Gefangen!
Tárion lag wieder bäuchlings auf dem Hügel, von dem aus er mit Tiruial das Lager beobachtet hatte. Sein Blick schweifte über die Zelte, und was er sah, liess seine Hoffnung auf eine rasche Befreiung des Mädchens schwinden. Die Ostwinde waren erwacht. Überall standen und sassen spärlich bekleidete Männer um die Feuer und assen oder beschäftigten sich mit verschiedenen alltäglichen Dingen. Tárion fror schon vom Anblick der nackten Oberkörper, die ausnahmslos mit wilden Mustern tätowiert waren. Die ledernen Beinkleider reichten den Ostwinden nur bis zu den Knien, dazu trugen sie knöchelhohe Lederstiefel.
Ausser schmalen Lederstreifen, die sich die Männer um Arme, Beine und Oberkörper geschlungen hatten, trugen sie keine weitere Kleidung und schienen auch nicht zu frieren. Dabei war der Wind hier oben recht frisch, und es war kaum vorstellbar, dass sich am Fuss der Berge eine glutheisse Wüste befand. Tárion war jedenfalls froh um den Umhang, in den er sich hüllen konnte.
Die Gefangene war immer noch an den Pfahl ausserhalb des Lagers gefesselt. Ein paar grosse Hunde strichen um sie herum, und beschnupperten ihre Waden. Das Mädchen trat nach ihnen, aber die Tiere wichen geschickt aus und kamen dann erneut heran. Es waren riesige Tiere mit struppigen, braungrauen Fellen und gewaltigen Kiefern. Tárion wollte sich lieber nicht zu genau vorstellen, was sie mit der Gefangenen alles anstellen konnten, wenn sie genug vom Beschnuppern hatten.
Auf einmal verliessen drei Männer den Kreis der Lagerfeuer und traten auf die Gefangene zu. Zwei davon sahen aus wie alle anderen, der dritte dagegen war augesprochen mager. Er trug Beinkleider und ein Wams aus schwarzem Leder und hatte einen kurzen, schwarzen Umhang, der bei jedem Schritt umklappte und den Blick auf die feuerrote Innenseite freigab. Der Mantel schien mehr Rangabzeichen als Kleidungsstück zu sein, und Tárion fiel auf, dass die beiden anderen Männer einen ehrerbietigen Abstand zu dem Mageren einhielten.
Viele der Ostwinde hatten kahl geschorene Schädel, die mit seltsamen Zeichen bemalt waren. Andere hatten schulterlanges, zotteliges Haar, das sie mit Lederstreifen aus dem Gesicht banden. Auch der Schwarzgekleidete hatte den Kopf kahl geschoren, aber ein schmaler Streifen roten Haars zog sich von der Stirne bis in den Nacken hin. Es war kein natürliches Rot, sondern es musste ebenso gefärbt sein, wie das blaue Haar der Gefangenen. Die Haare des Mageren standen senkrecht in die Höhe und waren mit Federn und Silberschmuck durchflochten. Tárion fühlte sich an die Helme der Tarvik erinnert, die mit gefärbten Mähnen der Steinziegen verziert wurden.
Der Anführer verscheuchte mit ein paar kräftigen Fusstritten die Hunde und bückte sich dann, um einen Krug aufzuheben, der vor der Gefangenen am Boden stand. Er hielt dem Mädchen das Gefäss an die Lippen, aber dieses drehte den Kopf zur Seite und weigerte sich zu trinken. Der Mann schüttelte den Kopf und redete heftig auf die junge Frau ein, doch sie liess sich nicht zwingen. Nach einer Weile zog der Mann ein Messer, und Tárion sprang auf. Er konnte nicht zulassen, dass die Gefangene einfach so getötet wurde.
Doch kaum blitzte die Klinge in der Sonne auf, zog das Mädchen plötzlich beide Hände hinter dem Rücken hervor. Ihr perlendes Lachen war bis zu Tárion hin zu hören, als sie ihrem Gegenüber das Messer entwand und sich die Fussfesseln losschnitt. Daraufhin fiel sie dem Mann mit dem Umhang um den Hals, und dieser drückte sie an sich.
Er bot dem Mädchen erneut den Krug an, und dieses Mal trank sie daraus. Beinahe augenblicklich sackten ihre Beine unter ihr weg, und Tárion sah, wie der Mann sie auffing und dann in die Arme nahm. Die anderen beiden wollten ihm helfen, aber er wehrte ab. Alle schienen sehr zufrieden zu sein und Tárion glaubte sogar Erleichterung in den Zügen des Schwarzgekleideten zu erkennen.
„Lle rebben tron!"
Kräftige Hände packten Tárion an den Schultern und zogen ihn hoch. Ehe er es sich versah, stand er vor einem der Ostwinde, an beiden Seiten von anderen Ostwinden festgehalten. Der schmerzhafte Griff um seine Oberarme zeigte Tárion nur zu deutlich, dass Widerstand zwecklos war. Ergeben blickte er sein Gegenüber an und wartete, was nun mit ihm geschehen würde. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn man ihn auf der Stelle getötet hätte, aber dass er noch lebte, versprach nicht unbedingt etwas Besseres. Ob er nun den Platz der blauhaarigen Gefangenen einnehmen würde? Tárion stellten sich die Nackenhaare auf. Wie hatte er nur so dumm sein können! Einfach aufzuspringen und sich offen dem ganzen Lager zu zeigen – er hätte sich genausogut selber ein Messer ins Herz stechen können. Der Krieger, der vor ihm stand trat auf ihn zu und umfasste grob sein Kinn mit einer Hand. Er zwang Tárion den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu blicken. Lange musterte er die Züge des jungen Fürstensohnes, dann liess er ihn los.
„Rra senri Shahirrim!" Er legte die Hände über seine Augen und warf dann dreimal ruckartig seinen Kopf in den Nacken. Es war eine seltsame Geste, und Tárion fühlte sich dabei unwillkürlich an ein pickendes Huhn erinnert. Zu seiner Überraschung folgten die beiden, die ihn festhielten, den Beispiel des ersten und begannen ebenfalls mit geschlossenen Augen zu nicken. Doch bevor Tárion die Gelegenheit zur Flucht ergreifen konnte, hatte der erste die Hände von den Augen genommen. Mit einer raschen Bewegung packte er Tárion und warf ihn sich kurzerhand über die Schulter. Alles Zappeln nützte nichts – der Krieger war um einiges kräftiger gebaut als Tárion, und er hielt den Fürstensohn in eisernem Griff.
Tárion wurde mitten ins Lager der Ostwinde geschleppt und dort unsanft zu Boden geworfen. Ächzend setzte er sich auf, und augenblicklich schwebten die Enden dreier Kampfstäbe über seinem Kehlkopf.
Ergeben liess er sich wieder zurücksinken, wobei die eisenbeschlagenen Waffen seiner Bewegung fliessend folgten. Er lag einige Zeit reglos da, denn wann immer er sich bewegte, folgten ihm die Enden der Kampfstäbe, und die knurrenden Laute der Krieger zeigten deutlich, dass sie nicht zögern würden zuzuschlagen. Aus seiner Position konnte er nicht viel von seiner Umgebung erkennen, aber ihm fiel auf, dass ausser den drei Kriegern, die ihn bewachten, niemand in seine Nähe kam.
Die Sonne stand schon hoch, als Tárion schliesslich eine Stimme vernahm.
„En rebbe Shahirrim!"
Ein alter Mann trat auf ihn zu und bedeutete den drei Kriegern, die ihn bedrohten, ihre Kampfstäbe zurückzuziehen. Im Gegensatz zu den anderen Männern trug dieser hier ganz normale Kleidung, wie man sie auch bei den einfachen Dorfbewohnern Amaronds sehen konnte. Der Alte stiess einen kurzen Befehl aus, und einer der Krieger zog Tárion hoch und hielt ihn fest.
„En rebbe Shahirrim!"
Tárion verstand kein Wort dieser Sprache, aber der Tonfall klang nicht sehr freundlich. Er schluckte und sah dann dem Alten direkt in die Augen.
„Mein Name ist Tárion von Fenring. Ich komme aus Amarond."
Ruckartig griff der alte Mann in Tárions Haar und riss kräftig daran. Der junge Mann konnte den Schmerzenslaut nicht unterdrücken, der sich ihm entrang, als ihm eine dünne Strähne ausgerissen wurde. Der Alte liess das Haar durch seine Finger gleiten, blies dagegen und wickelte es schliesslich um den Ringfinger seiner rechten Hand. Dann packte er Tárion am Ohr und zog seinen Kopf daran ein wenig zur Seite. Mit gerunzelter Stirne musterte er sein Gesicht und liess ihn schliesslich mit einem leichten Kopfschütteln wieder los.
„Du aus dem Osten? Amarond?"
Tárion nickte; erleichtert, dass der Mann offenbar seine Sprache verstand.
„O-sin Shahirrim? Du in Amarond geboren?"
„Ja, ich bin Tárion von Fenring, Sohn des Fürsten Bradwen von Fenring."
Tárion war sich nicht sicher, ob es klug war, sich als Fürstensohn zu erkennen zu geben, aber es war immer noch besser gegen ein Lösegeld eingetauscht zu werden, anstatt in einem Nomadenlager in den Bergen zu sterben.
Der Alte strich immer noch mit dem Daumen über den Haarring an seinem Finger. Er schien an Tárions Aussage zu zweifeln, aber schliesslich schnaubte er und stiess dann einen abgehackten Befehl hervor. Mit schiefem Grinsen wandte er sich an den Fürstensohn.
„Du neugierig auf Sakkara? Du sehen! Mara wird dir zeigen."
Das Mädchen mit den blauen Haaren trat auf Tárion zu. Sie trug nun die selbe Kleidung wie alle Krieger hier, nur dass ihr Oberkörper nicht völlig nackt, sondern mit einem breiten Lederband umwickelt war, welches nur ihre Brüste bedeckte, den Bauch jedoch freiliess. Ihr blaues Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr rechts und links auf die Schultern hingen. Von Peitschenstriemen war nichts mehr zu sehen, und Tárion begriff, dass es nicht ihr eigenes Blut gewesen war, das er an ihr gesehen hatte. Offensichtlich war die junge Frau keine Gefangene gewesen, sondern hatte an irgendeinem Ritual teilgenommen. Vielleicht war sie auf diese Weise zur Kriegerin geworden, und hatte daher nun das Recht, diese Kleidung zu tragen. Tárion bemerkte jetzt auch den Kampfstab auf ihrem Rücken und die beiden langen, leicht gebogenen Dolche in ihrem Gürtel.
Hinter der jungen Frau näherte sich der Mann mit dem schwarzroten Umhang, der bei ihr gewesen war. Aus der Nähe sah er jünger aus, als Tárion ihn am Anfang geschätzt hatte. Er war zwar älter als er selber, aber hatte wohl nicht viel mehr als dreissig Sommer gesehen. Der Mann kläffte einen Befehl, und das blauhaarige Mädchen trat hinter Tárion und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Der Krieger, der ihn bis dahin festgehalten hatte, liess los, aber Tárion sah trotzdem keine Möglichkeit sich loszureissen. Und selbst wenn er es geschafft hätte – wohin konnte er schon fliehen, mitten in dem Lager der Ostwinde?
Das Mädchen packte nun auch seinen zweiten Arm und riss ihn brutal nach hinten. Tárion kannte den Griff nicht, den sie verwendete, aber seine verdrehten Handgelenke schmerzten so sehr, dass er jeden Gedanken an Widerstand aufgab. Der Schwarzgekleidete trat auf ihn zu und umfasste mit der rechten Hand sein Kinn. Mit seinem langen, mageren Zeigefinger tastete er an Tárions Unterkiefer herum, bis er die Stelle gefunden hatte, die er suchte. Nach und nach verstärkte er den Druck seines Fingers, und Tárion merkte entsetzt, wie seine untere Gesichtshälfte taub wurde. Ohne sein Zutun öffnete sich sein Mund, und sein Gegenüber grinste höhnisch. Mit der freien Hand zog er etwas aus seiner Gürteltasche, und ehe Tárion es sich versah, hatte er ihm etwas in den Mund geschoben. Ein weiterer Druck auf den Kiefer, und Tárion schloss den Mund, ohne dass er es hätte verhindern können.
„Kauen!"
Tárion schüttelte den Kopf, so gut er es vermochte. Der Griff der Frau hinter ihm war immer noch eisern, und die untere Hälfte seines Gesichts war nun völlig gefühllos. Der junge Fürstensohn wusste nicht einmal, ob er hätte kauen können, wenn er es gewollt hätte.
„Du kaust selber, oder mit Gewalt!"
Der Mann vor ihm lächelte bei diesen Worten milde, so als wüsste er schon, dass Tárion ihm nicht gehorchen würde. Der Fürstensohn schüttelte erneut den Kopf, und der Schwarzgekleidete zuckte mit den Schultern.
„Mara?"
Tárion spürte, wie seine Handgelenke ruckartig nach oben gerissen wurden, und augenblicklich schoss ein kurzer, brennender Schmerz durch seine Arme. Im ersten Moment war es fast unerträglich, und Tárion schrie gellend auf. Seine Knie gaben nach, und er wäre zusammengebrochen, wenn die junge Frau ihn nicht festgehalten hätte. Sie drehte ihn mit einem Ruck zu sich herum und packte ihn mit der linken Hand an der Schulter. Es war nicht mehr nötig seine Arme festzuhalten, denn diese hingen auf einmal leblos an seinem Körper und Tárion fühlte sie nicht einmal mehr.
Der Schwarzgekleidete öffnte mit einem raschen Druck auf seinen Kiefer erneut Tárions Mund und kontrollierte, ob er bei seinem Schrei die kleine, harte Kugel veschluckt hatte. Tárion wusste es selber nicht, denn noch immer hatte er keine Gewalt über seinen Kiefer. Im Grunde genommen war es ihm selbst ein Rätsel wie er hatte schreien können. Der Mann schnaubte ärgerlich und nickte dem Mädchen zu, das Tárion mit einer raschen Bewegung zu sich herumdrehte, so dass er nun ihr Gesicht sehen konnte.
„Kau!"
Ihre Stimme war rau und klang irgendwie müde. Tárion sah nun auch, dass ihre Augen blutunterlaufen waren, und tief in den Höhlen lagen. Sie erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln und wiederholte dann ihre Aufforderung.
„Kau!"
Erneut schüttelte Tárion den Kopf. Sie lächelte, und es schien Tárion, als würde er eine Spur von Mitleid in ihren Augen aufleuchten sehen.
„Du hättest es einfacher haben können, O-Shahirrim!"
Mit der linken Hand zog hielt sie ihn fest und schlug dann mit der Rechten hart gegen sein Kinn. Tárion hörte ein Knirschen und fragte sich, ob es sein Kiefer gewesen war, der nachgegeben hatte, oder das harte Ding in seinem Mund. Noch immer fühlte er nichts – sein Kiefer war ebenso gelähmt wie seine Arme. Dafür hatte Tárion plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. Es war anders als alles, was er bisher in seinem Leben gekostet hatte, weder wie ein Nahrungsmittel, noch wie ein Heilmittel oder wie sonst etwas, was man zu sich nehmen konnte. Der Geschmack war so fremd, dass Tárion ihn wohl noch Jahre später ohne Schwierigkeiten würde wiedererkennen können – falls er noch lange genug lebte. Trotz der Bitterkeit war es nicht einmal unangenehm, und Tárion merkte auch, dass das taube Gefühl nach und nach aus seinem Kiefer schwand.
Urplötzlich war er hellwach, sein Herz raste und er begann am ganzen Körper zu zittern. Das Mädchen zog ihn hoch und warf ihn sich mit fast spielerischer Leichtigkeit über die Schulter. Gefolgt von dem Schwarzgekleideten und zwei weiteren Kriegern trug sie ihn zu dem Pfahl, an dem sie angebunden gewesen war und band ihn daran fest.
„So, O-Shahirrim, nun wirst du sehen, wie es sich anfühlt, an dem Sakkara-Ritual teilzunehmen."
Sie dehnte ihre Schultern, streckte sich wie eine Sandkatze und wandte sich dann zum Gehen.
„Es wird schmerzen, wenn deine Arme wieder erwachen. Schrei nicht zu laut, sonst lockst du die Hunde an."
Mit diesen Worten verliess sie ihn, gefolgt von den beiden Kriegern.
Nur der Magere blieb bei ihm zurück. Er musterte Tárion von Kopf bis Fuss und schien etwas zu berechnen. Schliesslich sah er Tárion mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an.
„Du bist Krieger. Es wird lange dauern. Sakkara kein Problem für dich, aber dies ist nicht Sakkara. Du wirst sterben, Tarionvonfenring."
Auch er verliess den jungen Fürstensohn, der nun alleine an den Pfahl gefesselt stand und verzweifelt versuchte, seinen zitternden Körper und das Rasen seines Herzens zu ignorieren und über einen vernünftigen Fluchtplan nachzudenken.
