A/N: Ja, es gibt mich noch, auch wenn ich ewig nicht dazu gekommen bin, ein neues Kapitel zu posten. Sorry! Nun da die Feiertage vorbei sind, hoffe ich, dass es wieder regelmässiger neue Kapitel gibt, aber versprechen kann ich leider nichts... Na hier ist jedenfalls die Fortsetzung:
Rast
Seit der Begegnung mit den Ostwinden war ein Tag wie der andere vergangen. Die Berge im Norden schienen nicht näher zu kommen, obschon sie Tag und Nacht ritten und sich nur kurze Pausen gönnten. Selbst Tiruial mit seinen Elbenaugen hatte keine Spur mehr von den Ostwinden ausmachen können, aber trotzdem eilten sie weiter, und rasteten nur, wenn die Tiere nicht mehr weiterkonnten. Stets war zu ihrer Linken die Bergkette zu sehen, die es zu überwinden galt. Abweisend waren die Gipfel, steil, schroff und unbezwingbar. Kein Wanderer konnte es wagen, diese Berge zu besteigen, geschweige denn eine Gruppe von erschöpften Reisenden, wie sie es waren.
Tiruial bedurfte dringend der Ruhe, aber obschon er mehr tot als lebendig aussah, war er es, der die Gruppe immer wieder anstachelte weiter zu reiten. Anarya bekam einen Eindruck davon, was Kirgu mit der legendären Zähigkeit der Elben gemeint hatte. Araym dagegen hatte kein elbisches Blut in sich. Seit ein paar Tagen litt er unter einem Fieber, das ihn innerlich verbrannte. Die Verletzungen an seinen Händen hatten sich zwar nicht entzündet, wie Tiruial befürchtet hatte, aber die Heilung beanspruchte Kräfte, die Arayms geschwächtem Körper einfach nicht zur Verfügung standen. Ein, zwei Tage der Ruhe hätten wohl genügt, um das Fieber zum Verschwinden zu bringen, aber diese Zeit hatten sie nicht, und so blieb den Flüchtenden nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie das Fieber Arayms mageren Körper von Tag zu Tag mehr auszehrte.
Längst hatte Marek die Wasserrationen von Araym und Tiruial auf Kosten der anderen erhöht, und der Durst war ein ständiger Begleiter der Gruppe geworden. Wie Araym gesagt hatte, gab es auf dieser Ebene nur wenige Wasserstellen, und seit der Quelle beim Ostwindlager waren sie nicht mehr auf Wasser gestossen. Die Kamele hielten bisher noch gut durch, aber den Pferden begann man die Strapazen deutlich anzusehen. Immer öfter strauchelten sie, und ihr Atem ging keuchend. Wann immer Ariën stolperte, musste Anarya daran denken, was ihr Bruder wohl dazu gesagt hätte. Er hatte den Pferden von Anfang an nicht viel zugetraut, und nun schien sich sein Vorurteil zu bestätigen.
Tränen stiegen Anarya in die Augen, wenn sie an Tárion dachte. Wenn er nur bei ihnen gewesen wäre, sie hätte jeden Spott und jede Zurechtweisung von ihm ohne Widerspruch ertragen. Doch Tárion würde nicht zurückkehren.
Auch der Proviant wurde langsam knapp. Auf dieser Ebene schien es kein Wild zu geben, das man hätte jagen können, und es wuchs auch nichts anderes als dieses allgegenwärtige, dürre, gelbe Gras, dessen scharfe Kanten Mensch und Tier ungezählte Schnitte an den Beinen beibrachten. Wovon wohl die Ostwinde lebten?
Und dann änderte sich alles von einem Tag auf den anderen. Plötzlich erhoben sich vor ihnen sanfte Hügel, die von hellem, sattem Grün überwuchert waren. Glitzernde Bäche flossen in einen kleinen See, dessen Oberfläche beinahe schwarz und dessen Wasser eiskalt war.
Hier gönnten sie sich die erste längere Pause auf ihrer Flucht. Einen ganzen Tag und eine Nacht lang lagerten sie am Ufer des Sees, badeten trotz der Kälte des Wassers und säuberten ihre Kleidung so gut es ging. In der Nähe standen ein paar Bäume mit wilden Äpfeln, und Tiruial fand ein Knollengewächs, das einen nahrhaften Eintopf ergab. Einer der Soldaten entdeckte sogar einen Kaninchenbau, und nach erfolgreicher Jagd gab es seit Tagen die erste warme Mahlzeit. Man beschloss, das Feuer die ganze Nacht brennen zu lassen, da die Hügel einen gewissen Sichtschutz boten.
Araym kam endlich zu seinem dringend benötigten Schlaf, und auch Tiruial liess sich überreden, sich etwas auszuruhen und den anderen alle nötige Arbeit im und um das Lager zu überlassen.
So schön dieser Ort ihnen nach der kargen Ebene auch vorkam, stellten sie doch Wachen auf, die die Ebene wie auch die nahen Berge im Auge behielten. Trotz des Fiebers hatte Araym nie damit aufgehört vor den Gefahren des Nordens zu warnen, und je länger je mehr fühlte auch Anarya eine ungewisse Angst in sich aufsteigen. An zwei Heeren waren sie vorbeigekommen, aber es hatte sie einen hohen Preis gekostet. Sie hätte gerne darauf verzichtet, auch noch den anderen beiden Heeren zu begegnen, aber offenbar würde genau dies geschehen, wenn sie weiter in diese Richtung ritten. Tiruial hatte weder die Nord- noch die Westwinde je getroffen, und Araym war nicht sehr gesprächig, was die fünf Winde betraf. Mehrfach hatte Marek versucht, mehr Angaben über die Nordwinde aus ihm herauszulocken, aber Araym sagte nie mehr, als dass sie über sehr starke Waffen verfügten, und dass sie von allen Winden der gefährlichste waren.
„Macht Ihr Euch Sorgen, Herrin?"
Anarya sah Mora neben sich stehen und lächelte den jungen Soldaten freundlich an.
„Nenn mich nicht Herrin, Mora. Ich komme mir dann immer so alt vor. Uns steht noch eine lange Reise bevor, und wir wissen nicht, was uns noch erwartet. Da ist es mir lieber, wenn ich einen guten Kameraden an meiner Seite habe, als jemanden, der mich als seine Herrin betrachtet. Solange wir nicht in Amarond sind, bin ich keine Fürstentochter, sondern einfach nur Anarya."
Mora errötete und senkte den Kopf.
„Ich werde versuchen, mich daran zu halten ... Anarya."
„Und zu deiner Frage, Mora: Ja, ich mache mir Sorgen. Wir sind an zwei Heeren vorbeigekommen, aber es ist uns teuer zu stehen gekommen. Wir sind erst seit kurzer Zeit unterwegs, haben nur einen Bruchteil der Strecke hinter uns gebracht, aber sieh uns an: Tiruial ist immer noch schwach, Araym fiebert und auch wir anderen sind müde und hungrig. Bei den Ostwinden habe ich meinen Bruder verloren, und nun kommen wir zu den Nordwinden. Wen werden wir hier verlieren? Marek? Araym? Mich? Tiruial? Oder wird es einer von euch Soldaten sein, die ihr doch gar nichts mit dieser ganzen Geschichte zu tun habt? Und wenn Tiruial sterben sollte, was wird dann aus uns? Er ist der einzige, der den Weg in den Westen kennt..."
Mora schluckte. Er trat unruhig von einem Fuss auf den anderen, und Anarya dachte schon, er würde nichts dazu sagen, als er endlich den Mund aufmachte.
„Wir Soldaten sind hier, weil wir es so gewünscht haben. Wir wussten alle von Anfang an, dass dies eine Reise ohne Wiederkehr sein könnte – höchstwahrscheinlich sogar sein würde. Glaubt Ihr... glaubst du, Anarya, dass wir uns nicht bewusst waren, dass der Tod uns auf Schritt und Tritt begleiten wird? Das ist das Schicksal des Soldaten, und ich habe wie alle anderen dieses Schicksal gewählt, als ich in die Armee eingetreten bin.
Auch Marek und Araym sind Soldaten, die sich bewusst sind, was unsere und auch ihre Pflicht ist. Sie scheuen den Tod nicht, so wenig, wie ich ihn scheue, wenn ich mit meinem Tod dich oder den Elben beschützen kann. Denn dies ist unser Auftrag.
Und Tiruial? Er hat dich mitgenommen, weil er wusste, dass du ihn würdig vertreten kannst. Auch wenn du im Augenblick zweifelst, so wirst du an seiner Stelle richtig handeln können, wenn ihm denn wirklich etwas zustossen sollte. Doch nach allem, was ich bis jetzt von ihm gesehen habe, weiss er sehr gut, wie man am Leben bleibt.
Wir alle haben Angst, Anarya, aber wir dürfen sie nicht übermächtig werden lassen. Heute Nacht sind wir hier in Sicherheit, und unsere Wachen werden uns schützen. Also legt Euch... leg dich schlafen, Anarya."
Anarya atmete tief durch und nickte dann bedächtig.
„Ich danke dir, Mora. Ich denke du hast recht, und ich werde über das nachdenken, was du mir gesagt hast. Und nun werde ich versuchen, ein wenig zu ruhen."
„Tu das. Du musst deine Kräfte für den Westen sparen, wo dein Wissen von Nöten sein wird. Hier kannst du nichts tun, was wir Soldaten nicht auch tun könnten. Wir werden über dich wachen, und dir wird kein Leid geschehen."
Mora ging zurück zu den anderen Soldaten, und Anarya fragte sich, ob er wirklich nur zu ihr gekommen war, um sie nach ihren Sorgen zu fragen. Sie mochte den jungen Burschen, der sie ein bisschen an ihren jüngeren Bruder Odios erinnerte. Odios... Er hatte Tárion immer bewundert und ihn in allen Dingen nachgeahmt. Wie er wohl den Tod seines Bruders verkraften würde? Einmal mehr fühlte Anarya, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, und rasch lief sie hinunter ans Ufer des Sees und benetzte ihr Gesicht, damit niemand ihre Trauer sehen konnte. Sie wusste, dass die anderen ihr nur helfen wollten, wenn sie sie auf Tárion ansprachen, aber sie war am liebsten allein mit ihrem Schmerz, denn jedesmal, wenn jemand sie nach ihren Gefühlen fragte, rissen die kaum verheilten Wunden in ihrer Seele von neuem auf. Eines Tages würde sie über Tárion sprechen können; eines Tages würde sie sich an die schönen Dinge erinnern, die sie mit ihm erlebt hatte. Doch noch war zuwenig Zeit vergangen. Noch war alles, woran sie denken konnte, dass Tiruial ihn im Lager der Ostwinde zurückgelassen hatte, und dass sie nie erfahren würde, was genau mit Tárion geschehen war. Es gab nicht einmal ein Grab, und sie würde nie wissen, was aus seinen sterblichen Überresten geworden war.
Ein paarmal hatte sie von Tárion geträumt. Sie hatte ihn an diesem Pfahl stehen sehen, von dem Tiruial ihr erzählt hatte. Sein toter Körper wurde nur noch von den Fesseln aufrecht gehalten, und Felsengeier taten sich an ihm gütlich. Tiruial hatte sie auf ihre Träume angesprochen, weil sie im Schlaf geschrien hatte, aber Anarya wollte nicht darüber reden. Etwas in ihr sagte ihr, dass diese Bilder der Wahrheit so nahe kamen, wie es nur möglich war, und es reichte ihr, sie im Schlaf zu sehen. Hätte sie darüber gesprochen, hätte sie Tiruials wissenden Blick gesehen, so wäre es zur Gewissheit geworden, dass diese Visionen der Wahrheit entsprachen. Anarya war überzeugt davon, dass diese Gewissheit sie in den Wahnsinn treiben würde.
Als Anarya sich erhob, um zu den anderen zurückzugehen, sah sie Araym, der sich ihr mit unsicherem Schritt näherte. Erst als er schon fast bei ihr angelangt war, erkannte sie, dass nicht sie, sondern das Seeufer sein Ziel war.
„Araym? Du solltest noch ein wenig schlafen. Wie fühlst du dich?"
Er wandte ihr den Kopf zu, so als ob er sie eben erst bemerkt hätte. Seine Augen glänzten vor Fieber, und er schien Mühe zu haben, seine Gedanken zu ordnen. Schliesslich lächelte er matt.
„Es geht mir besser, Anarya," sagte er leise. „Noch ein paar Stunden Ruhe und es geht mir wieder gut. Ich wollte nur ans Wasser um zu trinken."
„Aber es hat doch..." Anarya verstummte gerade noch rechtzeitig, um Araym nicht zu verletzen.
Natürlich hatten sie die Wasserschläuche wieder aufgefüllt, aber Araym konnte mit den dicken Verbänden um seine Hände immer noch nichts anfassen. Für ihn war es bestimmt einfacher, direkt aus dem See zu trinken, als mit dem Verschluss einer Wasserflasche zu kämpfen.
„Warte, ich komme mit dir," sagte sie stattdessen sanft, und fasste den Gardisten am Arm.
Araym starrte sie verwirrt an, folgte ihr dann aber ohne jeden Widerstand ans Seeufer. Wie zuvor Anarya, benetzte nun auch der junge Mann sein Gesicht, und Anarya erwartete fast, das kalte Wasser würde bei der Berührung mit seiner fieberheissen Stirne zischen. Nach einer Weile hob Araym den Kopf und starrte auf seine nassen Verbände.
„Oh, das war wohl nicht so klug", war alles, was er stammelte, und Anarya hätte fast laut gelacht, als sie seinen verwirrten Gesichtsausdruck sah. Araym liess sich schwerfällig auf einem Stein am Ufer nieder und verschränkte die Arme, wobei er die Hände in seine Achselhöhlen steckte, um sie zu trocknen oder zu wärmen. Anarya bemerkte, dass er leicht zitterte, so als ob er fröre. Sein Fieber schien von einem Augenblick zum anderen zu steigen, und Anarya wusste, dass sie handeln musste. Rasch eilte sie zurück zum Lager und holte Verbandszeug. Dann kauerte sie sich vor Araym nieder.
„Tiruial schläft, und ich möchte ihn nicht wecken. Aber wenn du einverstanden bist, kann ich die Verbände wechseln – immerhin habe ich bei Krigu Tammari viel über die Heilkunst gelernt."
Araym nickte, und hielt ihr vertrauensvoll seine Hände entgegen. Anarya schluckte und biss sich nervös auf die Unterlippe. Sie hatte in ihrem Leben schon einige Wunden behandelt, aber noch nie hatte sie etwas gesehen, das mit Arayms Händen vegleichbar gewesen wäre. Sie hatte die Verletzungen des Gardisten nur in Kirgus Hütte untersucht, lange bevor er sie auf Messers Schneide festgehalten hatte. Seit diesem Zwischenfall hatte sich immer nur Tiruial um die Wunden gekümmert, und Anarya graute davor, was sie unter den durchnässten Stoffstreifen für ein Anblick erwarten würde. Doch es war nicht halb so schlimm, wie sie erwartet hatte. Tiruial hatte bei der Behandlung der Verletzungen hervorragende Arbeit geleistet. Noch immer waren Arayms Finger starr über die Handinnenfläche gekrümmt, aber an einigen Stellen war das verbrannte Narbengewebe gesunder, rosiger Haut gewichen, die allerdings noch sehr empfindlich war.
„Erzähl mir von der Garde der fünf Winde, Araym", sagte Anarya leise; einerseits um Araym von der Behandlung abzulenken, andererseits mit der stillen Hoffnung, dass er ihr im Fieber Dinge erzählen würde, die er sonst verschwieg.
„Was soll ich dir denn noch erzählen? Ich kenne nur die Südwinde, und an denen sind wir vorbei. Die Ost- und die Nordwinde habe ich ab und zu von weitem gesehen, weil unsere Gebiete gemeinsame Grenzen haben, aber ich weiss nichts von ihnen. Unser Anführer wurde manchmal vom fünften Wind zu Versammlungen befohlen, aber er hat nie von diesen Dingen erzählt, und so kann ich dir nicht mehr sagen, als du schon selber weisst."
„Gar nichts? Nicht das geringste? Zum Beispiel wie es kommt, dass die Heere so verschieden voneinander sind?"
Araym seufzte und begann schliesslich mit leiser Stimme zu erzählen.
„Wie ich schon gesagt habe, waren es die Herrscher der verschiedenen Länder des Ostens, die die Garde der fünf Winde schufen. Dies geschah einige Zeit nachdem Yoris und Simurakh verschwunden waren.
Die Herrscher von Farad, Karmand, Amarond, Valdograd, den Winterbergen und selbst aus Shadrinam trafen sich in Satar-Ai, um zu besprechen, wie man den Osten vor der drohenden Gefahr im Westen schützen könne. Da man nicht wusste, was sich jenseits des Gondramgebirges befand, Yoris und Simurakh aber immer wieder betont hatten, dass dort Übles hauste, beschloss man schliesslich, jede mögliche Verbindung mit dem Westen zu verhindern. Niemand sollte je dorthin gelangen, und niemand sollte je aus dem Westen in die Koldar-Ebene kommen.
Damit kein Land eigenmächtig diesen Beschluss umgehen konnte, wurde entschieden, dass jedes Land ein Heer zum Schutz des Gondramgebirges abstellen sollte. Wer immer die Berge überqueren wollte, musste an mindestens zwei von den Heeren vorbeigehen – selbst wenn ein Herrscher einen Kurier mit einem Passierschein für die Soldaten aus seinem Land ausgestattet hätte, wäre noch eine zweite Armee im Weg. Auf diese Weise wurde es unmöglich, das Gondramgebirge zu überqueren."
Araym verstummte. Er hatte mit der der Zeit immer schleppender und undeutlicher gesprochen, und nun sah er aus, als ob er jeden Augenblick einschlafen würde. Sein Fieber war höher denn je, und Anarya machte sich Sorgen um ihn. Sie war mit dem Verbandswechsel fertig geworden und erwartete eigentlich, Araym würde sich nun wieder schlafen legen. Dabei war sie ein bisschen ärgerlich, weil er ihr nichts Neues gesagt hatte, wollte ihm aber den dringend nötigen Schlaf nicht verweigern. So stand sie auf, um ihm auf die Beine zu helfen und ihn zum Lager zurück zu geleiten. Doch Araym streckte den Arm nach der jungen Frau aus, als wolle er sie festhalten, auch wenn er das nicht konnte.
„Warte! Ich dachte, du willst wissen, wieso die Heere so verschieden sind?" sagte er mit einem fragenden Unterton.
„Ja, aber du hast doch gerade gesagt, es komme davon, dass jedes Land eigene Soldaten geschickt hat?"
Anarya sah dem Gardisten an, dass er jetzt doch noch etwas mehr erzählen würde, und so setzte sie sich wieder und blickte Araym gespannt an. Dieser befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, räusperte sich und begann dann im Tonfall eines Geschichtenerzählers zu sprechen, auch wenn seine Stimme matt klang und er eindeutig lieber geschlafen hätte, als alte Erzählungen vorzutragen.
„Sechs Länder beteiligten sich an den Gesprächen, doch nicht jedes von ihnen sah sich in der Lage, ein Heer ins Gondramgebirge zu schicken. Es heisst, dass sich nach langer Planung endlich vier Generäle auf der Hochebene trafen, die wir überquert haben. Sie sassen zusammen und teilten das Gebirge unter sich auf."
Araym hielt inne, und starrte mit gerunzelter Stirn in den Himmel, als könne er in den Sternen ablesen, was er sagen wollte. Schliesslich fuhr er stockend fort.
„Es stiegen vier Männer auf den Berg
Al'dashil, Vanor, Sach'tar und Kerg.
Sie waren sich fremd und sollten es sein,
Denn jeder kämpfte für sich allein.
Sie teilten die Berge unter sich auf
So nahm die Geschichte ihren Lauf.
Süden und Westen, Osten und Norden
Besetzten sie mit ihren Horden.
Doch es geschah in der letzten Nacht,
Eh' sie begannen mit ihrer Wacht,
Dass fremdes Wesen zu ihnen trat
Und um das Recht zu sprechen bat.
Baradu, so nannt' sich das Wesen
War einstmals ein Krieger gewesen.
Doch bestraft für Habgier, Hass und Zorn
Wurd' es als Dämon wiedergeborn.
Nun war seine Seele wieder rein
Und es wollte den Kriegern Hilfe sein.
Und so wurde es zu dem fünften Wind,
Der nicht so ist, wie die andern sind.
In den Tiefen der Berge er wacht,
In dem Dunkel der ewigen Nacht.
Und um ihn stets wandern im Tageslicht
Die vier Winde und tun ihre Pflicht.
Weit in den Süden zog Al'dashil
Die Wüste am Bergesfuss sein Ziel.
Für den Karmandi ein passender Ort
Kam nun kein Fremder mehr von dort.
Mit List und Tücke ging er vor
Niemals er einen Kampf verlor.
Kaum war er da, war er schon fort
Liess nichts zurück am Kampfesort."
Araym verstummte und legte den Kopf auf die angezogenen Knie. Schweigend verharrte er, bis Anarya sich fragte, ob er an der Fortsetzung des Gedichtes herumrätselte, oder ob er eingeschlafen war.
„Araym?" fragte sie schliesslich vorsichtig.
Er regte sich nicht, und so stiess sie ihn sanft an der Schulter an. Er hob den Kopf und blickte sie müde an.
„Ich weiss nicht weiter – habe nie weiter gewusst. Es war nur der Teil mit Al'dashil, den man uns beigebracht hat. Vanor, Sach'tar und Kerg waren die Generäle der anderen Heere. Vanor gehörte zu den Westwinden, Sach'tar zu den Ost- und Kerg zu den Nordwinden. Aber mehr kann ich dir wirklich nicht sagen."
Erneut legte er den Kopf auf die Knie und schlang die Arme um die Unterschenkel. Anarya sah, dass er stärker zitterte, obschon er immer noch glühte vor Fieber.
„Du solltest zurück zum Feuer gehen, Araym. Du hast immer noch Fieber, und es bringt nichts, wenn du hier sitzen bleibst. Geh, und leg dich schlafen."
Araym murmelte etwas, aber Anarya verstand nicht, was er sagte. Sie stiess ihn noch einmal an, und erneut hob er den Kopf und starrte sie mit glasigen Augen an.
„Lass mich doch schlafen... Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Es ist so kalt..."
Anarya seufzte.
„Komm schon, steh auf. Lass uns zu deinem Schlafplatz gehen. Warte, ich helfe dir."
Mir sanfter Gewalt zog sie den Gardisten hoch, und schleppte ihn mehr, als dass sie ihn stützte, bis sie endlich am Feuer angelangt waren. Da Araym immer heftiger zitterte, nahm Anarya seine Decke und zog sie so nahe wie möglich an die Flammen heran. Der Gardist schien sie nicht einmal mehr wahrzunehmen. Starr ging sein Blick an ihr vorbei ins Leere. Anarya legte ihm die Decke um die Schultern und half ihm dann, sich neben dem Feuer hinzulegen. Nach kurzem Zögern holte sie ihre eigene Decke und wickelte Araym auch noch in diese ein. Er ächzte leise und rollte sich zusammen, bis seine Knie fast sein Kinn berührten. Dabei kam er gefährlich nahe an die Flammen des Lagerfeuers heran, und Anarya musste all ihre Kraft aufwenden, um ihn ein wenig wegzuziehen. Wieder und wieder rollte sich der Kranke näher ans Feuer heran, und Anarya traute sich nicht, ihn alleine zu lassen, auch wenn sie sich selber vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Als das Zittern auch nach einer scheinbaren Ewigkeit nicht aufgehört hatte, lehnte Anarya sich an einen Felsen nahe beim Feuer und zog Araym zu sich heran, so dass sein Kopf auf ihrer Brust ruhte, und sie die Arme um seinen Oberkörper schlingen konnte, um ihn zusätzlich zu wärmen. Auf diese Weise konnte sie ihn festhalten, wenn er zu nahe ans Feuer rutschen wollte und konnte selber auch sitzen, anstatt ständig neben ihm kauern zu müssen. Araym nahm von all dem nichts wahr. Er war in einen unruhigen Schlaf gefallen, und die Laute, die er von sich gab, verrieten ihr, dass er von unangenehmen Träumen heimgesucht wurde. Ausser ihr und den drei Wachen auf den Hügelkuppen schienen überhaupt alle zu schlafen, und auch Anarya fühlte jetzt die Erschöpfung von dem langen Ritt über die Ebene.
Nach einer Weile wurde Arayms Schlaf ruhiger, und durch ihre Körperwärme und die Hitze des Feuers hörte endlich auch das Zittern auf. Sein Atem ging nun langsam und gleichmässig, und die tiefen Atemzüge hatten eine einschläfernde Wirkung auf Anarya. Halb schlafend bekam sie noch mit, dass sich die Soldaten bei der Wache ablösten, aber dann übermannte auch sie der tiefe Schlaf der völligen Erschöpfung, in dem sie nichts mehr um sich herum wahrnahm.
