A/N: Ich habe noch ziemlich viel zu tun, bevor ich meine lang ersehnten Herbstferien antreten kann, werde mich aber bemühen, noch ein kurzes Kapitel zu posten, bevor ich dann für eine Woche in den warmen Süden verschwinde. Reviews würden mich freuen und würden bestimmt dabei helfen, dass ich mit demÜberarbeiten des nächsten Kapitels noch vor den Ferien fertig werde...
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Am Feuerberg
Zwei Tage später hatten sie den Fuss des Feuerberges erreicht, und Sijn nahm Rasarins Kopf zwischen seine Hände und blickte tief in die Augen des Tieres. Er traute sich nicht, mit Rasarins Gedanken zu verschmelzen, aber er pflanzte dem Karduk den Befehl ein, sich nicht zu weit von diesem Ort wegzubewegen. Dann tat er dasselbe mit Durva, die leise winselnd gehorchte und sich niederlegte. Sijn seufzte. Er liess die Tiere nicht gerne zurück, aber er konnte sich mit ihnen auch nicht im Dorf blicken lassen.
Sijn ging langsam auf den Platz zu, wo die Sonnwendfeste gefeiert wurden. Doch bevor er die Wohnstätte der Ausgestossenen erreichte, hielt er noch einmal an und blickte an sich herab. Er war in Felle gehüllt, die nicht im Geringsten verarbeitet waren, erbärmlich stanken und vor Schmutz starrten. Seine Fingernägel waren lang wie Krallen und sein Haar war eine filzige Matte, die ihm beinahe bis zur Hüfte reichte. Nein, so konnte er sich nicht unter Menschen wagen – sie würden ihn für einen Ork halten und sofort töten.
Sijn wusste von den warmen Tümpeln, die man am Fuss des Feuerberges finden konnte. Das Wasser dort roch stark nach Schwefel, aber es war warm, und es würde ihm ermöglichen, sich ein wenig herzurichten. Bald hatte Sijn einen der kleinen Teiche gefunden, und rasch streifte er die Felle ab und stieg ins Wasser. Mit porösem Vulkangestein rieb er die Schmutzkruste von seiner Haut, bis sie von der Hitze und dem Reiben rot war und brannte. Dann widmete er sich seinen Haaren. Erst versuchte er mit dem Kamm zu retten, was zu retten war, aber schliesslich musste er das Messer zu Hilfe nehmen.
Es dauerte ewig, bis Sijn fertig war, aber das Gefühl danach war unbeschreiblich. Er hatte schon gar nicht mehr gewusst, wie angenehm so ein Bad sein konnte. Was die Felle betraf, so wusste er nicht, was er tun sollte. Er konnte sie nicht waschen, da sie sonst sofort gefrieren würden. Ausserdem waren die Felle nie richtig verarbeitet worden und würden selbst nach dem Waschen noch einen bestialischen Geruch verströmen. Sijn seufzte und wickelte sich dann angewidert in die schmutzstarrenden Felle ein. Er würde noch einmal baden müssen, wenn er wieder anständige Kleidung hatte.
Der Weg zum Festplatz war nun nicht mehr weit, und Sijn horchte, ob er nicht schon Stimmen vernähme. Aber es war nichts zu hören, und so ging er immer weiter, bis er mitten auf dem Platz stand, wo die Ausgestossenen hausten, wenn nicht gerade ein Fest stattfand.
Das Dorf war zerstört. Tränen stiegen in seine Augen, als er das Ausmass der Zerstörung erkannte. Alle Hütten waren niedergebrannt. Aus einigen davon stiegen noch schmale Rauchsäulen auf. Der Überfall auf das Dorf konnte also nicht allzu lange her sein. Was nicht verbrannt war, hatten die Angreifer kurz und klein geschlagen – es gab keinen einzigen Gegenstand mehr, der intakt geblieben war, nichts was man noch hätte verwenden können. Sijn rannte von einem Trümmerhaufen zum anderen, doch es war nichts mehr zu retten.
An dem Platz, wo an den Sonnwendfesten die grossen Feuer entzündet wurden, fand Sijn dann auch die Dorfbewohner. Keiner hatte den Angriff überlebt. Die Leichen lagen auf einem Haufen, und Sijn musste den Blick abwenden, ob der grausamen Verstümmelungen, derer er gewahr wurde.
Lange stand er reglos da, aber schliesslich riss er sich zusammen und machte sich daran, die Toten zu untersuchen. Es war offensichtlich, dass niemand mehr am Leben sein konnte, aber Sijn hoffte, dass er wenigstens einen Hinweis auf die Täter finden würde. Für ihn war es eindeutig, dass es sich dabei um dieselben handeln musste, die schon das Wolfsrudel hingemetzelt hatten, denn er sah die gleiche unmenschliche Grausamkeit, dasselbe sinnlose Blutvergiessen.
Schliesslich fand Sijn die Leichen dreier Krieger, die zu den Angreifern gehört haben mussten. Einer von ihnen war ein Ork, der nicht anders aussah, als jene aus Angmar. Einzig der schwarze Brustpanzer aus Leder unterschied ihn von den wilden Horden des Hexenkönigs. Sijn war verblüfft über die Güte der Rüstung – das Leder war aussergewöhnlich geschickt verarbeitet und der Panzer war perfekt auf den Ork angepasst. Als Sijn mit der Hand über die glatte Oberfläche des Leders strich, um die feine Verarbeitung der Nähte zu betasten, machte er eine Entdeckung, die ihm den Atem raubte. Unter einer dicken Schicht von Blut und Schmutz erschien ein Symbol: Ein schwarzer Stern, der von roten Flammen umgeben war.
Der flammendrote Stern! Sijn war sich sicher, dass ihn sein Schicksal eingeholt hatte. Dies musste der Stern sein, den seine Mutter in ihrem Traum gesehen hatte. Doch was hatte dieser Traum zu sagen? Neugierig geworden untersuchte Sijn nun auch die zwei anderen Soldaten näher. Sie trugen beide einfache Lederrüstungen und Kettenhemden. Sowohl das Metall wie auch das Leder waren schwarz gefärbt. Auch die Helme waren schwarz. und Sijn fiel auf, wie sorgfältig sie geschmiedet worden waren. Beide Helme, sowie die Brustplatten der Toten trugen das Zeichen des flammenumrahmten Sterns. Ausserdem hatte einer der Soldaten einen zerschlissenen Umhang, auf dem das selbe Symbol zu sehen war. Nach kurzem Überlegen nahm Sijn den Dolch des Toten, schnitt damit das Stück mit dem Stern aus dem Umhang und steckte es ein. Auch den Dolch nahm er mit. Die Waffe war knapp unterarmlang, recht leicht und trotzdem gut ausbalanciert. Die Klinge bestand aus einem hellen Metall, das keinerlei Scharten und Kratzer aufwies. Seltsame Zeichen waren darin eingraviert. Auch der hölzerne Griff war auf kunstvolle Weise verziert, und er lag gut in der Hand.
Sijn betrachtete die Gesichter der beiden toten Soldaten. Einer war ein Mensch mit groben Zügen, aus denen der Krieger sprach. Derjenige mit dem Umhang und dem Messer dagegen hatte ein schmales, ebenmässiges Gesicht. Wäre es nur ein bisschen kantiger und härter gewesen, der Tote hätte ein Kargai sein können. Selbst das schwarze Haar, das auf kunstvolle Weise geflochten war, ähnelte Sijns auf eine fast unheimliche Art und Weise. Es war feiner als das eines normalen Menschen, und wo es nicht schmutzig und blutverklebt war, lag ein schimmernder Glanz darauf. Die Augen des Soldaten dagegen, die blicklos in den Himmel starrten, waren im Gegensatz zu den hellen eines Kargai dunkelgrau, fast schwarz.
Lange Zeit blieb Sijn vor den Leichen stehen und versuchte Ordnung in seine wild herumwirbelnden Gedanken zu bringen. Schliesslich wandte er sich ab und ging langsam auf den Pfad zu, der zum Krater des Feuerbergs führte. Er hätte die Toten gerne bestattet, aber es gab hier weder genügend Brennmaterial um sie dem Feuer zu überantworten, noch sah er eine Möglichkeit, einen Felssturz auszulösen.
Seufzend stieg Sijn bergan. Er hatte nicht viel Hoffnung, aber vielleicht hatten die Angreifer ja doch etwas Wichtiges übersehen. Es hatte viele Tote gegeben, aber trotzdem hatte Sijn das Gefühl, dass es nicht alle Dorfbewohner sein konnten. Es waren trotz allem zu wenige, und Sijn hoffte, dass die anderen in den Höhlen im oberen Drittel des Berges Zuflucht gesucht hatten.
Der Anstieg war lang, und Sijn war erschöpft. Es war nicht nur die körperliche Anstrengung des Kletterns, sondern auch die Flut an neuen Erfahrungen und Informationen, die er kaum verarbeiten konnte - war doch sein Geist bis vor kurzem nur mit Gedanken ans Essen und Schlafen beschäftigt gewesen. Die ungewohnt verworrenen Überlegungen, die ihm nun durch den Kopf schwirrten, machten Sijn Kopfschmerzen. Schliesslich setzte er sich seufzend auf einen Felsbrocken, um wieder zu Atem zu kommen. Kaum hatte sich sein hastiger Herzschlag ein wenig beruhigt, hörte er eine leise Stimme hinter sich.
„Du bist der schwarze Kargai, nicht wahr?"
Ruckartig und mit einem Knurren drehte Sijn sich um, um eine junge Frau zu erblicken, die ihn ängstlich anstarrte. Er atmete einmal tief durch, bevor er antwortete, wobei er sich bemühte, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben.
„Ich bin Sijn und man nannte mich einst den schwarzen Kargai, ja. Was ist hier geschehen?"
Sie schluckte krampfhaft, und Sijn sah, dass sie zitterte. Irgendwie erinnerte ihn das schmale, blasse Gesicht mit den zarten Gesichtszügen an eine Lumiane, aber ihre Augen waren so blau wie der Himmel an einem klaren Wintertag. Sie trug Kleidung aus hellbraunem Wildleder und einen Umhang, dessen Kapuze sie weit ins Gesicht gezogen hatte.
„Ich bin Rhawen. Harija wünscht, dich zu sprechen."
Sijn starrte sie an.
„Harija?"
„Ja, sie lebt ein bisschen weiter oben am Berg in einer Höhle."
Harija... Sijn konnte sich gut an die Lumiane des Frostes aus Gletschern erinnern. Sie hatte damals das Dorf verlassen, um zum Feuerberg zu gehen, als alle Jung-Kargai auf einmal nach Hornthal gerufen wurden. Dass Harija lebte, war aussergewöhnlich. Lumianen und Kargai durften nicht bei den Ausgestossenen am Fuss des Feuerberges leben. Es war Brauch, dass sie bis zum Krater aufstiegen und sich dort in die Glut des Berges stürzten, um Platz für ihre Nachfolger zu schaffen.
Sijn hatte um Harija getrauert, als er von ihrer Entscheidung erfahren hatte, Gletschern zu verlassen. Er hätte niemals erwartet, dass er ihr noch einmal begegnen würde.
Die junge Frau hatte sich ein wenig gefasst und trat nun mutig einen Schritt auf Sijn zu.
„Wir sollten gehen. Harija wartet."
Sijn nickte langsam.
„Zeig mir den Weg. Ich werde dir folgen."
Sie kletterten eine Weile bergauf und kamen schliesslich zu einer steilen Felswand. Die junge Frau deutete auf einen senkrechten Riss, der fast bis zur Oberkante der Wand führte.
„In den Riss sind Tritte geschlagen. Wenn man sich mit einer Hand an der Kante festhält und mit den Füssen in die Spalte steht, kann man sich einfach hochziehen."
Sie zeigte es ihm auch gleich, und kletterte mit geschmeidigen Bewegungen nach oben. Sijn tastete zögernd in dem Riss herum, bis er einen der Tritte spürte. Dann nahm er seinen Mut zusammen und wagte sich auch in die Wand.
Es war einfacher, als es ausgesehen hatte, und ehe er es sich versah, stand Sijn auf einer kleinen Plattform vor einer Höhle. Er blickte in die Tiefe und sah weit unter sich den Festplatz mit den verbrannten Hütten. Als er mit den Augen dem Pfad zum Festplatz folgte, konnte er sogar Rasarin und Durva entdecken, die immer noch dort lagerten, wo er sie zurückgelassen hatte.
„Willkommen, Sijn."
Er hätte Harijas Stimme überall wieder erkannt. Sijn drehte sich langsam um und betrachtete die ehemalige Lumiane des Frostes. Harija war abgemagert, aber ihre Augen funkelten wach und sie bewegte sich mit jugendlicher Anmut auf ihn zu. dabei breitete sie die Arme aus, und ehe Sijn es sich versah, fand er sich in einer herzlichen Umarmung wieder.
„Ich bin froh, dass du zu dir zurückgefunden hast, Sijn; auch wenn ich mir für dich gewünscht hätte, dass dein Erwachen unter anderen Umständen geschehen wäre."
Sijn antwortete nicht. Für einen Moment war er überwältigt von all dem Neuen, das ihm in den letzten Stunden zugestossen war. Es war so lange her, dass er mit Menschen gesprochen hatte, und nun hielt ihn Harija in den Armen – Harija, die er für tot gehalten hatte. Erst nach und nach drangen Harijas Worte in sein Gedächtnis, und er löste sich aus ihrer Umarmung, um ihr ins Gesicht blicken zu können.
„Mein Erwachen? Du weisst davon? Du weisst, was geschehen ist?"
Harija lächelte weise.
„Ich weiss viele Dinge, Sijn. Damals, als ihr nach Hornthal gerufen wurdet, verliess auch ich das Dorf, um zum Feuerberg zu gehen. Ich hatte jedoch ein schlechtes Gewissen, weil wir die Entscheidung über das Schicksal von dir und deinem Bruder einfach an die Lumianen aus Hornthal abgeschoben hatten. So bin ich euch gefolgt und habe mich am Ausgang der Schlucht versteckt gehalten. Eigentlich wollte ich nur wissen, was die Lumianen aus Hornthal entscheiden würden, und mich dann auf den Weg zum Feuerberg machen. Ich habe zugesehen, wie ihr zur Winterspitze aufgestiegen seid, und ich habe erraten, was die Lumianen entschieden hatten. Und so habe ich euch weiter beobachtet. Ich wollte wissen, wer von euch den Zweikampf gewinnen würde."
Sijn schluckte.
„Du warst dort?"
„Ja, ich sah, wie Lycar die Lawine auslöste und dich verschüttete. Es brach mir das Herz, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hielt dich für tot, und ich wusste, dass ich Lycar nicht verraten durfte. Hornthal brauchte diesen Kargai, und Gletschern konnte für lange Zeit keinen anderen schicken. Und selbst wenn ich Lycar verraten hätte – wem hätten die Lumianen wohl Glauben geschenkt? Schliesslich galt ich bei ihnen als tot, und ich hatte kein Recht, nach Hornthal zu gehen."
Harija hielt inne und lächelte wieder.
„Ich weiss nicht, weshalb ich nicht zum Feuerberg ging, aber ich wollte einfach noch eine Weile abwarten; sehen, ob Lycar sich bewährt, ich weiss auch nicht. Auf jeden Fall wurde ich Zeuge deiner Rückkehr, und ich war überglücklich, dass du es geschafft hattest. Dann sah ich zu, wie man dich verbannte, und machte mich sogleich auf den Weg, mich zu dir zu gesellen. Ich wollte dir vorschlagen, mit mir zusammen die Berge zu verlassen und im Tal ein neues Leben anzufangen. Aber du gingst zu den Wölfen, und ich stellte verwundert fest, dass sie dich in ihr Rudel aufnahmen."
Sijn rieb sich die Schläfen.
„Du hast all das gesehen?"
„Ja. Ich habe gesehen, wie du den Wölfen immer ähnlicher wurdest, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte mit dir sprechen, aber zum einen hätte ich mich den Wölfen niemals nähern können, und zum anderen wirktest du in dem Rudel nicht unglücklich. Und so ging ich schliesslich zum Feuerberg. Die Geschichte mit dir und Lycar hatte mich aufgewühlt, und ich wusste, dass ich die einzige Person ausser dir und deinem Bruder war, die die Wahrheit kannte. Mit diesem Wissen wollte ich nicht sterben, und so suchte ich nach einem Versteck, wo ich in Ruhe darauf warten konnte, bis sich im Zusammenhang mit dir eine Änderung ergeben würde. Ich fand diese Höhle und richtete mich hier ein. In all den Jahren habe ich dich immer im Auge behalten, und ich habe immer gehofft, dass du dich eines Tages erinnern würdest, dass du kein Wolf bist. Ich wünschte nur, es wäre nicht auf so unbarmherzige Weise geschehen."
Der Kargai zwang ein Lächeln auf seine Lippen, doch für Harjia sah es eher aus, wie das Zähnefletschen eines knurrenden Wolfes.
„Es war wohl die einzige Lösung. Ich war so sehr Wolf, dass ich nur aufwachen konnte, nachdem mein ganzes Rudel tot war."
„Nicht dein ganzes Rudel, Sijn. Dort unten warten immer noch dein Karduk und eine Wölfin darauf, dass du zurückkommst. Du bist immer noch ihr Leitwolf, und du darfst sie jetzt nicht im Stich lassen. Doch jetzt komm erst einmal mit mir in die Höhle. Du brauchst etwas Warmes in den Magen und ein bisschen Schlaf. Morgen werden wir dann darüber reden, was mit dem Dorf am Fuss des Berges geschehen ist, und was nun weiter mit dir geschehen soll."
Harija musterte ihn von Kopf bis Fuss und verzog dann das Gesicht.
„Etwas zum Anziehen kann auch nicht schaden. Ich denke, ich habe da etwas, was dir gefallen könnte. Und vorher brauchst du ein Bad."
Sijn war überwältigt von der Freundlichkeit und Wärme, die ihm entgegengebracht wurde. Widerspruchslos liess er sich ins Innere der Höhle befördern, wo Rhawen bereits mit einem warmen Eintopfgericht wartete. Sie hatte den Mantel abgelegt, und fasziniert stellte Sijn fest, dass ihr Haar einen goldenen Farbton hatte. Auch manche der Dorfbewohner hatten helle Haare, aber noch nie hatte er solch einen schimmernden Glanz gesehen. Woher die junge Frau wohl stammen mochte?
Nachdem Sijn gegessen hatte, führte ihn Harija in einen abgegrenzten Teil der grossen Höhle. Dort war ein Bad für ihn gerichtet, und Sijn senkte verlegen den Kopf.
„Ich habe heute schon gebadet, aber ich habe nichts Sauberes anzuziehen."
Harija legte ihm in einer mütterlichen Geste die Hand auf die Schulter.
„Ich sagte doch, ich hätte etwas, was die gefallen wird. Die Kleider liegen dort auf dem Schemel. Lass dir Zeit, mein Junge; Rhawen kümmert sich um deine Tiere und ich werde etwas vorbereiten, was ich dir zeigen will. Wenn du fertig bis, dann komm nach draussen auf die Plattform."
Sijn nickte gehorsam und wartete bis Harija sich entfernt hatte. Dann streifte er die schmutzigen Felle herunter und liess sich mit einem wohligen Seufzer ins warme Wasser gleiten. Das Bad am Morgen hatte den schlimmsten Schmutz entfernt, nun konnte er sich den Feinheiten widmen. Mit dem bereitliegenden Kamm machte sich Sijn noch einmal über seine Haare her. Dann kürzte er seine Finger- und Zehennägel und widmete sich ausgiebig seinen Zähnen. Als er fertig war, war das Wasser im Bad nur noch lauwarm, und so stieg er aus der Wanne und griff nach der Kleidung, die für ihn bereit lag. Es waren einfache Kleider, wie sie die Dorfbewohner trugen, und sie waren auch schon getragen worden. Doch von der Grösse her passten sie gut, ebenso wie die Lederstiefel, die Harija ihm bereitgestellt hatte. Nach einem letzten Blick auf die schmutzigen Felle nahm Sijn nur noch den Lederbeutel mit seinen wenigen Besitztümern und den Umhangfetzen mit dem roten Stern an sich und stopfte beides unter seinen Gürtel.
Nachdem Sijn sich nach Art der Kargai die Haare eingeflochten hatte, blickte er in den Spiegel, der auf einem kleinen Beistelltischchen lag. Aus einem schmalen, ausgemergelten Gesicht blickten ihm die bernsteinfarbenen Augen eines Kargai entgegen, und Sijn lächelte. Sein Haar hing ihm nur noch knapp bis auf die Schultern und er war zu mager, aber sonst sah er wirklich fast wieder aus wie ein Kargai. Er betastete die dünne Narbe, die er auf seiner Wange entdeckte, und erinnerte sich, an den Tag, an dem ihn die Schwinge eines Sturmdämonen gestreift hatte. Es war einige Jahre her, und Sijn erinnerte sich noch vage daran, dass er wochenlang unter heftigem Fieber gelitten hatte. Damals hatten ihn die Wölfe am Leben erhalten, und Sijn dachte mit Trauer an das Rudel, das nun tot in seiner Höhle begraben lag.
„Dein Wahnsinn hat dir damals das Leben gerettet."
Sijn fuhr herum und sah Harija hinter sich stehen.
„Wie... Was meinst du?"
„Verzeih, dass ich hier einfach hereingekommen bin, aber es hat so lange gedauert, und ich nahm an, du seist inzwischen fertig. Ich habe gesehen, wie du deine Narbe betrachtet hast. Es war ein Sturmdämon, nicht wahr?"
Sijn nickte.
„Wir sagen es euch Kargai bei der Ausbildung nicht, um euch nicht zu verängstigen, aber Verletzungen durch Sturmdämonen sind das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Weisst du noch, was wir euch beigebracht haben?"
„Ihr habt uns gesagt, das Gift eines Sturmdämonen sei tödlich, und man solle den Verletzten von seinen Qualen erlösen, da man nichts mehr für ihn tun könne, selbst wenn die Wunde an sich völlig harmlos ist."
Harija nickte.
„Dies war nicht die ganze Wahrheit. Die Verletzung durch einen Sturmdämonen tötet nicht den Körper, sondern den Geist. Die Macht des Sturmdämonen ergreift von dem Verletzten Besitz, und er vergisst, wer er einst war und wird zu einer Puppe ohne eigenen Willen – einer Puppe, die von dem Sturmdämonen, der die Verletzung verursacht hat, kontrolliert werden kann."
„Und wieso ist mir das nicht geschehen? Wir haben den Sturmdämonen damals getötet – ist das der Grund dafür, dass ich gerettet wurde?"
Sijn fuhr ein weiteres Mal mit dem Zeigefinger der Narbe entlang, und sein Gesicht zeigte Verwirrung. Harija zuckte mit den Schultern.
„Ich nehme an, dass du zu wölfisch warst. Die Macht der Sturmdämonen wirkt nicht auf Tiere, und du warst zum Zeitpunkt deiner Verwundung mehr Tier als Mensch. Der Tod des Sturmdämonen hatte nichts mit deiner Rettung zu tun. Der Herrscher der Dämonen besitzt eine Feder von jedem einzelnen seiner Untergebenen. Damit kann er alle Opfer seiner Schergen kontrollieren, selbst über deren Tod hinaus."
Sijn starrte die Lumiane an.
„Ich war damals lange krank, und ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich hohes Fieber und starke Kopfschmerzen hatte. Es war ein Gefühl, als ob jemand in meinen Schädel eindringen wollte."
„Der letzte Rest klaren Verstandes, der dir noch innewohnte, kämpfte damals gegen die Übernahme durch die fremde Macht. Ich erinnere mich noch gut: Die Wölfe jagten wochenlang ohne dich, und ich machte mir schon Sorgen, dass du tot seist. Als du dann wieder aufgetaucht bist, sahst du furchtbar aus, und mir schien es, als hätte dich der allerletzte Rest von Menschlichkeit verlassen. Zu diesem Zeitpunkt fürchtete ich, es gäbe keine Rettung mehr für dich."
Harija zog den Kargai mit sich nach draussen, vor die Höhle.
„Komm jetzt mit mir. Ich möchte dir noch etwas geben."
Sijn folgte ihr gespannt. Was mochte die Lumiane für ihn haben, das sie so selbstzufrieden lächeln liess?
