A/N: Nur ein kurzes Kapitel diesmal, aber meine Beta-Leserin war noch nicht ganz soweit, und so habe ich das lange Kapitel in zwei kürzere aufgeteilt, und hoffe, dass der zweite Teil auch bald korrigiert ist.

#I.H.N: Danke für deine Rückmeldung. Ich weiss ja auch nie, was ichschreiben soll, wenn ich mich mal zu einem Reviewaufraffe, und daher freut es mich umso mehr, wenn ich dann selber mal wieder ein Review bekomme - ich weiss nur zu gut, wieviel Überwindung das manchmal braucht. Das hier wäre eigentlich das letzte Kapitel vor den Kargai gewesen, aber da ich es jetzt aufgeteilt habe, wird es noch ein weiteres geben, bevor Sijn wieder einmal zum Zug kommt. Dann wird er aber so einiges zu tun bekommen, und auch ein bisschen mehr über Mordur und die roten Sterne in Erfahrung bringen...

Auf Messers Schneide

Araym war ein Stück weit auf den Grat hinausgelaufen, den er 'Messers Schneide' genannt hatte. Gerade ausser Sichtweite der anderen sass er an der Felskante und liess seine Beine ins Leere baumeln. Anarya schwindelte von dem Anblick, aber sie riss sich zusammen und näherte sich ihm mir vorsichtigen Schritten. Der Sturm blies immer noch mit unverminderter Kraft und riss an ihren Kleidern. Messers Schneide schien noch schmaler zu sein als der letzte Grat, den sie überquert hatten, und Anarya hatte das ungute Gefühl, dass sie mit dem nächsten Schritt den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen würde. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich bemerkbar machen sollte, da sie nicht wollte, dass Araym erschrak. Dort wo er sass, konnte eine falsche Bewegung verhängnisvoll sein. Doch Araym schien ihr Näherkommen bemerkt zu haben, denn er wandte sich ihr mit fragendem Gesichtsausdruck zu. Anarya schluckte schwer, und trat so nahe zu ihm hin, dass sie sich nicht schreiend verständigen mussten.

„Was tut Ihr hier? Wir brauchen Euch, um zu besprechen, welchen Weg wir an der Feste vorbei wählen sollen."

Araym runzelte die Stirn.

„Ihr irrt Euch, Fürstentochter. Der Elb berichtet Eurem Bruder bestimmt gerade von all den Gräueltaten, die ich in meinem kurzen Leben schon begangen habe. Er wollte meine Gedanken lesen, und nun hat er endlich Gewissheit, dass es sich nicht lohnt, mir zu vertrauen."

Anarya hätte den verbitterten, jungen Mann am liebsten angeschrieen, er solle sich zusammenreissen anstatt im Selbstmitleid zu baden, aber seine Erinnerungen waren noch zu frisch in ihr, und sie konnte seinen Groll nachvollziehen. Es war ihr unangenehm, aber sie musste ihm wohl oder übel die Wahrheit sagen.

„Nein Araym. Zum einen war es nicht Tiruials Idee, Eure Gedanken zu lesen, sondern die meine. Zum anderen. . . "

„Wie bitte? Ihr habt ihn darauf gebracht, in meinem Geist herumzuwühlen? Wie kamt ihr dazu? Was gehen Euch meine Erinnerungen an?"

Anarya wartete geduldig ab, bis sich Araym ein wenig beruhigt hatte, und versuchte dann, es ihm zu erklären.

„Je mehr wir uns der Sandfeste genähert haben, desto misstrauischer sind die Männer Euch gegenüber geworden. Man hat jeden Eurer Vorschläge wieder und wieder besprochen bevor man ihn befolgt hat. Nun sind wir der Sandfeste so nahe, dass jedes Zögern verhängnisvoll sein kann. Ich sah, dass es so nicht weitergehen konnte. Tiruial hat mir einmal von seiner Gabe erzählt, in den Herzen der Menschen lesen zu können, und ich habe mich daran erinnert. Verräter oder nicht, wir wären über diesen Grat in den sicheren Tod geritten, weil wir Euch misstrauten und nicht mehr auf Euren Rat hören wollten."

Araym kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.

„Und nun, wo Ihr Bescheid wisst? Was werdet Ihr nun tun? Zurückreiten in die Wüste? Ich wünsche Euch in diesem Fall alles Gute – es wird nicht einfach werden, sich nach dem Sturm dort zurechtzufinden. Ach, wenn Ihr geht, dass sagt Euren Männern, dass ich hier warten werde. Es liegt an ihnen zu entscheiden, was sie mit mir tun wollen."

Jetzt konnte Anarya ihre Wut nicht mehr unterdrücken. Sie beugte sich nieder, packte den Gardisten an der Schulter und schlug ihm kräftig ins Gesicht. Araym wich erschrocken zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er klammerte sich haltsuchend an Anaryas Bein, worauf diese strauchelte und fiel. Für einen kurzen Augenblick hingen die beiden jungen Leute gefährlich über den Abgrund hinaus, aber dann hatte Araym sein Gleichgewicht wiedergefunden, und mit zitternden Händen umfasste er Anaryas Handgelenke und zerrte sie neben sich auf den schmalen Grat. Verblüfft stellte Anarya fest, dass sie sich nicht aus dem Griff seiner steifen Finger befreien konnte. Bisher hatte sie gedacht, dass er seine Hände überhaupt nicht gebrauchen könne. Wütend fauchte Araym sie an.

„Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Ihr hättet zu Tode stürzen können!"

„Ich wollte Euch vor Eurer eigenen Dummheit retten!" gab Anarya nicht minder aufgebracht zurück.

„Tiruial ist gerade dabei, den anderen zu erklären, dass Ihr unbedingt vertrauenswürdig seid. Er weiss, dass wir Euch glauben können – und ich weiss es auch."

Die letzten Worte waren nur noch leise und zögernd gekommen, aber Araym hatte sie trotzdem verstanden. Er hielt immer noch ihre Handgelenke fest, und Anarya fühlte das Zittern seiner Hände. Das raue Gefühl seiner vernarbten Handflächen auf ihrer Haut fühlte sich unangenehm an, und sie wünschte sich, dass er seinen Griff lockern würde. Da sie ihn nicht verletzen wollte, traute sie sich nicht, sich einfach loszureissen. Araym sah ihr tief in die Augen.

„Was habt Ihr gesehen? Sagt es mir!"

Anarya spürte die Wut und die Angst, die von dem Südwind ausgingen, aber sie fürchtete sich nicht vor ihm. Immer noch sah sie das Bild vor sich, das er vor ihnen hatte verbergen wollen. Nein, sie konnte ihm nicht sagen, dass sie es wusste. . .

„Ich habe viele schlimme Dinge gesehen, das ist wahr. Aber Tiruial und ich, wir haben auch Eure Loyalität gespürt, die Freundschaft, die Euch mit Marek verbindet, die Anerkennung, die Ihr Tiruial zollt und die Hoffnung auf einen Neubeginn im Westen. Wir haben gesehen, dass Euch nichts mehr bei den Südwinden hält, und dass Ihr nie mehr hierher zurückkehren wolltet."

Anarya verstummte. Ihr Herz klopfte wie rasend und sie spürte, dass sie errötete. Es war ihr peinlich, über diese Gedanken zu sprechen, die doch einzig und allein Araym gehörten. Doch Arayms Wut liess mit jedem ihrer Worte nach. Sein Griff lockerte sich und sein Blick wurde sanfter. Als sie verstummt war, zwang er ein Lächeln auf seine Lippen und stand auf, ohne sie dabei loszulassen. Vorsichtig zog er sie auf die Füsse und drehte sie dann um. Von hinten legte er die Hände auf ihre Schultern und schob sie auf diese Weise behutsam vor sich her; bereit sie sofort festzuhalten, wenn sie straucheln sollte. Als Anarya innehielt und ihn über die Schulter hinweg fragend anblickte, nickte er ihr zu.

„Lasst uns zurückgehen, die anderen machen sich bestimmt Sorgen um Euch. Ausserdem braucht ihr wohl einen Führer, wenn ihr immer noch an der Sandfeste vorbeigehen wollt."

Er zögerte einen Moment und Anarya bemerkte, dass er es nun war, der errötete.

„Ich habe wohl ein wenig überstürzt gehandelt. Es tut mir leid, dass ich einfach so weggegangen bin – ich hätte abwarten sollen, was ihr entscheidet."

Anarya schüttelte den Kopf.

„Nein, an Eurer Stelle wäre ich wohl auch nicht geblieben. Mir tut es leid, dass es soweit kommen musste. Wir hätten Euch nicht misstrauen dürfen."

Mit sanfter Gewalt schob Araym sie weiter.

„Lasst uns ein anderes Mal darüber sprechen. Jetzt müssen wir zurück, wenn ich nicht schon wieder Misstrauen erwecken will. Euer Bruder könnte sonst meinen, ich sei mit Euch durchgebrannt, und das möchte ich lieber nicht erleben."

Als Anarya und Araym zu den anderen zurückkamen, war es nicht Tárion sondern Tiruial, der ihnen wutschnaubend entgegen kam. In seinem Gesicht war keine Spur mehr von der elbischen Zurückhaltung zu entdecken. Er warf Anarya einen bitterbösen Blick zu, wandte sich dann aber erstaunlich ruhig an Araym.

„Ich danke Euch, dass Ihr Anarya vorhin festgehalten habt. Einen Moment lang sah es aus, als würdet Ihr beide in die Schlucht stürzen. Sagt bloss Tárion nichts von der Gefahr, in der sie eben geschwebt hat er würde sie sonst auf der Stelle zu ihrem Vater zurückschicken."

Dann wandte er sich an Anarya und seine heisere Stimme wurde zu einem bedrohlichen Fauchen.

„Was hast du dir dabei gedacht, Kind! Du wolltest unbedingt mitkommen, um im Westen meine Aufgabe zu erfüllen, wenn ich ihrer nicht mächtig sein sollte. Wie, bitte sehr, wolltest du das tun, wenn du dich hier zu Tode stürzt?"

Anarya zuckte zusammen, sah den Elben aber trotzig an.

„Araym solltest du tadeln, und nicht mich. Er war es, der dort am Abgrund sass. Ich wollte ihn nur von dort wegholen."

Tiruial schnaubte entrüstet. „Araym wusste im Gegensatz zu dir sehr wohl, was er tat. Dort wo er sass verläuft ein schmales Felsband unterhalb des Grates. Selbst wenn er abgerutscht wäre, hätte er dort Halt gefunden und hätte ohne Schwierigkeiten wieder nach oben gelangen können. Bei einem Sturz, wie du ihn fast verursacht hättest, wärt ihr allerdings wohl beide über das Felsband hinausgefallen. Du kannst froh sein, dass Araym so rasch und geschickt gehandelt hat!"

Ohne sich weiter um die junge Frau zu kümmern fasste der Elb Araym am Arm und führte ihn zu den anderen Männern hinüber, die ins Gespräch vertieft waren. Anarya blieb einen Augenblick einfach stehen, aber dann folgte sie den beiden wutentbrannt nach. Sie hatte Arayms Vertrauenswürdigkeit bewiesen, also hatte sie auch ein Recht darauf zu erfahren, wie man weiterreisen würde.

Man verhandelte lange, doch keine Lösung war zufrieden stellend. Folgte man Messers Schneide, so war die Gefahr entdeckt zu werden viel zu gross, sprang man dagegen auf die Plattform hinunter, so verlor man wohl die meisten Reittiere.

Tiruial bemerkte plötzlich, dass man sich nicht mehr so anschreien musste, um sich verständlich zu machen. Selbst ihm gelang es mittlerweile, den Wind zu übertönen. Araym schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn ihre Blicke begegneten sich, und Araym zuckte mit den Schultern. Bisher hatte er nur die Fragen beantwortet, die man ihm gestellt hatte, aber kein neuer Vorschlag war über seine Lippen gekommen. Doch nun ergriff er das Wort, und seine Stimme klang nicht so fest, wie er es wohl gewünscht hätte.

„Der Wind lässt nach. Ich hätte noch einen Vorschlag, aber wir müssten rasch handeln."

Tárion starrte ihn an, doch seine Miene verriet nichts über seine Gedanken.

„Was immer wir tun, Gardist, wir müssen in jedem Fall rasch handeln. Ohne den Schutz des Sturmes haben wir nicht die geringste Hoffnung, ungesehen weiterzukommen."

Araym leckte sich nervös über die Lippen.

„Ich hatte eine Idee, aber bisher habe ich nichts davon gesagt, weil es eine Schwierigkeit gibt."

Tárion war nun offensichtlich gereizt.

„Sprecht, Gardist. Ihr habt uns schon so viele Schwierigkeiten verschwiegen, dass es auf eine mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Wenn Euer Vorschlag eher durchführbar ist, als die anderen, nehme ich dafür jede Gefahr in Kauf."

„Auch die Gefahr, dass ich Euch verraten könnte? Mein Vorschlag würde Euer vollkommenes Vertrauen in mich bedingen, und ich weiss nicht, ob Ihr mir dieses entgegenzubringen vermögt."

Man konnte sehen, dass es Araym nicht wohl in seiner Haut war. Tárion kaute auf seiner Unterlippe herum und liess dabei seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Tiruial sah, dass Marek ihm kaum merklich zunickte. Auch Anarya machte eine zustimmende Kopfbewegung. Tiruial, sah dem Fürstensohn gerade in die Augen, als er seine unausgesprochene Frage beantwortete.

„Ich habe Euch gesagt, was Ihr wissen müsst, Tárion. Ich kann Euch die Entscheidung nicht abnehmen, aber ich habe kein Arg in den Gedanken Arayms gesehen."

Tárion nickte bedächtig und wandte sich dann an den ehemaligen Südwind.

„Was habt Ihr vor?"

Araym atmete einmal tief durch und sprach dann nicht zu Tárion sondern zu Tiruial.

„Ihr habt das Felsband gesehen, das unter dem Grat verläuft. Könnt Ihr von dieser Plattform aus das Ende des Bandes erkennen?"

Tiruial blickte in die Richtung von Messers Schneide und nickte dann.

„Ich erkenne eine Stelle, wo der Sims abbricht. Nach einer Lücke liegt ein zweiter, etwas tiefer gelegener Felsstreifen. Dessen Ende kann ich allerdings nicht erkennen."

Araym ging nicht näher auf die Antwort des Elben ein, sondern sprach ruhig aber sehr bestimmt weiter.

„Wenn ich auf der Höhe dieser Lücke bin, dann folgt mir langsam nach. Führt die Reittiere und seid vorsichtig, denn der Grat ist gefährlich. Wenn ihr das Ende von Messers Schneide erreicht habt, so wartet, bis ihr sicher sein könnt, dass die Südwinde abgelenkt sind. Wenn es soweit ist, dann haltet euch sofort scharf links und verbergt euch dort hinter den Felsen. Ihr könnt hinter der Deckung westwärts schleichen, bis ihr den Teich und die Schlucht erreicht habt. Wartet nicht auf mich – ich werde euch nicht folgen."

Ohne eine Antwort abzuwarten wandte Araym sich ab und ging mit zügigen Schritten auf den Grat hinaus. Tiruial zögerte nur für die Dauer eines Wimpernschlags.

„Anarya! Warte, bis du mich nicht mehr siehst. Zähle dann langsam auf zweihundert. Wenn es soweit ist, dann folgt mir nach. Tut alles, was Araym gesagt hat, aber wartet kurz hinter dem Eingang der Schlucht bis zum Morgengrauen oder bis ihr ein Zeichen von mir bekommt. Ich werde dieses überflüssige Opfer zu vermeiden suchen. Sollte mir etwas zustossen, so weiss Anarya, was zu tun ist."

Mit diesen Worten huschte der Elb so rasch davon, dass niemand auch nur den Hauch einer Möglichkeit hatte, ihm zu widersprechen. Für einen Moment sah man ihn noch auf dem Grat, aber dann verschwand er im nachlassenden Sturm.