderen und blinzelte oft. Tiruial dagegen hatte die Maske elbischer Undurchschaubarkeit aufgesetzt, die es unmöglich machte, in seinen Gesichtszügen zu lesen. Er nickte den beiden jungen Leuten beruhigend zu und bedeutete ihnen, sich einander gegenüber auf den Boden zu setzen. Er selber setzte sich hinter Anarya und legte seine Hände an ihre Schläfen. Sie hörte seine leise Stimme an ihrem Ohr.
„Ich bin immer noch geschwächt von meiner Verletzung. Um meine Kräfte zu sparen, werde ich meine Gabe durch dich anwenden. Es wird dich anstrengen, aber nicht so sehr, wie es mich auslaugen würde."
Anarya nickte.
„Was muss ich tun?"
„Sieh ihm in die Augen und überlass es mir, durch sie in seine Seele zu blicken."
Trotz seiner eher kühlen Hände spürte Anarya, wie sich dort, wo er sie an den Schläfen berührte, ein warmer Punkt bildete. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht und leer an, und die Umgebung schien um sie herum zu verschwimmen. Dann begegnete sie Arayms Blick und wurde augenblicklich von seinen Augen gefangen. Es war ihr nicht mehr möglich sich abzuwenden, hilflos versank sie in den strahlendblauen Tiefen seines Blicks. Wie konnte dieser Wüstenbewohner Augen von einer solchen Bläue haben, wo doch hier selbst der Himmel von der Hitze ausgebleicht wurde?
Mit einem Schlag wurde Anarya von einer Flut von Gefühlen überschwemmt. Bilder und Gedankenfetzen strömten auf sie ein und verdrängten jeden klaren Gedanken aus ihrem Kopf. Dann hörte sie plötzlich Tiruials Stimme, doch nicht sein kratziges Flüstern, sondern die klaren melodischen Laute, an die sie sich noch von ihrer ersten Begegnung her erinnerte. Die Stimme hallte in ihrem Kopf und verdrängte den wilden Gedankenstrom, der sie zu überwältigen drohte.
Konzentrier dich, Anarya! Suche, was wir wissen wollen und lass dich nicht ablenken von der Flut der Gedanken. Ich bin hier und werde dich schützen, fürchte dich nicht!
Nach und nach verebbte der wilde Strom von Bildern in ihrem Kopf und Anarya konnte nun einzelne Gedanken erfassen, ohne von der ganzen Flut mitgerissen zu werden. Sie sah Bilder von einem grossen Gebäude mit dicken, sandfarbenen Mauern. Männer in hellen Lederrüstungen und mit blauen Schleiern gingen darin umher. Dann sah sie dieselben oder ähnliche Männer vor Zelten sitzen und auf Kamelen durch die Wüste ziehen. Bilder von Kämpfen zogen durch ihren Geist, von furchtbaren Gemetzeln, bei denen Handelskarawanen einfach so aufgerieben wurden. Sie hörte die Schreie der Männer und das Klirren von Waffen, roch den Geruch von Blut und Schweiss und fühlte eine Mischung von Wut und Angst in sich. Als nächstes sah sie eine junge, hübsche Frau, die jedoch vor ihren Augen von dem Ausschlag des schwarzen Fiebers zerfressen wurde und starb. Ein Mann ohne Augen tauchte in ihrem Geist auf, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Auch er war gestorben, wie sie aus Arayms Gedanken erfuhr. Anarya fühlte den Schmerz des jungen Mannes über den Verlust der einzigen Menschen, die ihm je etwas bedeutet hatten. Sie erlebte mit, wie man Arayms Hände verbrannt hatte, als er noch fast ein Kind gewesen war, und sie spürte den Hass, den seither im Herzen trug.
Mit einem Schlag nahm die Gedankenflut ein Ende, und die darauffolgende Leere in ihrem Kopf war fast unerträglich. Wie durch einen Nebel hörte sie Arayms keuchenden Atem und sah, wie der Gardist vor ihr in sich zusammensackte. Langsam lösten sich Tiruials Hände von ihren Schläfen, und sie hörte seine Stimme. Es war wieder das heisere Kratzen, an das sie sich einfach nicht gewöhnen konnte, und nicht der melodiöse Klang, den sie in ihren Gedanken vernommen hatte.
„Es ist gut. Es macht nichts, Araym, dass Ihr die Verbindung unterbrochen habt. Was wir gesehen haben, genügt und vollkommen. Ich denke, wir wissen jetzt Bescheid."
Anarya atmete tief durch. So viel Hass hatte sie erlebt, so viel Angst und Wut, dass sie es kaum erfassen konnte. Und doch – kurz bevor die Verbindung geendet hatte, war ein anderes Bild durch ihren Geist gehuscht. Es war nur ein Gedankenfetzen, ein Hauch von einem Gefühl, eine Ahnung von etwas, das sie nicht mehr ganz hatte erfassen können. Anarya wandte sich um und sah Tiruial an. Der Elb neigte leicht den Kopf, und noch einmal schien sie seine Stimme in ihrem Geist zu hören.
Ich habe es auch gesehen, Kind. Mach dir keine Sorgen, ich werde den anderen die Wahrheit sagen, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Lassen wir auch Araym noch ein wenig im Zweifel – es ist besser, wenn er nicht weiss, dass wir sein Geheimnis kennen.
Gleichzeitig sprach Tiruial aber auch mit seiner normalen Stimme, und bei seinen Worten hob Araym müde den Kopf.
„Ich denke, wir wissen jetzt, was wir von Euch zu erwarten haben, Araym. Ich werde den Sohn des Fürsten von meinen Erfahrungen in Kenntnis setzen. Ruht Euch aus, ich weiss wie anstrengend es für Euch gewesen sein muss."
Geschmeidig erhob sich der Elb und liess Anarya und Araym erschöpft am Boden sitzen. Schliesslich erhob sich auch Araym.
„Es tut mir leid, dass Ihr all dies sehen musstet. Ihr müsst mich jetzt verachten, für alles, was ich getan habe. Auch wenn Ihr es mir nun nicht mehr glauben werdet – ich wollte Euch niemals verraten."
Mit diesen Worten wandte er sich ab und stolperte davon.
Anarya atmete einmal tief durch und erhob sich dann auch. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an, und ihr Kopf schmerzte. Noch immer hallten in ihr die Stimmen aus Arayms Gedanken wieder, aber es war nur ein einziges Bild, das sie verfolgte – das letzte, was sie erblickt hatte, bevor Araym die Verbindung unterbrochen hatte. Auch wenn dies das Bild war, das ihr letztendlich Arayms Gesinnung verraten hatte, wünschte sie sich, sie hätte es nie gesehen. Anarya kämpfte gegen ein leichtes Schwindelgefühl an und folgte dem ehemaligen Südwind. Auch wenn Tiruial der Meinung war, dass sie Araym nicht auf sein verborgenstes Geheimnis ansprechen sollte, hatte sie das Gefühl, dass er jetzt nicht alleine sein sollte.
