Was nun?

Mit geschickten Bewegungen erklomm Harija den Fels neben dem Höhleneingang und zog sich dann zu einer weiteren Plattform hoch. Sijn folgte vorsichtig nach, als sie ihn dazu aufforderte. Auch hier gab es eine Höhle, wenn es auch eher eine Felsspalte war, die sich nach ein paar Schritten so weit verbreiterte, dass Sijn und Harija leicht gebückt nebeneinander stehen konnten. Die Lumiane schob den Kargai zu einer Truhe, die vor ihnen am Boden stand.

„Mach sie auf! Ich habe sie hierhergeschafft, als das Dorf überfallen wurde. Ich wusste nicht, ob sie bis zu unserer Höhle kommen würden und wollte nicht, dass ihnen der Inhalt in die Hände fällt."

Sijn legte langsam eine Hand auf den Deckel und klappte die Truhe auf. Zuoberst lag etwas aus schwarzem Stoff, das den Rest des Truheninhaltes verdeckte. Zögernd streckte Sijn die Hand nach dem Tuch aus und hörte hinter sich Harijas Stimme.

„Nimm ihn ruhig heraus, er ist für dich. Der Alte war nicht mehr zu gebrauchen, und ich fand schwarz passe besser zum Rest als weiss."

Sijn hatte keine Ahnung, wovon die Lumiane sprach, aber gehorsam hob er den schwarzen Stoff aus der Truhe und entfaltete ihn. Es war ein Umhang aus schwerem, warmem Wollstoff, wie er nur von den Lumianen gewoben wurde. Ein dunkelgraues Wolfsfell zierte die Schulterpartie, und Sijn erkannte darin das Fell der alten Leitwölfin, das er einst an seinem ersten Umhang getragen hatte.

„Das Fell ist nicht mehr im besten Zustand, aber ich habe getan was ich konnte, um es zu erhalten. Der Stoff dagegen war nicht mehr zu retten – als ich den Umhang in die Finger bekam, hattest du schon unzählige Streifen davon abgeschnitten, um Wunden zu verbinden, Pfoten zu umwickeln und was weiss ich noch alles."

Sijn fuhr lächelnd mit der Hand über das Fell und strich dann weiter über den schweren Wollstoff.

„Ich weiss nicht, was ich sagen soll..."

Harija lachte leise.

„Sieh dir erst den Rest an. Ich habe mich bemüht, alles instand zu halten, aber sieh selbst."

Sijn ahnte schon, was sich noch in der Truhe befand. Behutsam griff er hinein und hob den schwarzen Helm heraus, der wie ein Wolfskopf geformt war. Darunter befand sich der Harnisch mit den Bärenklauen und den Federn des Sturmdämonen. Sijn konnte sich noch immer so gut an den Kampf erinnern, als wäre er erst ein paar Tage und nicht zehn Jahre her. Andächtig strichen seine Finger über die Verzierungen, doch schliesslich blickte er auf und wandte sich um, bis sein Blick Harijas traf.

„Wie kommst du zu meiner Rüstung?"

„In den ersten Jahren bei den Wölfen hast du immer die schwarze Rüstung getragen. Mehrmals hast du die Kargai aus Hornthal angegriffen und ihnen ihre Jagdbeute abgenommen – esonders dann, wenn dein Bruder dabei war. Du hast auch andere Dörfer überfallen, um Lebensmittel und Heilkräuter zu stehlen. Auch wenn du nie willentlich jemanden verletzt hast, hast du dir doch einen Namen gemacht. Wusstest du, dass sie in manchen Dörfern den kleinen Kindern mit dem schwarzen Kargai drohen, der sie holen kommt, wenn sie unfolgsam sind?"

Sijn verzog das Gesicht.

„Ich wollte mich nie an den Dorfbewohnern rächen, aber es gab einige Dinge, die ich nicht selber herstellen konnte. Manchmal musste ich stehlen, wenn ich überleben wollte. Ich habe versucht, nie den Dorfbewohnern zu schaden, aber das war manchmal nicht einfach. All das erklärt aber nicht, wie meine Rüstung hierher kommt."

Die Lumiane runzelte die Stirn.

„Du bist immer noch so ungeduldig wie als Kind. Du solltest wissen, dass wir Lumianen gerne etwas weiter ausholen, wenn wir etwas erzählen. Es bleibt einem besser in Erinnerung, wenn man die ganze Geschichte kennt, und nicht nur den wichtigsten Teil."

„Ja, ja, ich weiss. Aber ich wäre trotzdem dankbar, wenn du jetzt auf den Punkt kommen würdest. Rasarin und Durva warten auf mich, und ich will sie nicht ewig dort stehen lassen."

Harija nickte.

„Geduld, mein Junge. Ich habe dir schon gesagt, dass Rhawen sich um deine Tiere kümmert. Sie wird ohne Mühe mit ihnen zurechtkommen, du musst dir also keine Sorgen machen. Du kannst mich bald verlassen, aber erst wirst du dich gründlich ausschlafen, und dann werden wir dein weiteres Vorgehen besprechen."

„Meine Rüstung – wie kommt sie hierher?"

Ein tiefer Seufzer war von der Lumiane zu vernehmen, aber Sijn sah das amüsierte Funkeln in ihren Augen.

„Ich weiss nicht ob du dich erinnerst, dass die Kargai eine Treibjagd auf das Wolfsrudel machten. In all den Jahren hattest du es erfolgreich geschafft, die Wölfe von den zahmen Karduks fernzuhalten, und hast deine Überfälle immer alleine durchgeführt. Niemand in Hornthal bemerkte jemals, dass der schwarze Kargai mit den Wölfen lebte. Trotzdem gab es eine Jagd auf die Wölfe."

Sijn nickte langsam.

„Ich erinnere mich. Es bahnte sich ein harter Winter an, und sie wollten wohl die Wolfsfelle. Ich habe das Rudel mit meinen Kräften gezwungen, mir zu folgen. Der einzige Fluchtweg aus dem Talkessel, in den sie uns treiben wollte, führte über eine sonnenbeschienenen Hang. Ich wusste, dass man uns sehen würde und wollte nicht, dass meine Rüstung mich verriet. Auch wenn sie schwarz ist, reflektiert sie immer noch das Sonnenlicht, und mein Umhang war damals schon so zerschlissen, dass er mir nicht genügend Schutz geboten hätte. Ich wusste, dass ich mit meinen Auftritten als schwarzer Kargai mich und das Rudel in Gefahr gebracht hatte, und dass dies nun ein Ende haben musste. So vergrub ich die Rüstung mit Hilfe der wilden Kräfte tief im ewigen Schnee. Kurz darauf verliess das Rudel den Schutz der Berge, um im den westlichen Wäldern zu jagen. Im Zusammenhang mit dieser Jagd und dem darauffolgenden Kampf mit Orks, die fast das ganze Rudel auslöschten, muss ich endgültig den Verstand verloren haben."

„Ich erinnere mich gut an die Treibjagd. Ich machte mir Sorgen um das Rudel, und suchte euch überall, aber ihr bliebt verschwunden. Dann sah ich die Kargai aus Hornthal nach Hause zurückkehren, und in ihren Gesichtern las ich die Enttäuschung über die missglückte Jagd. Du und die Wölfe, ihr wart unauffindbar, und ich hatte grosse Angst um dich. Schliesslich kam ich zu dem Talkessel, wo die Treibjagd ihr Ende hätte finden sollen. Ich bin eine Lumiane, Sijn, und ich verstehe es mit den wilden Kräften umzugehen. Im Gegensatz zu den Kargai aus Hornthal entdeckte ich die geringfügigen Änderungen in der Struktur des Schnees am Taleingang. Ich grub ein bisschen, und stiess bald einmal auf deine Rüstung. Ich ahnte, dass du nicht zurückkehren würdest, um sie zu holen, und so nahm ich sie an mich."

Harija legte die Hand auf den Wolfshelm und ihre Stimme klang warm und freundlich.

„Und nun ist es Zeit für dich, wieder die Rüstung des schwarzen Kargais zu tragen, Sijn. Es ist die Rüstung eines Rächers, und, so traurig es mich auch stimmt, so weiss ich doch, dass in deinem Herzen erneut der Durst nach Rache brennt. Ich werde dich nicht aufhalten, mein Junge, aber ich hoffe, dass du in deinem Leben noch etwas anderes finden wirst, als nur Zorn und Hass."

Sijn senkte den Kopf. Harija hatte das ausgesprochen, was er selber noch nicht zu denken gewagt hatte. Nun, da die Worte gesagt waren, wurde ihm klar, dass die Lumiane Recht hatte. In ihm brannte der Zorn, und er würde nicht eher ruhen, bis er nicht jene gefunden hatte, die das Rudel und das Dorf am Feuerberg überfallen hatten. Er seufzte leise, bevor er der Lumiane erneut in die Augen sah.

„Ich weiss nicht, ob man dir jemals von dem Traum erzählt hat, den meine Mutter hatte, bevor sie Lycar und mich zur Welt brachte."

Harija nickte.

„Ich weiss Bescheid. All die Jahre habe ich diese Vision denken müssen, wenn ich dich mit den Wölfen ziehen sah. Der Streit mit deinem Bruder, mit dem der Traum anfing, war vorbei, aber anstelle des roten Sternes warst du einem Wolfsrudel gefolgt. In der ganzen Zeit, in der ich dich nun beobachtet habe, konnte ich nie herausfinden, was es mit diesem Stern auf sich hat, obschon ich sicher bin, dass etwas Wahres am Traum deiner Mutter ist. Die Träume einer Lumiane sind niemals einfach nur Träume."

Sijn zog langsam das Stück Umhang aus seinem Gürtel und zeigte es Harija. Diese blickte lange Zeit auf den flammenumrahmten Stern und schüttelte schliesslich verwirrt den Kopf.

„Ich dachte immer, du würdest dem roten Stern aus freien Stücken folgen und dich ihm anschliessen."

„Folgen werde ich ihnen, aber ich denke nicht, dass ich mich diesen Mördern anschliessen möchte. Selbst wenn das mein Schicksal sein sollte, so ist es nicht in meinem Sinne. Ja, ich wollte einst Rache für meine Verbannung nehmen, aber bestimmt nicht an den Dorfbewohnern am Fuss des Feuerbergs – sie waren doch selber Verbannte wie ich."

Harija legte dem Kargai sanft eine Hand auf die Schulter.

„Wenn du dich den Fremden nicht anschliessen willst, kann ich das gut verstehen und bin froh darüber. Ich weiss nicht, was es mit diesem Traum deiner Mutter auf sich hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich das für dich gewünscht hätte. Und ausserdem... sie sprach immer von einem flammendroten Stern, nicht von einem schwarzen Stern, den rote Flammen umranden."

„Du meinst, dies sei nicht der Stern aus dem Traum meiner Mutter? Du glaubst, es gebe noch einen anderen, einen roten? Wären das nicht etwas zuviele Zufälle?"

Harija zuckte mit den Schultern.

„Wer sagt, dass der rote Stern ein Banner sein muss? Ausserdem können Kargai sehr, sehr alt werden. Wer sagt denn, dass sich dein Schicksal jetzt erfüllen muss und nicht erst in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren?"

„Ich wünschte, du hättest recht, Harija, aber dieser schwarze Stern ist auch mit meinem Schicksal verknüpft, das spüre ich. Ich werde nicht ruhen können, bis ich nicht weiss, wer für diese Gemetzel verantwortlich ist."

Die Lumiane lächelte Sijn traurig an.

„Ich kann dir diese Last nicht abnehmen, Sijn. Ich weiss, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst – auch wenn ich hoffe, dass du nichts Unbesonnenes tust. Nimm jetzt deine Rüstung, und komm mit nach unten. Ich habe dir einen Schlafplatz bereitet. Morgen können wir dann noch eine Weile miteinander reden, bevor du dich auf den Weg machst."

Die Lumiane war schon fast draussen, als Sijn sie noch einmal zurückrief.

„Harija? Was ist mit meinen Tieren? Du hast gesagt, Rhawen kümmere sich um sie. Wieso bist du so sicher, dass sie das tun kann?"

Harija zwinkerte ihm zu.

„Rhawen ist zwar keine Lumiane, aber sie kann auf ihre Weise ebenso gut mit den wilden Kräften umgehen wie du und ich. Vor allem im Umgang mit Tieren ist sie sehr geschickt. Rhawen kommt von weither, und sie war auf der Flucht, als ich sie gefunden habe. Wenn dein Rachefeldzug ein Ende gefunden hat, solltest du zurückkommen und mit ihr reden. Sie könnte dir einige gute Ratschläge geben, falls du daran denkst, diese Berge zu verlassen."

„Die Berge zu verlassen? Würdest du mich begleiten, Harija, wenn ich diesen Schritt wagen würde?"

„Nein, Sijn. Vor zehn Jahren wäre ich dir gefolgt, aber nun nicht mehr. Es werden neue Dorfbewohner zum Feuerberg kommen, und ich werde ihnen dabei helfen, das Lager wieder aufzubauen. Sie werden die Macht einer Lumiane brauchen, und ich werde mein Bestes geben, dass sich so ein Angriff nie mehr wiederholen kann. Nein, Sijn, mein Platz ist jetzt hier, genau wie Rhawens, die nicht mehr ins Tal zurückkehren wird. Du dagegen hast in den Bergen keine Zukunft, mein Sohn. Tu jetzt, was du tun musst, aber dann mache dich auf die Suche nach dem roten Stern, denn mein Herz sagt mir, dass du in den kommenden Ereignissen auf dieser Welt noch eine Rolle zu spielen hast."