Noch vier

Tiruial hatte Araym angesehen, dass dieser vorhatte, im Lager der Südwinde Verwirrung zu stiften. Was immer er tun wollte, er rechnete fest mit seiner Gefangennahme oder gar dem Tod. Der Elb sah den Gardisten weit vor sich über den Grat wanken. Der Wind blies immer noch stark, und Araym schien Mühe zu haben, das Gleichgewicht zu halten. Tiruial dagegen kam seine elbische Leichtfüssigkeit einmal mehr zugute. Vornübergebeugt, um dem Sturm weniger Angriffsfläche zu bieten, huschte er rasch voran, und hatte den Gardisten bald eingeholt. Sanft packte er ihn an der Schulter, und Araym fuhr erschrocken herum.

„Was macht Ihr hier?"

Er klang eher verängstigt als wütend, wie Tiruial feststellte. Behutsam liess er Araym los und lächelte ihn freundlich an.

„Ich werde Euch bei Eurem Ablenkungsmanöver unterstützen. Zu zweit können wir schneller für Aufregung sorgen als Ihr alleine. Ihr müsst mir nur sagen, was ich tun soll."

Araym schüttelte energisch den Kopf.

„Es ist viel zu gefährlich. Ihr seid der einzige, der den Westen kennt, Ihr werdet gebraucht!"

„Was habt Ihr vor?"

Tiruials Stimme klang gefährlich ruhig, und Araym schien einzusehen, dass er verloren hatte.

„Feuer. Es gibt im hinteren Teil des Lagers einen Schuppen, in dem wir Steinöl aufbewahren, mit dem wir Brandpfeile behandeln. Ein Feuer dort wäre verheerend und könnte die ganze Sandfeste in Brand stecken."

Tiruial schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

„Feuer! Dass mir das nicht eingefallen ist! In dieser trockenen Umgebung muss alles Holz brennen wie Zunder. Ein, zwei Brandpfeile, und die Südwinde werden alle mit Löschen beschäftigt sein."

„Brandpfeile? Das wird nicht möglich sein – der Schuppen ist zu weit entfernt. Ich muss in das Lager und den Schuppen direkt anzünden."

Tiruial lächelte.

„Ihr vergesst die Schiesskunst der Elben. Wenn Ihr mir sagt, wo der Schuppen liegt, werde ich ihn selbst mit geschlossenen Augen treffen können."

Nach schier endlosem Zögern nickte Araym langsam.

„Nun gut. Ich habe ehrlich gesagt nicht daran gedacht, einen Bogen zu verwenden, weil es mir nicht möglich ist, einen Pfeil abzuschiessen."

Der Elb senkte den Blick auf Arayms Hände.

„Das bringt mich auf den zweiten Grund, weshalb ich Euch gefolgt bin. Zeigt mir Eure Hände."

Araym zuckte zusammen.

„Wieso? Mit meinen Händen ist alles in Ordnung!"

„Ach ja?"

Mit einer raschen Bewegung hatte Tiruial die Handgelenke des Gardisten gepackt und drehte nun seine Handflächen nach oben. Was er sah, liess ihn scharf den Atem einziehen. Grosse, hellrote Risse liefen über die verkrümmten Hände, der rechte Zeigefinger stand in einem unmöglichen Winkel ab, und von der Linken hatten sich grosse Fetzen vernarbter Haut gelöst. Aus verschiedenen Wunden sickerte immer noch Blut, an anderen Stellen schien das rohe Fleisch blosszuliegen. Araym zuckte zurück, aber der Griff des Elben war eisern. Seine Stimme klang bedrohlich, als er sprach.

„Wann gedachtet Ihr, Euch behandeln zu lassen? Wolltet Ihr wieder ein Wundfieber bekommen, wie Ihr es nach Eurer Bestrafung hattet?"

„Woher..."

Araym verstummte mitten im Satz, als ihm einfiel, dass Tiruial seine Erinnerungen kannte. Zähneknirschend stiess er stattdessen eine Antwort hervor.

„Ich hätte sie sowieso nur noch gebraucht, um das Feuer zu legen."

Tiruial nahm die beiden Handgelenke des Gardisten in die Linke, während er mit der freigewordenen rechten Hand an seinem Gürtel herumtastete. Araym versuchte sich loszureissen, aber der Griff des Elben war nicht zu brechen.

„Lasst mich los! Ich werde Euch die Wunden behandeln lassen, aber erst wenn wir alle an der Feste vorbei sind!"

Tiruial schüttelte den Kopf und hatte schliesslich gefunden, was er suchte. Bevor Araym sich wehren konnte, hatte der Elb ihm ein paar Handschuhe über die Hände gestreift. Der Gardist schrie auf vor Schmerz, als er das Leder über seine Wunden streifen spürte, ganz zu schweigen von seinem gebrochenen Finger, der sich äusserst qualvoll bemerkbar machte.

„Seid Ihr verrückt? Nächstes Mal könntet Ihr mich wenigstens vorwarnen!"

Tiruial grinste den Südwind höchst unelbisch an.

„Hätte ich Euch gewarnt, so hättet Ihr Euch gewehrt. Eigentlich wollte ich Euch an Ort und Stelle rasch verbinden, aber so wie es aussieht, wird die Behandlung länger dauern als erwartet."

Arayms Gesicht war verzerrt.

„Ich hätte nicht gedacht, dass sie noch so schmerzen können!" stiess r zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ihr werdet Euch wohl alleine um das Feuer kümmern müssen. Ich glaube nicht dass ich jetzt noch etwas anfassen kann."

Tiruial legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Die Handschuhe werden Euch einen gewissen Schutz gewähren. Schont nun Eure Hände und lasst mich die Arbeit tun. Ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, unter dieser Narbenschicht noch gesundes Fleisch zu sehen."

Der Schmerz verebbte langsam und Araym blinzelte, um die Tränen loszuwerden, die ihm ob der groben Behandlung in die Augen gestiegen waren.

„Wieso wusstet Ihr, dass ich mich verletzt hatte?"

Tiruial lächelte sanft.

„Bis heute dachte ich, Ihr könntet Eure Hände überhaupt nicht mehr bewegen und hättet auch keinerlei Gefühl mehr in ihnen. Als ich dann sah, wie Ihr Anarya packtet, nahm ich mir vor, Euch nach Einzelheiten zu fragen. Wenn Ihr die Kraft hattet, die junge Frau festzuhalten, konnten Eure Hände nicht so nutzlos sein, wie ich geglaubt hatte. Als Ihr dann zurückkamt, habe ich deshalb eure Hände beachtet, und festgestellt, dass Ihr sie stets in den Ärmeln Eures Gewandes verbargt. Ausserdem schient Ihr Schmerzen zu haben."

Tiruial sah, dass Araym eine Träne über die Wange lief. Er war sich fast sicher, dass sie nicht von den Schmerzen herrührte. Als Araym schliesslich sprach, zitterte seine Stimme, obschon er es zu unterdrücken versuchte.

„Wisst Ihr, Tiruial, bis heute dachte ich selber, dass meine Hände unbrauchbar seien. Aber als Anarya zu fallen drohte, dachte ich nicht mehr darüber nach. Ich habe einfach zugepackt, und es ging. Als es mir die Haut von den Händen riss, dachte ich, ich könne sie nicht halten, aber ich konnte sie doch nicht loslassen."

Er atmete noch einmal tief durch und zwang dann ein Lächeln auf seine Lippen.

„Wir sollten gehen; sonst holen uns die anderen noch ein. Ich werde Euch zu der Stelle führen, von wo aus Ihr den Schuppen treffen könnt."

Tiruial nickte, und sie machten sich wieder langsam auf den Weg.

Bald einmal hatten alle ausser Anarya den Elben aus den Augen verloren. Als Tárion sie fragte, ob sie ihn noch sehen könne, kam sie selber in Zweifel. War es wirklich Tiruial, den sie dort noch auf Messers Schneide sah, oder war es nur ein Schemen, den ihr der Sturm vorgaukelte? Je länger Anarya auf den Grat hinausschaute, desto mehr konnte sie sehen. War es weil der Sturm nachliess, oder weil sich ihre Augen anpassten? Nun glaubte sie sogar das Felsband erkennen zu können, von dem Tiruial und Araym gesprochen hatten. Was musste der Elb nur für Augen haben, wenn er sie und Araym dort draussen gesehen hatte. Anarya blinzelte, und merkte, dass sie mit ihren Gedanken abgeschweift war. Und prompt hatte sie den Schatten aus den Augen verloren, den sie vorher noch gesehen hatte. Angestrengt suchte sie noch einmal den Grat ab und wandte sich dann an die Umstehenden.

„Ich beginne jetzt zu zählen."

Tárion nickte und lächelte ein wenig erstaunt.

„Ich bin schon längst bei zweihundert angelangt."

Plötzlich schlich sich ein Gedanke in Anaryas Kopf, der mehr und mehr Gestalt annahm. Weshalb hatte Tiruial sie ausgewählt, um ihn im Auge zu behalten? Warum hatte sie ihn tatsächlich am längsten gesehen? Ob dies etwas damit zu tun hatte, dass sie dieselben Augen hatte wie der Elb? Aber er konnte doch viel weiter sehen als sie, oder? Anarya beschloss, Tiruial darauf anzusprechen, wenn er wieder bei ihnen war. Wenn... Sie schluckte schwer und nickte dann Tárion zu.

„Zweihundert! Wir sollten gehen."

Tárion packte sein Kamel und deutete mit dem Kinn auf Salicha.

„Du folgst direkt hinter mir und führst dein Kamel. So wie ich die Pferde einschätze, brauchen sie keine leitende Hand."

Er zerrte sein Reittier zum Grat und tastete sich dann behutsam vorwärts, gefolgt von dem widerstrebenden Kamel. Anarya folgte ihm dichtauf. Der Grat war so schmal, dass sie nicht an Salicha vorbeisehen konnte, ob die anderen folgten, aber sie nahm es an.

Anarya verlor auf Messers Schneide jedes Zeitgefühl. Es schien ein endloses Fuss vor Fuss setzen zu sein, ein eintöniges sich Voranschleppen im Sturm, der es immer noch unmöglich machte, in der Umgebung etwas zu erkennen. Es schien nur noch den Grat vor ihr zu geben, den Wind um sie und das widerstrebende Kamel hinter ihr. Wenn sie den Blick hob, sah sie vor sich Tárions Reittier, ihn selber konnte sie nicht ausmachen.

Irgendwann hielt das Kamel vor ihr an und Anarya stoppte auch. Nun konnte sie Tárion erkennen, der ihr an dem Tier vorbei zuwinkte und nach vorne deutete. Anarya reckte und streckte sich, um etwas erkennen zu können. Tatsächlich sah sie vor sich einen rötlichen Schimmer, der sich deutlich von der hereinbrechenden Dämmerung und dem wenigen, noch immer herumwirbelnden Sand abhob. Sie gingen noch ein paar Schritte weiter, und dann bog Tárion urplötzlich nach links ab. Als sein Kamel nicht mehr ihr Sichtfeld verdeckte, bot sich Anarya ein überwältigender Anblick. Nur etwa hundert Schritte vor ihr war eine hohe Mauer zu erkennen, die direkt gegenüber von Messers Schneide von einem massiven Holztor unterbrochen wurde. Auf beiden Seiten des Tores standen Wachtürme wie jene, an denen sie vorbeigekommen waren. Die Umrisse der Türme rissen sich scharf vom hellroten Hintergrund ab. Hinter dieser Mauer tobte ein gewaltiges Feuer, und Anarya glaubte nun sogar panische Rufe wahrzunehmen. Hell loderten die Flammen gen Himmel, und ab und zu war ein lauter Knall zu hören, wenn irgendwo etwas unter der Macht des Feuers nachgab.

„Anarya!"

Tárions Stimme riss sie von dem schaurigen Anblick los. Anarya packte Salichas Zügel fester und zerrte das Kamel mit sich. Tatsächlich konnte sie schon nach wenigen Schritten hohe Felsen ausmachen, hinter denen man sich verbergen konnte. Eilig folgte sie ihrem Bruder nach, der sich vorsichtig aber stetig zwischen den übermannshohen Steinen hindurch bewegte.

Es war ein unwirkliches Bild, wie sie sich einen Weg an der Sandfeste vorbei suchten. Der Sturm trug hier kaum noch Sand mit sich, so dass die Sicht recht klar war. Wild loderte das Feuer hinter der hohen Mauer und umriss scharf die brennenden Türme. Selbst wenn noch jemand Wache gehalten hätte; mit dem Brand im Rücken hätte er sie unmöglich in der Dunkelheit ausmachen können.

Endlich kamen sie an den Teich, den Araym beschrieben hatte. Ohne zu zögern führte Tárion sein Kamel voran, und Anarya folgte ihm auf dem Fusse. Fast wäre sie zurückgezuckt, denn das Wasser, das ihre Füsse umspülte war warm, fast heiss zu nennen. Nach ein paar Schritten stand es ihr auf Hüfthöhe, aber dann wurde der Teich nicht mehr tiefer, sondern im Gegenteil sogar wieder seichter. Der Teich war nicht sehr breit, und Anarya konnte nun die Schlucht ausmachen, die in die Felswand schnitt, wie von der Axt eines Riesen geschlagen. Dicht hinter Tárion kam sie zwischen die hohen Felswände. Es war inzwischen schon recht dunkel, aber Anarya glaubte zu sehen, dass die Schlucht nicht aus dem roten Stein war wie die unzähligen Grate und Wände zuvor, sondern aus ausgesprochen dunklem Material. Die Schlucht war schmal, wirklich nur ein Einschnitt im Fels, aber nach einigen Schritten verbreiterte sie sich soweit, dass Anarya neben ihrem Kamel hergehen konnte und es nicht mehr hinter sich her ziehen musste. Der kleine Fluss, der den Teich spies, war zwar nur schmal, aber seine Strömung war ziemlich stark. Es war anstrengend, sich schluchtaufwärts zu bewegen, und Anarya war froh, dass ihr das Wasser nur bis in die Mitte der Waden reichte – höher, und sie hätte wohl nicht mehr die Kraft aufgebracht, dagegen anzukämpfen.

Plötzlich hielt Tárion inne, und Anarya sah eine Gestalt, die die Schlucht herab auf sie zuhuschte. Die leichtfüssigen Bewegungen verrieten ihr sogleich, dass es sich bei der Person um Tiruial handeln musste. Der Elb winkte Tárion zu, ihm zu folgen, und Tárion nahm seinen Weg wieder auf. Tiruial hatte es also geschafft. Anarya war erleichtert. Sie mochte den Elben und hasste es, wenn er sich in Gefahr begab. Ausserdem graute ihr vor dem Gedanken, die Verantwortung in den Gesprächen mit den Elben aus dem Westen übernehmen zu müssen, wenn Tiruial etwas zustossen würde. Dann lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Wo war Araym? Was war mit ihm geschehen? Hatte man ihn entdeckt, war er ein Gefangener der Südwinde? Oder war er gar tot? Den Flammen zum Opfer gefallen? Oder seinen ehemaligen Gefährten? Anarya stellte fast ein wenig erstaunt fest, dass sie der Verlust des Gardisten nicht weniger schmerzen würde, als wenn es Tiruial wäre.

Doch ihre Furcht war unbegründet. Nach einer Weile öffnete sich die Schlucht zu einem schmalen, langgezogenen Kessel. Hier sass Araym auf einem Felsen, der sich über den Fluss erhob. Im schwachen Widerschein des Feuers schien es Anarya, als wäre sein Gesichtsausdruck angestrengt, so wie wenn er Schmerzen hätte, aber es war zu dunkel, als dass sie sich hätte sicher sein können.

Als alle den Kessel erreicht hatten, stellte sich Araym auf den Felsen und sprach laut genug, um das Tosen des Wassers und das andauernde Heulen des Windes zu übertönen.

„Hier werden wir die Nacht verbringen. Der weitere Weg ist zu gefährlich, um ihn im Dunkeln zu gehen, und die Südwinde werden heute Nacht nicht dazu kommen, uns zu suchen, wenn sie ihre Sandfeste retten wollen."

Es wurde eine unbequeme Nacht, denn es gab nur wenige Felsbrocken, die aus dem Wasser des Flusses ragten, und sie waren glitschig und feucht. Kaum jemand fand Schlaf in dieser Nacht, und Anarya sah, dass Tiruial und Araym fast bis zum Morgengrauen beieinander sassen. Der Elb beugte sich über die Hände des Gardisten, und Anarya, die in der Nähe sass, hörte hin und wieder einen unterdrückten Schmerzenslaut. Auf welche Weise auch die beiden Männer das Feuer gelegt haben mochten, Araym hatte sich dabei offenbar verletzt.

Irgendwann fiel Anarya dann doch in einen leichten Dämmerschlaf, verfolgt von wirren Träumen, in die sich immer wieder Gedankenfetzen aus Arayms Erinnerungen einschlichen.

Das Morgengrauen war nicht nur für sie eine Erlösung. Mit erleichterten Gesichtern stand man aus den unbequemen Haltungen auf und reckte die steifen Glieder. Alles war feucht und klamm, selbst das Brot, das sie vor der Weiterreise hinunterwürgten. Araym übernahm die Führung, und zog weiter flussaufwärts. Bald würde man das Ende des Kessels erreichen, und wie er erklärt hatte, konnte man von dort aus die Hochebene erreichen.

„An einem der fünf Heere sind wir vorbei", dachte Anarya. „Bleiben noch vier..."