Kundschafter
Sie erreichten das Hochplateau im Morgengrauen des zweiten Tages. Den ganzen letzten Tag waren sie bergauf geklettert, auf einem Pfad der sich dicht an die Felswand schmiegte. An einigen besonders schmalen Stellen hatte man den Fels abgetragen, um den Sims zu verbreitern, so dass sich die Reiter zeitweise mehr im als am Fels bewegten. Wie Araym gesagt hatte, diente dieser Weg dazu, die Quelle auf dem Hochplateau instand zu halten, und daher war er so gebaut, dass er auch für Kamele gangbar war, die Werkzeug zur Quelle schleppen mussten. Trotzdem waren alle dankbar, als die Steigung endlich ein wenig sanfter wurde, der Weg sich verbreiterte und nach und nach den Blick auf die Hochebene freigab.
Tiruial bestand darauf, die Nacht noch im Schutz der Felswand zu verbringen und erst am nächsten Morgen auf die Ebene hinaus zu reiten. Er selber schlich sich in den frühen Morgenstunden noch im Schutz der Dunkelheit zur Quelle, begleitet von Tárion, der den immer noch geschwächten Elben nicht alleine lassen wollte. Sie wollten erst die Gegend untersuchen, bevor sie sich mit allen Menschen und Reittieren auf die Ebene wagten.
Auch Araym hatte sich den Kundschaftern anschliessen wollen, aber die frischen Verletzungen an seinen Händen liessen es nicht zu. Tiruial hatte bei der Behandlung sein Bestes gegeben, aber es würde trotzdem einige Zeit dauern, bis Araym wieder etwas berühren konnte, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken. Für den jungen Mann war das Schlimmste, dass er wieder so hilflos war, wie in der ersten Zeit nach seiner Bestrafung. Nicht einmal essen und trinken konnte er selbständig, und Araym schämte sich jedes Mal von neuem, wenn Anarya ihn fütterte wie ein kleines Kind. Araym wusste, dass es für ihn undenkbar war, sich an ein Lager der Ostwinde anzuschleichen, wenn es denn in der Nähe eines gab, aber er machte sich Sorgen um Tiruial und Tárion, denn im Gegensatz zu ihnen war er schon Ostwinden begegnet, wenn er auch nie mit ihnen gesprochen hatte.
Tiruial und Tárion dagegen waren guten Mutes. Beide hatten sie eine hervorragende Ausbildung als Krieger hinter sich, und auch wenn sie beide ihre Erfahrungen vor allem in Manövern und nicht im Ernstfall gesammelt hatten, war dies keine Aufgabe vor der sie sich scheuen mussten.
Von Araym wussten sie, dass es auf der Hochebene nur wenige Wasserstellen gab, und eine davon war die Quelle, zu der sie aufgestiegen waren. Die Ostwinde hatten wie auch die Südwinde Patrouillen, die die Ebene überwachten, aber im Gegensatz zu Arayms Leuten lebten sie nicht in einer Festung, sondern zogen in kleinen Gruppen umher. Ihre Lager bauten sie immer in der Nähe von Wasserstellen auf. Es lag nun an Tárion und dem Elben, herauszufinden ob sich in der Nähe der Quelle ein Lager der Ostwinde befand, und wenn ja, wie man es umgehen konnte.
Der Weg zur Quelle dauerte immer noch eine gute Stunde, obschon die Männer anfangs noch zügig bergan marschierten, und erst als sie fast oben angelangt waren, anfingen, sich unauffälliger zu bewegen. Langsam und vorsichtig näherten sie sich dem kleinen Teich, wo die Quelle entsprang. Tiruial gab Tárion ein Zeichen zurückzubleiben und schlich dann vorsichtig ans Ufer hinab. Der Elb liess sich Zeit, aber schliesslich kam er zurück und kauerte sich neben Tárion hinter einen Felsen.
„Es muss hier in der Nähe ein Lager geben. Es wimmelt von Fussspuren, menschlichen und tierischen, und sie sind zum Teil noch keinen Tag alt."
Tárion seufzte.
„Wir werden es suchen müssen. Ich hoffe nur, es gibt einen Weg, die Ostwinde zu umgehen. Auch wenn Araym, meinte, es seien nur einfache Krieger, die man besiegen könne, möchte ich einen Kampf lieber vermeiden."
„Lass uns auf den Hügel hinter dem Teich klettern. Das Unterholz dort sollte uns genügend Deckung bieten, und vielleicht können wir von oben das Lager entdecken."
Der junge Fürstensohn nickte und machte sich sofort auf den Weg zu dem Hügel, jede Deckung ausnutzend. Tiruial folgte ihm nach. Für ihn als Elben war es nicht schwierig, sich unauffällig zu bewegen und keine Spuren zu hinterlassen, aber er bewunderte, wie geschickt sich Tárion anstellte.
Bald hatten die beiden die Hügelkuppe erreicht und kauerten sich hinter ein paar niedrige Gebüsche. Das Lager der Ostwinde lag direkt zu ihren Füssen, und es war viel grösser als erwartet. Etwa dreissig Zelte standen im Kreis um einen runden Platz, auf dem ein seltsames Holzgestell aufgebaut war. Um das Gestell herum brannten mehrere kleine Feuer, aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Tárion deutete auf einen Pfahl, der sich ein wenig ausserhalb der Zeltstadt befand, und neben dem ein weiteres niedriges Feuer brannte.
„Sie haben einen Gefangenen! Siehst du? Dort, an dem Pfahl ist jemand angebunden!"
Tiruial nickte.
„Es ist eine junge Frau, aber ich kann ausser ihr niemanden sehen – weder im Lager noch bei der Gefangenen. Seltsam, man sollte denken, dass die Ostwinde ihre Lager besser bewachen."
Tárion überlegte, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
„Nun, sie überwachen doch die ganze Ebene, oder? Das Lager befindet sich so nahe an der Felswand, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass es jemand unbemerkt an all ihren Patrouillen vorbei bis hierher schafft. Andererseits kommen auch nie Reisende vom Osten her auf die Ebene, weil die Südwinde sie vorher aufhalten. Wieso sollten sie also Wachen aufstellen?"
„Du hast Recht. Dann stellt sich nur noch die Frage, wer die Frau ist, die sie gefesselt haben, und woher sie gekommen ist."
Tiruial schob sich ein wenig weiter vor und liess seinen Blick erneut über das Lager schweifen. Der neue Tag brach an, die Sterne waren verblasst, und von Osten her wurde es rasch hell. Das Licht wurde immer besser, und nun konnte auch Tárion mehr von dem Lager erkennen als nur die Feuer und die unförmigen Umrisse der Zelte.
„Die Sonne geht auf. Wir sollten zurückkehren, bevor man uns entdeckt."
Tárion nickte, machte aber keine Anstalten seinen Posten zu verlassen. Konzentriert starrte er auf das Lager, obschon ihm bewusst war, dass die scharfen Augen des Elben viel mehr erkennen konnten als die seinen. Etwas dagegen fiel ihm deutlich auf.
„Sie hat blaues Haar!"
Tiruial starrte den Fürstensohn verwirrt an.
„Wie bitte? Was meinst du?"
„Die Gefangene. Sie hat blaues Haar. Ich habe so etwas noch nie gesehen."
Der Elb lachte leise mit seiner heiseren Stimme.
„Sie wird es färben, denke ich. Es gibt ein Kraut, das in den Bergen wächst, mit dem man genau diesen grellblauen Farbton erzeugen kann. Wir Elben färben oft Stoffe damit."
Er deutete auf die Zelte.
„Die Zelte haben Muster in der selben Farbe, siehst du? Die Pflanze ist bei uns selten, aber hier scheint sie öfter vorzukommen. – Du kannst es wohl nicht sehen, aber das Mädchen hat auch blaue Tätowierungen auf den Armen."
Tárion kniff die Augen zusammen und starrte konzentriert zu der Gefangenen. Inzwischen konnte auch er sehen, dass es sich um eine sehr junge Frau, noch fast ein Kind handelte. Ihre Tätowierungen konnte er nur erahnen, aber im ersten Licht der Morgensonne erkannte er dafür die blutigen Striemen auf ihrem Körper.
„Man hat sie geschlagen! Wir müssen ihr helfen!"
Tiruial schüttelte den Kopf.
„Erst werden wir den anderen Bericht erstatten. Es wird nicht einfach werden, das Lager zu umgehen. ausser diesem Hügel gibt es hier nicht viel, was uns Schutz vor aufmerksamen Blicken bieten könnte, und ich sehe kaum Möglichkeiten, das Lager in grossem Bogen zu umgehen. Vielleicht müssen wir die Nacht abwarten und im Schutz der Dunkelheit weiterziehen."
„Aber was ist mit der Gefangenen? Wir können sie doch nicht einfach dort lassen?"
Ohne zu antworten schob sich Tiruial ausser Sichtweite des Lagers und machte sich dann lautlos an den Abstieg vom Hügel. Tárion stolperte mehr hinterher als dass er schlich. Unten angekommen packte der Elb ihn grob am Arm.
„Deine Ausbildung zum Krieger war gut, Tárion von Fenring. Du hast gelernt, Spuren zu lesen, dich lautlos an etwas anzuschleichen, an einem feindlichen Lager genau die Dinge zu bemerken, die wichtig sind – aber eines hast du nicht gelernt: Man muss in der Lage sein die Dringlichkeit eines Problems zu bestimmen. Ja, die Ostwinde haben eine Gefangene, aber sie ist alleine, wir kennen sie nicht und wir wissen nicht, weshalb sie gefangen wurde. Wer sagt denn, dass sie nur eine harmlose Reisende ist? Auf der anderen Seite haben wir einen wichtigen Auftrag. Unter deinem und Mareks Kommando stehen zehn Männer, die deinen Befehlen gehorchen, aber auch auf dein Urteilsvermögen vertrauen. Ausserdem hast du die Verantwortung für deine Schwester. Willst du wirklich fünfzehn Leute in Lebensgefahr bringen, nur um eine einzige fremde Person überstürzt zu retten? Ich habe nicht gesagt, dass wir sie dort lassen werden, aber ich sage, dass wir uns erst um die Gefangene kümmern, wenn unsere Leute in Sicherheit sind."
Tárion senkte den Kopf und liess die Tirade des Elben stumm über sich ergehen. Schliesslich nickte er unwillig und folgte Tiruial zurück zu den anderen. Doch das Bild des Mädchens mit den blauen Haaren ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte so jung ausgesehen, so unschuldig! Immer noch sah Tárion vor seinem inneren Auge die Striemen auf ihrem Körper, und er wusste, dass er nicht zulassen konnte, dass man die Gefangene weiterhin an diesem Pfahl hielt und folterte.
Als Tiruial zurück zu den anderen kam, wurde er aufgeregt begrüsst. Er sah die angespannten Mienen seiner Mitreisenden und spürte ihre Furcht vor dem, was er ihnen wohl erzählen möge. Anarya war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, und Tiruial verfluchte sich einmal mehr im Stillen dafür, dass er das Mädchen mitgenommen hatte.
„Wo ist Tárion?"
Tiruial fuhr ruckartig herum, aber Anaryas Bruder war nicht hinter ihm. Er stiess leise eine Reihe von elbischen Flüchen aus und wandte sich dann mit gerunzelter Stirn an die anderen.
„Wir haben das Lager der Ostwinde entdeckt. Sie haben eine Gefangene. Tárion wollte sie befreien, aber mir war das ganze Lager irgendwie unheimlich. Etwas stimmt dort nicht, und so wollte ich erst zurückkommen und Bericht erstatten und mich dann um die Gefangene kümmern. Nun, ich fürchte, Tárion mochte dies nicht abwarten."
Marek warf dem Elben einen entsetzten Blick zu.
„Er ist alleine zum Lager zurückgegangen?"
„Ich nehme es an. Er kam nur sehr widerstrebend mit mir zurück. Ich werde ihn suchen gehen - wenn ich mich beeile, kann ich ihn vielleicht noch rechtzeitig einholen."
Marek nickte.
„Ich komme mit. Anarya, du wartest mit den anderen hier. Sollten wir bis am Abend nicht zurück sein, so nutzt den Schutz der Dunkelheit, um an dem Lager vorbeizuschleichen."
Anarya starrte den alten Soldaten entsetzt an, aber in diesem Moment trat Araym neben sie und legte ihr beruhigend eine verbundene Hand auf die Schulter.
„Ich werde auf Anarya aufpassen, Marek. Aber passt auf euch auf und tut nichts Unüberlegtes."
Tiruial lächelte einmal mehr sein undurchschaubares elbisches Lächeln und nickte Araym und Anarya aufmunternd zu. „Wir werden alles versuchen, um Tárion möglichst rasch zurückzubringen. Mach dir keine Sorgen, Anarya, dein Bruder wird schon bald wieder bei uns sein."
Doch Anarya liess sich nicht so einfach beruhigen. Mit einer unsanften Bewegung wischte sie Arayms Hand von ihrer Schulter, was ihn schmerzlich das Gesicht verziehen liess. Dann wandte sie sich ärgerlich an Marek und Tiruial.
„Ihr könnt nicht einfach so gehen! Habt ihr euch überlegt, was geschieht, wenn ihr beide nicht zurückkommen solltet? Glaubt ihr im Ernst, Mareks Soldaten würden mir oder Araym in den Westen folgen? Nein! Sie würden mich so schnell wie möglich zurück zu Vater bringen."
Tiruial schluckte. Anarya hatte Recht. Auch wenn er sich eigentlich sicher war, dass er und Marek sich nicht gefangennehmen lassen würden, sah er ein, dass die Möglichkeit trotz allem bestand. Mareks nervöses Räuspern deutete darauf hin, dass es der alte Soldat auch begriffen hatte. Er warf Tiruial einen fragenden Blick zu und der Elb nickte langsam.
„Du hast Recht, Anarya. Wir können nicht beide gehen. Ich kann nicht hier bleiben, da ich als einziger das Lager gesehen habe. Also wird Marek hier bei seinen Männern warten müssen. Du kannst auch nicht mitkommen, da du neben mir als einzige über den Westen Bescheid weisst, und Araym kann mir mit seinen Verletzungen auch nicht helfen. Ich werde also alleine gehen."
„Nein, nicht alleine. Ich werde Mora mit dir schicken. Er ist zwar noch jung, aber..."
Tiruial fiel Marek ins Wort.
„Er ist der aufgeweckteste von den Soldaten und der einzige, der nicht sofort den Blick abwendet, wenn er in meine Nähe kommt."
Marek seufzte.
„Die Menschen von Amarond sind misstrauisch. Sie haben nichts gegen dich, Tiruial, aber du kommst aus dem Westen, und das wissen sie. Es ist schwierig in so kurzer Zeit all die Vorurteile abzulegen, die man von Kindesbeinen an eingetrichtert bekommen hat. Du bist kein Mensch, und das macht es für sie schwer, dir offen zu begegnen."
Tiruial lächelte sein stilles Elbenlächeln.
„Mora ist eine gute Wahl. Er ist wohl noch ein wenig ungestüm, aber er ist nicht dumm. Ich denke, er wird sich freuen, wenn er mich begleiten darf – er platzt vor Neugier über den Westen, hat sich aber bisher nicht getraut, mich anzusprechen."
Marek grinste und ging dann zu den Soldaten hinüber. Er sprach mit Mora, der errötete und dann flüchtig zu Tiruial hinüber blickte. Dieser neigte leicht den Kopf und winkte Mora dann zu sich. Der Soldat war jung; jünger noch als Anarya, aber trotzdem hatte er sich bis hierher gut bewährt. Er war fleissig, hilfsbereit und immer fröhlich. Die anderen Soldaten bedachten ihn oft mit freundlichem Spott, weil er der jüngste unter ihnen war, aber Mora liess sich davon nicht beeindrucken.
In der Nacht vor dem Sandsturm hatte Mora sich während seiner Wache zu den Pferden geschlichen und es sogar gewagt, Tilion zu berühren. Mora hatte sich unbeobachtet geglaubt, aber Tiruial hatt trotz seiner Erschöpfung nicht schlafen können und war vom Schnauben des Hengstes aufgewacht. Wäre er nicht so schwach gewesen, er wäre aufgestanden und zu Mora gegangen, um mit ihm zu sprechen, aber so verschob er das Gespräch auf später. Bis jetzt war er nicht dazu gekommen, sich dem Soldaten zu nähern, aber nun war es soweit. Nicht nur Mora war neugierig. Auch Tiruial interessierte es, weshalb sich ein so junger Bursche freiwillig an dieser Reise beteiligt hatte, und wieso Mora ihn nicht fürchtete wie die anderen.
