A/N: Das reale Leben hat mich im Moment fest im Griff, so dass ich nicht allzu regelmässig dazu komme, neue Kapitel hochzuladen. Ich bemühe mich aber, die Pausen nicht allzu lang werden zu lassen. Danke für die Reviews - sie motivieren mich dazu, mir doch immer wieder ein bisschen Zeit zum Schreiben zu nehmen.

Das blaue Mädchen

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Tiruial und Mora sich endlich auf den Weg zum Lager der Ostwindemachen konnten. Man hatte viel zu lange beratschlagt, und schliesslich hatte Marek ausgesprochen, was Tiruial schon die ganze Zeit gedacht hatte: Hätte er nur beobachten wollen, so wäre Tárion schon längst zurück. Dass er nicht da war, liess nur zwei Möglichkeiten offen. Entweder er hatte alleine einen Befreiungsversuch gewagt und war nun mit dem Mädchen irgendwo versteckt oder auf dem Weg zu ihnen, oder, und davor graute ihnen allen, er war bei dem Befreiungsversuch gefangen genommen worden.

Bewusst hatte niemand gesagt, dass Tárion ebenso gut schon tot sein konnte, aber Arayms Gesichtsausdruck hatte Tiruial die Gedanken des Gardisten verraten. Die Südwinde liessen niemanden am Leben, der sich in die Berge wagte. Warum sollten es die Ostwinde anders halten?

Gegen Mittag war dann alles entschieden, und Tiruial und Mora hatten die anderen verlassen, nachdem Tiruial noch einmal zu seinem Hengst hinübergegangen war, und ihm etwas zugeflüstert hatte. Das Pferd würde ihnen in einigem Abstand folgen, falls eine überstürzte Flucht vonnöten war. Sie waren schweigend zur Hochebene aufgestiegen und näherten sich nun dem Quellteich. Der junge Soldat war nur flüchtig darüber unterrichtet worden, was zu tun war, aber er hatte zumindest verstanden, dass Heimlichkeit von Nöten war. Seit sie sich auf den Weg gemacht hatten, warf er Tiruial neugierige Blicke zu, hatte aber bisher noch nicht gewagt, auch nur ein Wort zu sagen.

„Nun, Mora, wir kommen gleich zum Quellteich. Ich werde voraus schleichen und nachsehen, ob jemand dort ist."

Der junge Soldat nickte und glitt lautlos hinter einen Felsen, wo er sich niederkauerte und mit der Umgebung fast vollständig verschmolz. Der Junge war gut, wie Tiruial zufrieden feststellte. Auch er selber verschwand nun zwischen Felsen und Gestrüpp und arbeitete sich lautlos auf die Quelle zu.

Um den Teich schien sich nichts verändert zu haben, seit er mit Tárion hier gewesen war. Tiruial konnte keine zusätzlichen Spuren ausmachen und schon gar keine Menschen. Trotzdem störte ihn irgendetwas, und er liess seinen Blick wieder und wieder über die Umgebung schweifen.

„Sie suchen die Gegend ab! Sie kommen von dort hinten auf uns zu. Ich musste verschwinden!" zischte Mora urplötzlich neben ihm.

Tiruial schrak zusammen. Er hatte sich so auf die Aussicht konzentriert, dass er nicht wahrgenommen hatte, wie Mora sich von hinten genähert hatte. Das durfte einem Elben nicht passieren! Sich über sich selber ärgernd wandte er sich an den jungen Soldaten.

„Wieviele? Wo sind sie genau?"

Mora fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.

„Ich habe sie nur gehört, nicht gesehen. Es sind viele, wohl mehr als zwanzig, und sie geben sich nicht die geringste Mühe zu schleichen. Sie bewegen sich alle zusammen auf die Felswand zu, dorthin, wo der Pfad in die Tiefe führt."

„Sie wissen offensichtlich, dass wir hier sind. Sie müssen Tárion gefangen genommen haben und suchen nun die anderen."

„Oder sie suchen Tárion, der ihnen entwischt ist", flüsterte Mora hoffnungsvoll.

„Nein. In dem Fall würden sie sich verteilen und versuchen, ihn einzukreisen. Nein, ich fürchte, Tárion ist in ihrer Gewalt. Er muss ihnen gesagt haben, wo wir sind und wieviele." Tiruial sagte nichts davon, dass der Fürstensohn ebenso gut schon tot sein konnte.

Mora schüttelte energisch den Kopf.

„Er würde uns nicht verraten!"

Ein mitleidiges Lächeln umspielte Tiruials Lippen. Der Junge hatte noch viel über diese Welt zu lernen.

„Es gibt Mittel und Wege jemanden zum Reden zu bringen. Tárion ist zäh, und ich glaube nicht, dass er unter der Folter so schnell nachgeben würde. Aber es gibt andere Möglichkeiten, die Wahrheit aus dir herauszulocken, so sehr du sie auch verschweigen möchtest."

„Und was tun wir jetzt?"

Tiruial seufzte.

„Du gehst zurück zum Lager. Beweg dich so leise und unauffällig wie du kannst, versuche unentdeckt zu bleiben. Warne die anderen. Ihr müsst so schnell wie möglich aufbrechen. Kümmert euch nicht um Heimlichkeit, sondern nur um Geschwindigkeit. Ich habe im Lager der Ostwinde keine Reittiere gesehen – zu Fuss werden sie uns nicht einholen können, wenn wir unsere Tiere lange genug hetzen."

Mora nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und sah Tiruial dann ängstlich an.

„Und was ist mit Euch, Herr?"

„Mein Pferd wird am Rand der Ebene auf mich warten. Ich werde mir das Lager ansehen und versuchen herauszufinden, wo Tárion gefangen gehalten wird. Jetzt wo die Krieger uns suchen, ist das Lager vielleicht nicht so stark bewacht und ich kann ihn befreien. Geh jetzt, warte nicht länger!"

Mora nickte, salutierte halbherzig vor ihm und verschwand dann zwischen den Felsen. Tiruial seufzte. Der Junge war wirklich gut, und er hoffte, dass es ihm gelingen würde, die anderen rechtzeitig zu warnen. Falls sie das hier überstanden, wollte er mit Mora reden. Wenn der Soldat daran interessiert war, würde er ihn in der elbischen Kampfkunst unterrichten. Mit seinen sparsamen, lautlosen Bewegungen war Mora ein viel versprechender Schüler.

Als er den Jungen nicht mehr sah, machte Tiruial sich selber auf den Weg. Wenn er Tárion richtig einschätzte, so hatte sich dieser zurück auf den Hügel geschlichen, nachdem er Tiruial verlassen hatte. Es war also möglich, dass man ihn dort entdeckt hatte. In diesem Fall würde man wohl jetzt den Hügel besonders im Auge behalten.

Nun gut, es gab andere Mittel und Wege, sich an ein bewachtes Lager anzuschleichen.

Tiruial umging den Hügel auf der dem Lager abgewandten Seite. Es war nicht besonders schwierig, da es auch hier ziemlich viele Sträucher und kleine Felsen gab. Der Elb verschmolz förmlich mit seiner Umgebung, als er sich langsam dem Lager näherte. Eine Gruppe von fünf Kriegern machte sich gerade auf den Weg zum Teich. Sie trugen kleine Fässer mit sich, und Tiruial begriff, dass sie Wasser holten. Ein weiteres Dutzend Männer war damit beschäftigt, die Zelte abzubrechen. Es sah so aus, als ob die Ostwinde bald weiterziehen wollten, aber Tiruial sah den Grund dafür nicht ganz ein. Wenn sie Tárion gefangen hatten, mussten die Ostwinde wissen, dass er nicht alleine unterwegs war, und sie konnten auch annehmen, dass er und seine Begleiter beritten waren. Es war also nahe liegend, dass sie versuchen würden, die kleine Reisegesellschaft zu überfallen, bevor sie mit ihren Reittieren die Ebene erreicht hatten.

Hoffentlich kam Mora rechtzeitig, um die anderen zu warnen!

Tárion konnte der Elb von seinem Platz aus nicht sehen. Der Pfosten, an dem am Morgen die Frau gestanden hatte, war von den Zelten verdeckt, und Tiruial konnte nicht erkennen, ob sie dort noch immer gefesselt war, oder ob Tárion ihren Platz eingenommen hatte.

Plötzlich hörte Tiruial hinter sich ein leises Geräusch. Lautlos wandte er sich um und huschte zur Seite, um einen grossen Felsblock zwischen sich und das Lager zu bringen.

Noch im Laufen zog er seinen Dolch und wappntete sich für einen Angriff. Dann entdeckte er, was er gehört hatte. Ein riesiger Hund schlich langsam auf ihn zu. Er verhielt sich nicht wie ein Hund, sondern vielmehr wie eine grosse Raubkatze, die sich so nahe wie möglich an ihr Opfer heranpirscht, bevor sie angreift. Als das Tier sich entdeckt sah, sprang es auf, und ein tiefer grollender Laut drang aus seiner Kehle. Es hob die Lefzen und Tiruial bemerkte die messerscharfen Fangzähne des Hundes. Bevor er irgendwie reagieren konnte, verstummte das Knurren, und der Hund bellte ein paar Mal kurz hintereinander, bevor er sich mit einem mächtigen Satz auf Tiruial stürzte.

Der Elb hatte den Angriff nicht so plötzlich erwartet, und er wurde von der Wucht des Tieres umgerissen. Doch immer noch hielt er den Dolch in seinen Händen, und blitzartig schnitt er dem Hund die Kehle durch. Der gewaltige Körper brach über ihm zusammen und presste Tiruial die Luft aus den Lungen. Ein Strom von heissem Blut ergoss sich über sein Gesicht und seinen Oberkörper, floss in seine Augen und nahm ihm die Sicht, füllte seine Nase und seinen Mund und drohte ihn zu ersticken.

Der metallische Geruch von Blut breitete sich aus, und Tiruial hustete und spuckte, während er verzweifelt versuchte, den Hund von sich herunter zu stemmen.

„Lle rebben kar tron!"

Die hastigen Schritte von mehreren Personen näherten sich, und Tiruial konnte neben aufgeregten Stimmen auch die tappenden Pfoten von weiteren Hunden ausmachen. Mit einem letzten heftigen Ruck zog er sich unter dem toten Hund hervor und sprang auf. Es hatte keinen Sinn mehr, sich verborgen zu halten, denn das Tier hatte mit seinem Bellen verraten, wo er sich befand.

Tiruial wischte sich mit einem feuchten Ärmel das Blut aus den Augen und blickte blinzelnd zum Lager der Ostwinde. Vier Männer rannten auf ihn zu, gefolgt von drei weiteren dieser Riesenhunde. Als sie Tiruial erblickten, hielten sie inne, bedeckten ihre Augen mit den Händen und warfen mit ruckartigen Bewegungen den Kopf in den Nacken.

„Rra senri kar shahirrim!"

Tárion hatte diese seltsame Geste nicht ausnutzen können, Tiruial dagegen schon. Blitzartig umrundete er den Felsen und hetzte den Hügel hinauf. Noch im Laufen stiess er einen schrillen Pfiff aus, der weithin über die Ebene hallte. Oben angelangt raste er wieder hinunter zum Teich, wo die fünf Männer mit den Fässern gerade dabei waren, Wasser zu schöpfen. Tiruial rannte zwischen ihnen hindurch, wobei es ihm gelang zwei der Männer in den Teich zu stossen. Trotzdem war ihm bewusst, dass er sich in einer äusserst brenzligen Lage befand.

Sein Atem kam nur noch keuchend und brannte wie Feuer in seinen Lungen. Normalerweise hätte ihn eine solche Flucht nicht sehr angestrengt, aber einmal mehr hatte der Elb nun unter den Auswirkungen von Arayms Giftpfeil und der anschliessenden Behandlung zu leiden. Lange konnte er nicht mehr durchhalten.

Doch gerade als Tiruial das Gefühl hatte, keinen weiteren Schritt mehr rennen zu können, tauchte Tilion vor ihm auf, der seinen Pfiff gehört hatte und sich in schnellem Galopp näherte. Blitzschnell zog sich der Elb auf den Rücken des Pferdes und das Tier preschte los.

Tiruial wollte nicht zu den anderen zurück, sondern ein wenig für Ablenkung sorgen, und so raste er erneut an den Kriegern am Teich vorbei und preschte auf das Lager zu. Im Stillen beglückwünschte er sich dafür, dass er daran gedacht hatte, seinem Pferd zu befehlen, ihm und Mora zu folgen.

Sie rasten auf das Lager zu und an Tilions Hals vorbei sah Tiruial die Zelte und nun auch etwas abseits den Pfahl, an den am Morgen das junge Mädchen gefesselt gewesen war. Es überraschte ihn nicht wirklich, dass er nun Tárion an dessen Stelle dort stehen sah.

Während er den Schimmel auf den Gefangenen zutrieb, machte er sich bereit, die Fesseln durchzuschneiden und den jungen Mann zu sich aufs Pferd zu ziehen. Den Dolch in der Hand galoppierte er auf Tárion zu. Dieser wandte ihm den Kopf zu, und Tiruial sah schon aus einiger Entfernung, dass seine Augen seltsam starr und seine Pupillen unnatürlich geweitet waren. Tárion schien ihn nicht wahrzunehmen, denn er starrte stur neben seinem Kopf vorbei in Richtung des Lagers. Offenbar hatte man ihm etwas gegeben, das seine Wahrnehmung trübte.

Doch Tárion hatte den Elben sehr wohl erkannt, wie Tiruial gleich darauf feststellte, als der junge Mann an seinen Fesseln zu zerren begann.

„Tiruial, pass auf! Hinter dir! Flieh! Achte nicht auf mich, geh!"

Tárions Stimme klang wie immer, und ihm schien ganz und gar bewusst zu sein, was um ihn herum geschah. Wären seine seltsam glasigen Augen nicht gewesen, Tiruial hätte seinen Zustand für völlig normal gehalten.

Der Elb warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter zum Lager und fluchte leise. Darum also waren diese Hunde so riesig! Ein ganzes Rudel der Tiere hetzte auf ihn zu, und auf einigen davon konnte Tiruial Reiter ausmachen. Trotzdem hielt er weiter auf Tárion zu. Er hatte den Pfahl beinahe erreicht, als ihm jemand den Weg vertrat. Tilion scheute und Tiruial konnte sich gerade noch knapp auf dem Pferderücken halten.

Vor ihm stand das Mädchen mit den blauen Haaren, und sie hielt eine gespannte Armbrust auf ihn gerichtet.

„Du kannst ihn nicht befreien, du kennst Sakkara nicht. Er würde sterben ehe ihr den Rand der Ebene erreicht."

Das Mädchen war ausser Atem, als ob sie gerannt wäre, aber ihre Hand zitterte nicht, während sie zwischen Tiruial und Tárion stand und auf den Elben zielte.

„Flieh, Tiruial! Du kannst es schaffen! Achte nicht auf mich und flieh!"

Tárion klang verzweifelt, und Tiruial brach es das Herz, ihn zurücklassen zu müssen. Doch er wusste, dass der junge Mann Recht hatte.

Die Hunde kamen immer näher, und mit zwei Reitern belastet würde Tilion Mühe haben, ihnen zu entkommen. Das Mädchen erwartete, dass er zu Tárion wollte – er konnte sie vielleicht überrumpeln, wenn er in eine andere Richtung floh. Und schliesslich war da das Mittel, das man Tárion offensichtlich verabreicht hatte. Tiruial hatte keine Ahnung, was 'Sakkara' war, aber er vermutete, dass es etwas mit Tárions geweiteten Pupillen zu tun hatte. Wenn sie ihm ein Gift gegeben hatten, konnte er ihm nicht helfen. Nicht hier in diesen Bergen, wo ihm die meisten Pflanzen fremd waren.

Wortlos riss Tiruial sein sein Pferd herum und jagte es hinaus in die Ebene. Er hätte Tárion gerne etwas Tröstliches zugerufen, aber es fiel ihm nichts ein, was nicht eine Lüge gewesen wäre. Tárion wusste so gut wie er, dass es keine Hoffnung mehr gab, ihn zu befreien, wenn sie nicht alle in Gefangenschaft geraten wollten.

Das Mädchen mit den blauen Haaren war über den Richtungswechsel Tilions tatsächlich so überrascht, dass sie erst nach einem kurzen Zögern schoss. Der Bolzen zischte haarscharf an Tiruials Kopf vorbei, und der Elb war erleichtert, dass es bei einer Armbrust recht lange dauerte, sie nachzuladen. Beim zweiten Schuss war er schon so weit von der Schützin entfernt, dass es nicht mehr erstaunlich war, dass sie ihn verfehlte.

Tilion war ausgeruht und kräftig, und der Abstand zu den Hunden vergrösserte sich nach und nach. Tiruial fühlte Trauer in seinem Herzen, aber er wusste, dass er nichts für Anaryas Bruder hätte tun können. Der Verlust schmerzte, aber das Leben der anderen war ungleich wichtiger. Er kannte als einziger den Weg ins Tal, und wenn er nicht zu ihnen zurückkehrte, waren sie so gut wie verloren. Tárion war nicht mehr zu retten, aber Anarya, Araym und die anderen waren hoffentlich noch frei, und um sie musste er sich nun kümmern.

---

Tárion hatte Tiruial auf sich zu galoppieren sehen, aber in dem Moment, als die Hunde aus dem Lager stürmten, hatte er auch begriffen, dass jeder Befreiungsversuch zum Scheitern verurteilt war. Mit zwei Reitern belastet wäre dem Pferd wohl kaum die Flucht vor den Hunden gelungen, und statt einem hätten die Ostwinde dann zwei Gefangene gehabt. Nein, Tiruial musste zu Anarya und den anderen zurückkehren, und ihnen dabei helfen, den Kriegern zu entkommen. Und so hatte er dem Elben zugerufen zu fliehen und ihn zurückzulassen, auch wenn er wusste, dass er damit seine letzte Hoffnung auf Freiheit zunichte machte.

Tárion war erleichtert gewesen, als Tiruial tatsächlich die Flucht ergriffen hatte, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Der Elb hatte kein Wort mehr zu ihm gesagt, aber Tárion wusste auch so, dass er nicht zurückkehren würde. Er würde zu Anarya reiten und sich ihrer auf der gefährlichen Reise in den Westen annehmen. Es schmerzte Tárion, dass er seine Schwester wohl nie mehr wiedersehen würde, aber zumindest wusste er, dass der Elb für sie sorgen und sie vor allen Gefahren beschützen würde, die ihnen auf dieser Reise noch drohten. Gerne hätte auch Tárion die Länder im Westen kennengelernt, aber nun war er dazu verdammt, hier zu sterben, ohne weiter als das Gondramgebirge gekommen zu sein. Der Gedanke schmerzte, und Tárion fühlte, wie die Angst in seine Glieder kroch.

„Sie werden ihn nie einholen."

Das blauhaarige Mädchen stand vor ihm und Tárion sah, dass sie einen Krug in der Hand hielt. Sie sah so erschöpft aus, als könne sie sich kaum noch auf den Beinen halten, und Tiruial fragte sich einmal mehr, weshalb sie an den Pfahl gefesselt gewesen war, und was sie alles erlebt hatte, dass sie jetzt am Ende ihrer Kräfte zu sein schien.

Erst nach und nach sickerte die Erkenntnis durch, was sie ihm soeben gesagt hatte.

„Sie werden ihn nicht einholen? Warum sagst du mir das?"

Sie zuckte mit den Schultern.

„Er scheint ein Freund von dir zu sein. Freut es dich nicht, dass ihm die Flucht gelang?"

„Doch, schon, aber ich verstehe nicht..."

„Mein Name ist Mara. Du bist wegen mir hier, deshalb erkläre ich dir Sakkara."

Sie stellte den Krug vor ihm auf den Boden und zog dann eine kleine, rote Frucht aus ihrer Gürteltasche. Sie zeigte sie ihm auf der offenen Handfläche und ritzte sie dann mit dem Daumennagel ein. Geschickt brach sie die Frucht in zwei Häften und klaubte einen hellen Kern heraus, der in der Mitte gespalten war.

„Dies ist die Frucht des Karassan-Strauches. Beim Sakkara isst man einen Kern und wird dann an den Pfahl gefesselt. Im Krug ist der Saft der Frucht. Er hebt die Wirkung des Kerns auf. Löse die Fesseln und trink daraus, dann hast du bestanden."

Tárion sah sie verwirrt an.

„Die Wirkung des Kerns? Und wie soll ich die Fesseln lösen – wenn ich das könnte, würde ich schon lange nicht mehr hier stehen!"

„Du wirst sehen. Bestehst du Sakkara, kannst du dich vielleicht befreien, wenn nicht, wirst du sterben, wie alle, die versagt haben. Das ist alles, was ich für dich tun kann."

Sie machte Anstalten zu gehen, aber Tárion rief sie zurück. Er hatte noch viele Fragen, aber er wusste, dass sie längst nicht alle beantworten würde. Eines jedoch wollte er wissen, bevor sie ihn an diesem Pfahl zurückliess.

„Warum hilfst du mir? Und wie kommt es, dass du meine Sprache so viel besser sprichst als die anderen?"

Mara drehte sich um und trat wieder auf ihn zu. Es war schwierig in ihrem Gesicht zu lesen, was sie dachte, aber Tárion glaubte eine Spur von Mitgefühl zu erkennen.

„Du wolltest mir helfen, obschon es weder nötig noch sinnvoll war.

Nun tue ich dasselbe für dich. Und was das andere betrifft, so stamme ich aus Amarond, aus Schönblick, um genau zu sein."

Tárion staunte, aber er liess es sich nicht anmerken. Schönblick war der Nachbarort von Windholm, und mit etwas Glück kannte Mara sogar den Fürsten von Fenring, da Schönblick auch zu seinem Fürstentum gehörte. Vielleicht konnte er ja das Mädchen überzeugen, ihn loszubinden.

Mara schien seine Gedanken lesen zu können, denn sie schüttelte mit einem feinen Lächeln den Kopf.

„Oh nein, Fürstensohn. Ich werde dich nicht losbinden. Ich bin keine Amaronderin mehr, und ich habe auch nichts mehr mit dem Fürstentum deines Vaters zu tun. Es gibt für mich keine Verpflichtungen dir gegenüber ausser der, dass du wegen mir hier bist. Ich habe schon jetzt mehr getan, als ich dürfte, ich werde bestimmt nicht mehr für dich wagen."

Mit diesen Worten wandte sich Mara endgültig ab und ging zurück zum Lager. Tárion zerrte an seinen Fesseln herum, aber er sah nicht die geringste Möglichkeit, wie er sich davon sollte befreien können. Es waren dicke Lederbänder, die so fest verknotet waren, dass er die Knoten wohl nicht einmal hätte lösen können, wenn er sie hätte sehen können. Hinter seinem Rücken und mit gefesselten Händen war es unmöglich. Gegen seinen Willen musste Tárion daran denken, wie sie Araym am Anfang gefesselt hatten: Mit Knoten, die jeder ausser Araym problemlos lösen konnte. Nun bekam er eine vage Ahnung davon, wie Araym sich gefühlt haben musste. Offenbar gab es einen einfachen Weg, sich von den Fesseln zu befreien, aber da er ihn nicht kannte, war er den Ostwinden hilflos ausgeliefert.