Über die Ebene

Sie ritten seit Stunden über die Ebene ohne sich oder ihren Reittieren eine Rast zu gönnen. Kurz nachdem Mora aufgeregt Bericht erstattet hatte, waren sie aufgebrochen.

Von weitem hatten sie zwei Gruppen von Ostwinden gesehen, die sich ihnen von Norden und Süden her näherten. Laut Mora lag das Lager im Westen, so dass sie eingekreist waren. Doch die Ostwinde waren zu Fuss, und so war es ihnen recht leicht gefallen, die nördliche Gruppe zu umgehen. Es gab jedoch keine Spur von Tiruial, und auch Tilion war nirgends zu sehen.

Sie ritten stur nordwärts, da in dieser Richtung ein Ende der Hochebene abzusehen war. Die Bergkette westlich der Ebene rückte dort immer näher an die Gipfel des Gondramgebirges im Osten. Mit etwas Glück konnten sie in zwei oder drei Tagen diese Berge erreichen und dort einen Weg ins westliche Tal suchen. Jedenfalls nahm Anarya an, dass dies Mareks Überlegungen waren, denn er war es, der die Gruppe anführte, und bisher hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, ihren weiteren Weg zu besprechen. Seit sie aufgebrochen waren, war kein Wort gesprochen worden, ausser einigen gerufenen Warnungen wegen Löchern und Unebenheiten im Boden, die die Reittiere zum Stolpern brachten.

Anarya suchte immer wieder die Ebene hinter ihnen nach Verfolgern ab. Schon lange waren keine Ostwinde mehr zu sehen, aber leider gab es auch keine Spur von einem weissen Pferd, wie sie es sehnlichst erhoffte. Bis an den Horizont gab es nur dürres Gras und vereinzelte Felsen, die so verstreut über die Ebene lagen, als hätte ein Riese mit Murmeln gespielt.

Als sie endlich innehielten und ein notdürftiges Lager aufschlugen, war die Sonne längst untergegangen. Marek, Anarya und Araym setzten sich zusammen, um ihr weiteres Vorgehen zu planen. Auch Mora gesellte sich auf Mareks Aufforderung hin zu ihnen, um noch einmal in allen Einzelheiten zu berichten, was er beobachtet hatte, und was genau Tiruial ihm gesagt hatte.

Hier auf der Ebene gab es keinerlei Deckung, und sie hätten ebenso gut eine Meile früher oder später anhalten können, es hätte von der Umgebung her keinen Unterschied gemacht. Es gab kein Wasser, und das Gras war dürr und knisterte unter ihnen, als sie sich setzten. Es stand ausser Frage ein Feuer zu entzünden, da dieses weithin zu sehen gewesen wäre, und so sassen sie im schwachen Schein des Halbmondes nebeneinander und hüllten sich fest in Mäntel und Decken, um der Kälte der Nacht zu trotzen. Erst jetzt, wo sie viele Meilen vom Lager der Ostwinde entfernt waren, schien ihnen bewusst zu werden, was sie verloren hatten. Bisher war all ihr Denken auf die Flucht ausgerichtet gewesen, aber nun drang mit unbarmherziger Härte in ihr Bewusstsein, dass zwei ihrer Gefährten fehlten, und sie sie wohl nicht wiedersehen würden.

Araym der Gardist, der in seinem Leben schon viele Menschen hatte sterben sehen, war der Verlust schon seit ihrem überstürzten Aufbruch bewusst. Nun beobachtete er, wie die Erkenntnis auch in die Gedanken der anderen sickerte. Auf Anaryas Wangen glitzerten im Mondlicht lautlos geweinte Tränen. Dachte sie an ihren Bruder, der für sie dagewesen war, so lange sie sich erinnern konnte, und den sie nun nie mehr sehen würde? Oder weinte sie um den Elben, der mit seinem Auftauchen schon zweimal ihr Leben verändert hatte? Araym seufzte leise.

Tiruial war ihm immer etwas unheimlich gewesen, erst recht nach dem Ereignis vor Messers Schneide. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, dass jemand sein Innerstes kannte – Dinge von ihm wusste, die er sich selber nicht eingestehen wollte. Und Tárion?

Tárion hatte ihn von Anfang an nicht leiden können, und er hatte auch keine Gelegenheit ausgelassen, ihm dies zu zeigen. Und doch tat es Araym leid um den jungen Mann. Er hatte mit Herz und Seele seinem Land gedient und war ein vielversprechender Soldat gewesen. Hätten er und Araym nicht auf verschiedenen Seiten gekämpft, sie hätten Freunde werden können.

Marek sass mit steinernem Gesicht neben Anarya. Er hatte zum Trost seinen Arm um die Schultern des Mädchens gelegt, dabei sah er aus, als ob er selber Trost brauchen würde. Bisher war er Tárion gefolgt, und nun ruhte die Last der Verantwortung wie ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern.

Mora fühlte sich hier eindeutig nicht wohl. Die anderen Soldaten sassen beieinander und liessen mehr oder weniger heimlich eine Flasche kreisen, die bestimmt kein Wasser enthielt. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen miteinander, aber trotzdem schien bei ihnen die Stimmung nicht halb so gedrückt zu sein wie hier. Mora warf immer wieder sehnsüchtige Blicke zu den anderen Soldaten und rutschte unruhig hin und her. Vielleicht plagten ihn auch Schuldgefühle, dass er Tiruial alleingelassen hatte.

Araym wusste, dass den jungen Soldaten keine Schuld traf. Seine Befehle waren klar und deutlich gewesen, und er hatte sie genau befolgt. Wäre er bei Tiruial geblieben, so würden sie nun drei Leute betrauern, sofern sie selber noch am Leben wären. Ohne Moras Warnung hätten sie sich wohl von den Ostwinden überraschen lassen, und es wäre nicht ohne Kampf abgegangen.

Lange Zeit sassen sie schweigend da, und niemand schien den Anfang machen zu wollen. Schliesslich ergriff Araym das Wort, weil er das Gefühl hatte, das Schweigen keinen Augenblick länger auszuhalten.

„Wir müssen noch heute Nacht weiter reiten. Der Mond scheint hell genug, dass wir unseren Weg erkennen, aber wir werden trotzdem sicherer sein als im hellen Tageslicht, wenn wir uns wieder südwärts halten."

Marek schnaubte halb ärgerlich, halb hilflos.

„Wir können nicht zurück reiten. Der Weg in den Süden ist uns verwehrt. Die Ostwinde werden uns erwarten, wenn wir zurückkommen, und höchstwahrscheinlich sind Tárion und der Elb sowieso nicht mehr am Leben."

Den bitteren Worten folgte ein leises Aufschluchzen von Anarya. Marek zog das Mädchen etwas näher an sich heran und schlug seinen Mantel auch um sie, aber er sagte kein Wort. Araym atmete tief durch bevor er seinen Vorschlag machte.

„Ich sprach nicht vom Zurückreiten. Es ist mir bewusst, dass dies ausser Frage steht. Wir können aber auch nicht weiter in den Norden vordringen, da wir sonst in das Gebiet der Nordwinde geraten. Das wäre ohne Zweifel unser Tod! Wir müssen uns also in einem weiten Bogen südwestlich halten und den Pass ansteuern, von dem der Elb gesprochen hat. Wenn wir weit genug ausholen, können wir die Ostwinde umgehen."

„Nein, das halte ich für keine gute Idee. Die Ebene bietet kaum Schutz vor wachsamen Blicken. Selbst wenn wir uns weit westlich halten, werden die Ostwinde uns früher oder später entdecken. Man wird versuchen, uns den Weg abzuschneiden."

Araym liess Marek nicht ausreden, sondern unterbrach ihn ruhig aber bestimmt.

„Sie sind zu Fuss, aber wir haben Kamele. Sie können versuchen, uns aufzuhalten, aber selbst wenn sie uns entdecken, werden sie nicht schnell genug sein, um vor uns an dem Pass zu sein."

Plötzlich hob Ariën, die abseits der Kamele am dürren Gras herumknabberte den Kopf und wieherte leise, den Kopf hocherhoben und die Ohren gespitzt. Dann drehte sie sich einmal aufgeregt im Kreis und trabte ein paar Schritte von ihnen weg, bevor sie innehielt, lauschte und erneut wieherte.

„Ariën, man lastach?", rief Anarya leise, aber die Stute beachtete sie nicht.

Das Pferd tänzelte nervös hin und her, trabte immer wieder ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen waren und gab leise, aufgeregte Laute von sich. Und als die Stute einen Moment lang schwieg, war aus der Entfernung ein Wiehern zu hören. Die Leute am Lagerfeuer wechselten rasche Blicke. Konnte es möglich sein, dass Tilion sich näherte? Kehrten Tiruial und Tárion zu ihnen zurück?

Hoffnung keimte auf, aber trotzdem blieb man wachsam. Mareks Hand glitt zu seinem Schwert, das er neben sich gelegt hatte, und Araym streifte mit den Zähnen seine Ärmel zurück, damit sie ihn auf keinen Fall behinderten, wenn er die Klingen aus seinen Armschienen fahren liess. Der wachhabende Soldat kam zu Marek und beugte sich zu ihm herunter. Araym konnte nicht verstehen, was er ihm sagte, aber Marek entspannte sich, nickte dem Soldaten zu und erhob sich dann langsam. Aufmerksam liess er seinen Blick über die Ebene schweifen, und Araym konnte im Mondlicht erkennen, dass sich ein Leuchten über das Gesicht des alten Soldaten legte. Was immer er sah, es schien nicht Übles zu sein.

Auch Anarya erhob sich, und Araym folgte ihrem Beispiel. Weit im Süden konnte er einen hell schimmernden Fleck ausmachen, der sich auf sie zu bewegte.

„Tiruial... Er ist allein."

Anaryas Stimme war leise, und Araym konnte die Enttäuschung hören, die darin mitschwang. Es war dem Elben also nicht gelungen, ihren Bruder zu retten.

Einmal mehr staunte Araym über Anaryas ausgesprochen scharfe Augen. Auch wenn Tiruial sie noch zu übertreffen schien, sah sie Dinge, die eigentlich viel zu weit entfernt waren, um sie deutlich erkennen zu können. So war es auch jetzt für ihn noch unmöglich festzustellen, wer sich in diesem Moment dem Lager näherte. Er konnte zwar erahnen, dass es sich bei dem näherkommenden Schemen um das weisse Pferd des Elben handelte, aber noch konnte er nicht einmal ansatzweise einen Reiter erkennen.

Auf dieser kargen Ebene war es schwierig, Entfernungen abzuschätzen, und so war es schwierig zu bestimmen, wann Tiruial das Lager erreichen würde. Man hatte sich wieder hingesetzt, um seine Ankunft abzuwarten, und nur Anarya blieb stehen, um nach dem Reiter Ausschau zu halten. Es verging aber noch eine geraume Zeit, bevor er endlich bei ihnen angelangt war. Als er Tilion anhielt und sich von seinem Rücken gleiten liess, erkannte auch Araym den Elben, von dem ein schwaches Schimmern auszugehen schien, so als ob das Mondlicht sich wie ein Mantel um seine Schultern gelegt hätte.

Tiruial sah aus, als ob er sich kaum noch auf den Beinen halten könne. Der lange Ritt schien ihn völlig ausgelaugt zu haben, und er sah wieder beinahe so krank aus, wie in den ersten Tagen nach seiner Verwundung. Auch Tilion war erschöpft, und sein weisses Fell, das im Mondlicht schimmerte wie die blasse Haut des Elben, war schaumbedeckt. Anarya stürmte zu dem Elben hin und nahm ihm das Tuch aus der Hand, mit dem er über den feuchten Pferderücken fahren wollte.

„Geh und setz dich hin. Ich kümmere mich um Tilion."

Tiruial wollte widersprechen, aber ihm fehlte die Kraft dazu, und so wehrte er sich nicht, als Marek neben ihn trat, ihn resolut an der Schulter packte und dorthin führte, wo Araym und Mora sassen. Mit sanfter Gewalt zwang er den Elben sich zu setzen und drückte ihm dann einen Schlauch mit Wasser in die Hand. Tiruial nickte ihm dankbar zu und trank ein paar Schlucke, bevor er das Gefäss wieder verschloss und dem alten Soldaten reichte. Marek bemerkte, dass die Hände des Elben leicht zitterten. Er machte sich Sorgen um Tiruial, aber mehr noch um Tárion. So erschöpft der Elb auch sein mochte, er musste ihnen unbedingt sagen, was mit dem Fürstensohn geschehen war.

Als könnte er Mareks Gedanken lesen, begann Tiruial mit heiserer Stimme zu berichten.

Er erzählte von seinem missglückten Befreiungsversuch und den Worten des Mädchens mit den blauen Haaren. Marek warf einen fragenden Blick zu Araym, als Tiruial das Sakkara-Ritual erwähnte, doch der ehemalige Gardist schüttelte nur den Kopf. Er hatte die Ostwinde einige Male gesehen, aber nie mit ihnen gesprochen.

Von den Bräuchen dieser Krieger wusste er nichts. Auch Anarya hatte sich inzwischen zu der Gruppe gesellt, nachdem sie sich ausgiebig um Tilion gekümmert hatte. Auch wenn sie den Anfang des Gesprächs nur aus einiger Entfernung mitbekommen hatte, hatte sie verstanden, dass Tiruial ihrem Bruder nicht hatte helfen können.

Tiruial spürte die Verzweiflung der jungen Frau, aber es gab nichts, womit er Anarya hätte trösten können.

„Zumindest lebte er noch, als ich ihn verliess. Solange er lebt, besteht Hoffnung, dass er freikommt. Vielleicht schafft er es trotz allem, nach Amarond zurückzukehren", sagte er leise, aber sein Gesichtsausdruck strafte seiner Worte Lügen.

Anarya wusste so gut wie alle anderen, dass Tárion alleine niemals nach Amarond zurückkehren konnte. Selbst wenn ihm die Flucht gelang, was höchst unwahrscheinlich war, würde er niemals an der Festung der Südwinde vorbeikommen, geschweige denn den Weg durch das Felslabyrinth finden. Trotzdem zwang sie ein dankbares Lächeln auf ihre Lippen, als sie Tiruials Blick begegnete. Der Elb hatte für Tárion sein Leben gewagt, und es war nicht seine Schuld, dass es ihm nicht gelungen war ihn zu retten.

„Wir können nicht lange rasten. Die Ostwinde sind mit ihren Hunden nicht so schnell wie wir, aber sie werden nicht so rasch aufgeben. Hier auf der Ebene kann man uns weithin sehen, vor allem wegen des Staubes, den wir aufwirbeln. Wir müssen so schnell wie möglich die Berge erreichen."

Araym nickte dem Elben bestätigend zu.

„Ja, wir müssen zurück zu dem Pass im Südwesten, den wir überqueren wollten. Je schneller wir dort sind, desto besser."

„Nein, ich schlage vor, dass wir nordwärts reiten. Es sieht so aus, als ob man die westlichen Berge auch dort überqueren könnte. Wenn die Ostwinde auf Hunden reiten, können sie uns den Weg abschneiden, wenn wir uns südwärts halten", meinte Marek, wobei er Tiruial fragend anblickte.

Der Elb seufzte leise. Nun lag es offenbar an ihm, eine Entscheidung zu treffen.

„Wenn wir zurückreiten, können wir in zwei Tagen den Pass erreichen – vorausgesetzt, dass wir nur wenige und kurze Pausen machen.

Allerdings wären wir ständig im Blickfeld der Ostwinde, und wie Marek sagt, könnten sie uns wohl den Weg abschneiden. Halten wir uns aber nordwärts, so dauert unser Ritt länger, und wir werden nicht besseren Schutz vor den Spähern der Ostwinde haben. Ich weiss ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Sicher gibt es im Norden begehbare Pässe, aber ich weiss nicht, wie lange wir reiten müssten, um einen solchen zu finden."

Araym räusperte sich, um sich der Aufmerksamkeit der anderen zu vergewissern.

„Wir haben es mit Müh und Not geschafft die Südwinde zu umgehen. Den Ostwinden konnten wir auch entkommen, aber wir haben dabei einen der unseren verloren. Ihr erinnert euch vielleicht daran, was ich einst gesagt habe: Die Nordwinde sind mit Abstand die gefährlichsten der fünf Winde. Reiten wir nordwärts, so kommen wir in ihr Gebiet, das dort anfängt, wo die Hochebene endet. Glaubt mir, es wäre besser für uns, wenn wir südwärts reiten und es in Kauf nehmen, dass wir in einen Kampf mit den Ostwinden geraten könnten. Gegen die Ostwinde würden wir vielleicht ein paar Männer verlieren, aber die Nordwinde würden jeden von uns in der Dauer eines Wimpernschlages auslöschen."

Tiruial runzelte die Stirn.

„Ich habe bereits einmal im Norden die Berge überquert. Sie sind so zerklüftet, dass man sich gut verbergen kann. Ich gebe zu, dass das viel weiter nördlich war, aber ich denke doch, dass wir im Gewirr der Felsen besser verborgen sind als auf dieser Ebene."

„Ja, reiten wir nordwärts. Wie Tiruial mir gesagt hat, müssen wir die zweite Bergkette so oder so im Norden überqueren. Wenn wir jetzt zurückgehen, verlieren wir viel Zeit und legen viele unnötige Meilen zurück."

Araym wusste, wann er verloren hatte. Nun wo Anarya sich auch für den Norden ausgesprochen hatte, senkte er ergeben den Kopf.

„Dann also nordwärts. Aber sagt später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt."

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Gegen Abend hatten die Ostwinde ihr Lager zusammengeräumt und alles auf ihre Hunde gepackt. Die meisten von ihnen waren schon vor Stunden nordwärts gezogen – um seinen Freunden zu folgen, wie Tárion vermutete. Doch ein gutes Dutzend der Krieger war im Lager geblieben, und sie hatten die Zelte abgebrochen und ihre Tiere beladen.

Niemand kümmerte sich um Tárion, auch Mara nicht, die er ab und zu unter den Kriegern erkennen konnte. Ausser ihr konnte Tárion noch drei oder vier andere Frauen im Lager entdecken, die ebenso wie Mara die Kleidung der Krieger trugen und Kampfstäbe am Rücken befestigt hatten.

Den ganzen Nachmittag hindurch hatte Tárion immer wieder an seinen Fesseln gezerrt, aber bisher hatte er weder die Riemen lockern können, noch hatte er herausgefunden, was der Kern der Karassan-Frucht bewirkte. Bis auf das, dass sein Herz immer noch schneller schlug, als es normal gewesen wäre, und dass seine Hände langsam aber sicher wegen der engen Fesseln schmerzten, fühlte Tárion sich eigentlich gut.

Gegen Abend war nichts mehr von dem Lager übrig ausser dem flachgepressten Gras, dort wo die Zelte gestanden hatten. Ohne Tárion noch eines einzigen Blickes zu würdigen machten sich die Ostwinde auf den Weg nach Norden. Tárion sah ihrem Abmarsch einen Augenblick lang verwirrt zu, aber dann verstand er, dass man ihn offensichtlich einfach hier zurücklassen wollte.

„He! Ostwinde! Ihr könnt mich doch nicht einfach hier stehenlassen!

Bindet mich los oder bringt zuende, was ihr angefangen habt! Ostwinde!"

Doch niemand ging auf seiner immer verzweifelter klingenden Rufe ein. Nicht einmal Mara, die neben dem Schwarzgekleideten herging, sah sich nach ihm um.

Die Ostwinde entfernten sich, wurden kleiner und kleiner und verschmolzen schliesslich mit der Dämmerung. Tárion war alleine.

Am nächsten Morgen stieg in Tárion ein Verdacht auf, was die Wirkung des Karassan-Kerns betraf. Die ganze Nacht hindurch war er hellwach gewesen, und selbst jetzt, nach vielen Stunden des Wachens, fühlte er nicht die geringste Müdigkeit. Ihm fiel Mara ein, die sich vor den Augen des Schwarzgekleideten von ihren Fesseln befreit und dann aus dem Krug getrunken hatte. Sie war noch im selben Augenblick zusammengebrochen.

Mara hatte müde ausgesehen, so als ob sie lange Zeit nicht geschlafen hätte. War es der Karassan-Kern, der ihn wachhielt?

Würde der Inhalt des Kruges ihm den Schlaf bringen? Noch immer gaben seine Fesseln nicht nach, und Tárion stand kurz davor zu verzweifeln. Zwar verspürte er weder Hunger noch Durst, aber diese würden sich wohl bald genug bemerkbar machen. Wie lange konnte ein Mensch sein ohne zu trinken? Und wie lange konnte er es ohne Schlaf aushalten, ohne wahnsinnig zu werden?

Stunden vergingen, die Sonne stieg am Himmel empor, und Tárion stand alleine an dem Pfahl. Als die Sonne unterging, stand er immer noch gefesselt da. Weder Hunger noch Durst quälten ihn, und er hatte keinen Augenblick der Ruhe gefunden, obschon er je länger je mehr spürte, wie Körper und Geist sich nach Schlaf sehnten. Ohne die Möglichkeit, sich in den Schlaf zu flüchten, konnte Tárion nicht verhindern, dass immer dieselben Gedanken durch seinen Kopf wirbelten.

Wo war seine Schwester inzwischen? Hatte Tiruial sie eingeholt? Was taten die Ostwinde? Was würde mit ihm selber geschehen? Würde sein Vater je erfahren, was aus ihm geworden war?