Kapitel 2, Schlechte Nachrichten
Morgens weckte ihn die Eule, die den Tagespropheten brachte. Er bemerkte sie erst, als sie ihm schon mit ihren Krallen das Gesicht zerkratzte, und als er die Decke zum Schutz über seinen Kopf zog, hackte sie mit dem Schnabel auf seine Hand ein. Er hatte vergessen den Wecker zu stellen. Die Eule wollte bezahlt werden. Die Augen noch geschlossen, holte Harry sechs Knuts unter seinem Kopfkissen hervor. Sie rupfte das Geldstück aus seinen Fingern und machte sich davon.
Auf dem Titelblatt der Zeitung war ein ganzseitiges Photo des neuen Zaubereiministers Owl McNarrow. Harry hatte ihn noch nie vorher gesehen. Sein Name sagte ihm nichts. Er positionierte sich immer wieder neu in der Mitte des Bildes und setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. Im Hintergrund sprangen eine Anzahl Sicherheitstrolle rum. Auf Seite zwei war die Antrittsrede Owl McNarrows abgedruckt.
„...wollen entschieden gegen Du-weißt-schon-wen vorgehen blabla aber die Gefahr, die von ihm ausgeht vernünftig einschätzen. ...seine Anhänger - nicht mehr als eine Handvoll verirrter Geister...
... hätte man sich vor fünfzehn Jahren nicht so sicher sein sollen, dass ein einjähriges Kind in der Lage wäre, Du-weißt-schon-wen unschädlich zu machen."
Harry überflog den Rest. Nach dieser Rede überlegte er ernsthaft, ob Umbridge schon wieder im Ministerium saß. Er schlug eine Seite nach der anderen um. Nach den Artikeln eine Woche zuvor, die fast einer Panikmache glichen, hatte die Zeitung nun nichts mehr über Voldemort zu berichten. Scheinbar war wirklich noch nichts Schreckliches passiert. Auf der vorletzten Seite gab es noch etwas.
Erste Anzeichen einer neuen Gewaltherrschaft?
Harry strich die Seite glatt und las den winzigen Artikel darunter.
Little Whinging (Surrey) Erste Zeichen, dass der, dessen Name nicht genannt wird, sein Unwesen treibt wurden in dem Londoner Vorort Little Whinging bemerkt.
Ein sechzehn Jahre alter Muggeljunge wurde mit schweren Fluchverletzungen in ein Krankenhaus der Muggel eingeliefert. Das Zaubereiministerium erwägt eine Verlegung ins St. Mungus Hospital für magische Krankheiten. Der Muggeljunge und seine Freunde, die ebenfalls angegriffen worden sind, wollten der örtlichen Polizei (eine Institution der Muggel für eine muggelspezifische Art Auroren) keine näheren Angaben zur Person des Täters und zum Tathergang machen. Vielleicht erfahren die Leser des Tagespropheten bald mehr von Rita Kimmkorn.
Wenn die Kimmkorn solchen Stuss schreiben durfte, dann wehte wohl wieder ein anderer Wind beim Tagespropheten. Aber auch im Zaubereiministerium. Wenn sie sich das zu schreiben traute, dann musste sie wohl nicht mehr fürchten, als nichtgemeldeter Animagus vom Ministerium zur Verantwortung gezogen zu werden. Wollte sie sich an Harry rächen, indem sie seine Flüche als die Voldemorts ausgab? Es waren lächerliche kleine Zauber im Gegensatz zu den Flüchen, die Voldemort gewöhnlich gebrauchte. Während sich Harry über Rita Kimmkorn ärgerte und die Zeitung nochmals von Seite drei an auf kleinste Hinweise über ungewöhnliche Vorkommnisse durchsuchte, ziepte seine Narbe auf der Stirn. Bald puckerte sie nervtötend, dass er nicht umhin kam, sie zu beachten. Sie puckerte nicht, weil er sich ärgerte, sondern diese Narbe, die Voldemort auf Harry bei dem Versuch, ihn zu töten, hinterlassen hatte, war eine magische Verbindung zu Voldemort und dessen Gefühlsregungen. Sie zeigte flammenden Hass und Ärger, aber auch Freude. Diesmal verspürte Harry ganz im Unterschied zu seinem eigenen Unmut ein Entzücken. Er wusste, dass es Voldemorts Gefühl war. Das Puckern verstärkte sich nicht, aber es hielt an und hinderte Harry, das Lesen der Zeitung fortzusetzen. Er legte sich mit einem kalten Lappen auf der Stirn aufs Bett. Wieder fielen ihm die Träume ein. Er überlegte, sie aufzuschreiben, wenn es ihm besser gehen würde, aber daran, noch einmal in den Park zu gehen, dachte er nicht. Dumbledores Leute hatten es so gewollt, sagte Harry sich trotzig. Sie wollten, dass er nichts unternahm, dass er tatenlos bei seinen Verwandten hockte und sich allenfalls die Stirn kühlte.
Es schien, als würde Harry sich für den Rest der Ferien in seinem Zimmer einschließen. Wenn das Puckern seiner Narbe nachließ, nahm er die Zeitung und las sorgfältig darin. Hermine hätte ihn sicher darin bestärkt. Zwischen den Zeilen sagten manche Artikel, dass man die Gefahr, die von einer Machtballung in den Händen Voldemorts ausgehen könnte, überschätze. Trotzdem schrieb niemand seinen Namen. Sie nannten ihn immer nur Du-weißt-schon-wen oder der, dessen Name nicht genannt wird. Immer wieder brach Harry das Zeitungslesen ab, weil seine Narbe ziepte und puckerte und brannte. Immer wieder spürte er Glücksgefühle, die nicht seine eigenen waren. Was machte Voldemort nur so glücklich? Was verschwieg der Tagesprophet so beharrlich?
„In der Zeitung steht nichts, aber ich kann spüren, wie glücklich Voldemort ist. Weißt du, was los ist?" schrieb Harry an Ron. Hermine sandte er eine Kopie dieser Nachricht. In den Briefen an Lupin erwähnte er allerdings kein Wort von seinen Narbenschmerzen. Er wollte den Leuten vom Orden nicht noch mehr Grund geben, auf ihn aufzupassen. Sehnlich wartete er auf Hermines und Rons Antworten. Das Echo auf seine Briefe erschreckte ihn.
„Mir geht's gut, habe prima Ferien. Wie geht's dir?" schrieb Hermine, nachdem sie sich fünf Tage Zeit gelassen hatte, zu antworten.
Von Ron dagegen war schon einen Tag nach Harrys Brief eine Nachricht gekommen, aber sie war irgendwie nichtssagend:
„Im Fuchsbau ist es sehr amüsant. Wir holen dich bald nach."
Harry glaubte nicht, dass Rons Brief schon die Antwort auf den seinen gewesen sein sollte. Aber die nächsten Eulenbotschaften von Ron, die Harry in rascher Folge erreichten, teilten nicht viel mehr mit als,
„Vergiss nicht, wie sicher du bei deiner Tante bist" oder „schöne Ferien, dein Ron."
Immerhin dachte Ron daran, Harry eines Tages zu erlösen. Allerdings wurde Harry angesichts der seltsamen Briefe immer mulmiger zu mute. Hätten die Handschriften nicht haargenau mit denen von Ron und Hermine übereingestimmt, hätte er geschworen, dass weder Hermine noch Ron zu solchen Briefen in der Lage waren.
„Was wollt ihr mir die ganze Zeit mitteilen?" schrieb Harry an Ron und Hermine.
Die passende Antwort blieb aus.
Wiedereinmal zog ein strahlender Sommertag herauf, als Hedwig durch das offene Fenster segelte. Mit einer Maus in den Krallen landete sie auf einem großen Käfig. Harry blinzelte von seinem Bett zu ihr herüber. Dann wollte er sich eigentlich auf die Seite drehen und noch einmal einschlafen, aber eine zweite Eule kam ins Zimmer. Eine große Schleiereule. Sie schlidderte bei der Landung auf dem Schreibtisch bis vor zur Tischkante, die Harrys Bett am nächsten war und streckte ein Bein vor, an dem ein Brief befestigt war. Das rote Siegel deutete auf den Absender: Hogwarts, Schule für Zauberei und Hexerei. Kaum hatte Harry den Brief abgezogen, flog die Eule wieder durchs Fenster hinaus. Mit klopfendem Herzen öffnete Harry den Umschlag und las:
Sehr geehrter Mr. Potter,
wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie in Ihren Prüfungen 9 Zauberergrade erworben haben.
Über die Prüfungsergebnisse erhalten Sie ein Zeugnis.
Wir wünschen Ihnen noch schöne Ferien bei ihren Verwandten und einen guten Schulstart am 1. September.
Hogwarts, Schule für Zauberei und Hexerei, dem 21. Juni
Professor M. McGonagall
Harry zog ein zweites Pergament hinter dem ersten hervor. Was er darauf las, hielt er für einen großen Irrtum:
Astronomie: O
Geschichte der Zauberei: O
Kräuterkunde: O
Pflege magischer Geschöpfe: O
Verteidigung
gegen die Dunklen Künste: O
Verwandlung: O
Wahrsagen: O
Zauberkunst: O
Zaubertränke: O
Die O's tanzten nur so über das Papier, dass es jedem anderen eine große Freude gewesen wäre. Sie tanzten und ließen sich kaum ihren Fächern zuordnen. Aber das war auch nicht nötig, denn Harry hatte in sämtlichen Unterrichtsfächern die Prüfungen mit „Ohnegleichen" bestanden. Harrys Kopf arbeitete:
In Astronomie hatte er die Sternenkarte nur zu 2/3 ausgefüllt, in Zaubereigeschichte hatte er manche Fragen gar nicht beantwortet, in Wahrsagen hatte er dem prüfenden Zauberer vorausgesagt, dass dieser längst gestorben sein müsste und sein Zaubertrank hatte nur fast die richtige Farbe gehabt. Wer machte Harry diesen schlechten Witz?
An der Echtheit des Hogwartsiegels gab es keinen Zweifel. Auf dem Zeugnis stand sein Name. Was bedeutete das?
Harry ließ der Gedanke an den Brief aus Hogwarts den ganzen Tag nicht los. Am Abend hockte er auf dem Fußboden seines Zimmers. Vor ihm ausgebreitet lag der Tagesprophet, doch Harry hatte schon vor Minuten aufgehört, darin zu lesen. Vor seinen Augen verschwammen die Zeilen. In seinem Kopf spürte er das Blut pulsieren. Das Ministerium hatte die Jagd auf Voldemort „in vollem Umfang" - wie ein Sprecher des Ministeriums (Percy) es ausdrückte - aufgenommen. Doch wie wollten sie ihn besiegen, wenn Harry der Prophezeiung nach der einzige war, der die Macht dazu besaß?
Ein leichtes Puckern seiner Narbe zog kaum Harrys Aufmerksamkeit auf sich. Doch kurz auf das Puckern folgte ein Schmerz, der so ungeheuerlich war, dass Harry glaubte, sein Kopf würde bersten. Harry warf sich auf sein Bett und drückte seine Stirn tief in die Matratze. Er zog das Kissen über den Kopf.
„Harry Potter, du bist so gut wie tot!"
Einem Schmerzensschrei gleich drängten die Worte und nach ihnen ein höllisches Lachen aus Harrys Mund.
Er kämpfte gegen die Worte und das Lachen und gegen den Schmerz. Schließlich verstummte er. Der Schmerz wurde erträglich. Harry rollte sich in seine Decke ein. Er zitterte am ganzen Leib. Voldemort war glücklich, doch daran wollte Harry gar nicht denken. Und auch nicht daran, dass man ihn im ganzen Haus gehört haben musste. Doch noch kam niemand die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und auch Minuten später nicht. Der Schmerz hinter Harrys Stirn ließ ganz allmählich nach und wurde schließlich von einem Puckern abgelöst. Diesmal musste Harry seine Angst zugeben. Er versuchte, sie klein zu halten. Im Haus seiner Tante konnte Voldemort ihm nichts anhaben. Aber die Prophezeiung - Es würde der Augenblick kommen, da Harry sich Voldemort stellen musste. So lange Harry sich verkroch, konnten Voldemort und seine Todesser die Welt in Schutt und Asche legen...
Wollte er das alles nicht wahrhaben so wie der Tagesprophet, der es verschwieg? Worüber sollte Voldemort sich gefreut haben, als über zerstörte Menschen und ihre Häuser? Wie oft war das Dunkle Mal schon zum Himmel gestiegen, seit Harry sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte? Harry wollte etwas tun, aber was wusste er schon über Voldemorts Schwäche, von der Dumbledore gesprochen hatte, und was von seiner eigenen Stärke, einer Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt. Mehr als einmal hatte ihm diese Macht das Leben gerettet. Aber er war sich ihrer nicht einmal bewusst gewesen. Er hatte sie nicht wissentlich eingesetzt.
Eine winzige Eule flog durch das offene Fenster, drehte einer Stubenfliege gleich drei Runden unter der Zimmerdecke und ließ sich auf Harrys Bett plumpsen. Harry streckte seine Hand aus. Pigwidgeon hüpfte auf seinen Finger. An seinen Beinchen war kein Brief. Jemand hatte die Eule abgefangen, oder sie hatte den Brief verloren. Aber Eulen verloren nie ihre Post. Pigwidgeon schien völlig unversehrt, keine Spuren eines Kampfes. Vielleicht war Ron etwas zugestoßen und er hatte seine Eule ohne eine Nachricht zu Harry geschickt? Harry brauchte nicht nachzudenken, er würde Little Whinging umgehend verlassen. Nur wohin? Harry sah auf den Wecker, der auf dem Tisch stand. In zwei Minuten begannen die Muggelnachrichten. Vielleicht könnte er aus ihnen irgendetwas erfahren. Er lief die Treppe hinab, übersprang aus Gewohnheit die unterste Stufe, die immer knarrte, und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Tante Petunia erblickte Harry und ließ fallen, was sie gerade in der Hand hielt.
„Er", stieß sie hervor.
Onkel Vernon, der in einem Sessel mit dem Rücken zu Harry gewandt saß, schrie, ohne sich auch nur umzublicken,
„Das Glas ist zerbrochen! Was hast du getan?"
„Frag Tante Petunia", erwiderte Harry, „Ich vermute, sie hat das Glas fallen lassen."
Äußerlich gab er sich gelassen, auch wenn ihm in seinem Innern ganz heiß war und er das Benehmen seiner Verwandten nahezu unerträglich fand.
Tante Petunia verließ das Wohnzimmer, um eine halbe Minute später mit einem Schwamm und Dr. Bursts FleckWeg Anwendung bei Fruchtflecken bewaffnet, die Hand in einen Gummihandschuh gesteckt, zurückzukehren. Schweigend machte sie sich daran, das Malheur zu beseitigen, Onkel Vernon zapte mit der Fernbedienung.
„Was suchst du hier?"
Diese Frage an Harry war nur eine formale Angelegenheit. Harry zögerte mit der Antwort. Am liebsten hätte er Onkel Vernon in sein feistes Gesicht geschrien. Diese Ignoranz, diese furchtbare Dummheit!
„Ich will telefonieren", mühte sich Harry in gemäßigtem Ton. Seine Stimme zitterte wegen den Gefühlen, die er in dem Moment unterdrücken musste. Das Telefon zu benutzen, war ihm bislang nicht einmal in den Sinn gekommen. Jetzt klammerte er sich an diese Möglichkeit, sich Klarheit verschaffen zu können.
„Das kommt gar nicht in Frage!" donnerte Onkel Vernon.
Harry sah in dieses breite, rote Gesicht, ohne zu blinkern. Bei Hippogreifen musste man es ebenso machen, oder wenn man Snape belog. Onkel Vernon durfte Harry das Telefonieren nicht verbieten, nicht, wenn die Nachbarn weiterhin von ihm denken sollten, er sei normal.
Tante Petunia unterbrach ihre schnellen Handbewegungen, mit denen sie den Schwamm über den Teppich führte und blickte nun ebenfalls zu Onkel Vernon.
„Natürlich darfst du telefonieren", quetschte er zwischen den Zähnen hervor. Sein Gesicht verfärbte sich blau-violett. Er rang nach Luft, und als er für einen Moment in der Lage war, einzuatmen, sammelte er alle Luft, die nötig war, um „RAUS!" zu brüllen.
Aber Harry war längst beim Telefon im Korridor und hielt sich den Hörer an das eine und die freie Hand auf das andere Ohr. Ihm fiel ein, dass er nicht vielmehr von Hermine wusste, als die Stadt, in der sie wohnte, und der Beruf ihrer Eltern. Es gelang ihm die Nummer der Zahnarztpraxis von Hermines Eltern herauszufinden. Sofort tippte er sie in den Apparat. Nach einer Ewigkeit schaltete sich am anderen Ende der Leitung eine sanfte Stimme ein:
„... Die Sprechzeiten sind Montag, Dienstag, und Mit-"
Enttäuscht legte er den Hörer auf. Er konnte unmöglich bis zum nächsten Tag warten und die Hände in den Schoß legen. Was riskierte er eigentlich, wenn er Hermine bei ihren Muggeleltern besuchte? Jeder, selbst Voldemort, glaubte Harry eher bei den Dursleys oder Ron und am wenigsten bei Hermine. Die Aussicht, Hermine in ein paar Stunden wiederzusehen, verschaffte Harry ein erhebendes Gefühl. Er zweifelte keinen Augenblick an seinem Plan.
Wieder in seinem Zimmer verstaute er sämtliche Bücher, seine Kleidung, all seinen Besitz, in einen einzigen Koffer, den er immer für die Schulzeit in Hogwarts benutzte. Pigwidgeon kabbelte sich mit Hedwig, Harrys weißer Schneeeule.
Harry griff nach Pigwidgeon, als er mit Packen fertig war, umschloss ihn sacht mit einer Hand und flüsterte ihm zu:
„Flieg zu Dumbledore!"
Woraufhin der Vogel zwei kleine Runden im Zimmer drehte und dann durch das weit geöffnete Fenster in den blassblauen Abendhimmel entflog.
Im Zimmer standen jetzt nicht mehr als Bett, Tisch und Schrank, ein großer Vogelkäfig und der Koffer aus Holz. Harry hielt seinen Besen, einen Feuerblitz, den ihm sein Pate Sirius geschenkt hatte, und einen fließenden, glänzenden Stoff, den Tarnumhang, der einmal seinem Vater gehört hatte, in der Hand. Hedwig hatte sich auf seine Schulter gesetzt. Vielleicht sollte er den Dursleys eine Nachricht hinterlassen, etwas wie „komme spätestens in den nächsten Sommerferien wieder." Er hatte schon einen Fuß auf die Treppe hinab zum Wohnzimmer gesetzt, da erschien es ihm plötzlich lächerlich. Hedwigs Käfig und seinen Koffer würde er, wenn er zu Hermine flog, in Little Whinging zurücklassen, woran die Dursleys erkennen konnten, dass er sie nicht endgültig verlassen wollte. Harry machte kehrt, schwang sich auf seinen Besen und warf den Tarnumhang über.
„Ich will zu Hermine", sagte er leise zu Hedwig, die immer noch auf seiner Schulter saß, „flieg voraus!"
Er hob den Umhang, damit Hedwig darunter hervorfliegen konnte, und dann folgte er ihr durchs Fenster hinaus. Unter ihm auf dem gepflegten Rasen kickte Dudley einen Ball. Als er die Eule bemerkte, die noch ziemlich tief flog, nahm er den Ball auf, holte aus und warf ihn nach ihr. Man hätte meinen können, er wollte Harry treffen. Harry wich dem Ball aus wie einem Klatscher beim Quidditch. Er blickte noch einmal zurück nach Dudley und war sich sicher, dass der ihn nicht gesehen hatte, denn er kickte schon wieder in aller Ruhe seinen Ball.
Zum Glück besaß Harry einen Feuerblitz. Ein anderer Besen konnte wohl schwerlich mit Hedwigs Tempo mithalten. Sie kamen bei Hermines Elternhaus an, kurz bevor es vollkommen Nacht wurde. Hedwig steuerte auf ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stockwerk zu und ließ sich auf dem Fenstersims nieder. Kaum dass sie mit dem Schnabel gegen die Scheibe pochte, schob auch schon jemand die Vorhänge beiseite. Es war Hermine, und Harry fühlte unbändige Freude, sie wiederzusehen. Er flog ganz dicht ans Fenster. Sie öffnete einen Fensterflügel. Hedwig rührte sich nicht.
„Hermine! Ich bin's, Harry", sprach Harry gerade so laut wie nötig.
Hermine bekam einen Schreck, fasste sich aber schnell und zog nun auch den anderen Fensterflügel auf. Harry steuerte durchs Fenster und landete knapp neben Hermines Bett.
„Oh, Harry!" rief Hermine und umarmte Harry, kaum dass er den Tarnumhang vom Kopf gezogen hatte. Harry verschwand beinahe unter ihrem buschigen, braunen Haar. Sie ließ ihn gar nicht mehr los, sondern schmiegte ihr Gesicht an Harrys Schulter und weinte.
„Was ist?" fragte Harry und strich ihr übers Haar.
„Ron, die Weasleys!" hörte er Hermine schluchzen.
„Was?" Harry versuchte, Distanz zu Hermines Gesicht zu gewinnen und nahm es deshalb in seine Hände. Hermine ließ es nur widerstrebend zu. Sie bewegte fast unmerklich ihren Kopf wie bei einem Nein und starrte Harry an.
„Harry, wieso bist du nicht bei deiner Tante? - Im Fuchsbau war... das dunkle Mal! Du riskierst dein Leben!"
Harry hatte nicht das Gefühl, sein Leben sei augenblicklich mehr in Gefahr als in den vergangenen drei Wochen, die er bei den Dursleys zubringen musste. Hermine hätte ihm vorwerfen sollen, dass er überhaupt so lange weg gewesen war. Er glaubte sich verhört zu haben - das dunkle Mal über dem Haus von Rons Familie?
„Wo ist Ron?" fragte er.
„... ich kann es nicht sagen - es ...es ist etwas ganz schreckliches passiert..."
Hermine sank auf das Bett neben Krummbein, ihren Kater, der dort halb schlief, halb wachte.
„Der Tagesprophet - ", mit den Augen wies sie auf einen Sekretär.
Harry durchquerte das Zimmer (Er brauchte ziemlich lange für die optisch geringe Entfernung zwischen Bett und Sekretär, ungefähr zwei Minuten Fußweg würde man umgangssprachlich sagen.) und nahm die Zeitung. Er brauchte sie gar nicht aufzuschlagen. Gleich auf der Titelseite war ein Foto, das ihn auf der Stelle die ungewöhnlichen Dimensionen von Hermines Zimmer vergessen ließ. Der zerstörte Fuchsbau. Die Headline verkündete:
Grausames Attentat auf Ministeriumsmitarbeiter
Arthur Weasley, Mitarbeiter des Zaubereiministeriums in der Abteilung gegen den Missbrauch von Muggelartefakten, und seine Familie wurden in der vergangenen Nacht Opfer eines Attentats. Das Ministerium vermutet hinter dem Anschlag den, dessen Name hier nicht genannt werden darf und seine Anhänger. Weasleys Haus brannte fast vollständig nieder. Unserem Reporter vor Ort bot sich ein Bild der Zerstörung, über dem das Dunkle Mal, das Zeichen der Anhänger des Mannes, dessen Name niemand nennt, aufstieg. ...Im Ministerium geht man davon aus, dass sich zur Zeit des Anschlags Arthur Weasley, seine Frau Molly und die Kinder Bill, George, Fred, Ron und Ginny im Haus aufhielten. Die Opfer konnten noch nicht geborgen werden. Von einem Sprecher des Ministeriums hieß es, man suche derzeit noch nach sterblichen Überresten zwischen den Trümmern ...
Harry hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen. Die Zeitung war ihm entglitten, und er rang nach Luft. Die ganze Zeit hatte er sich in seinem Zimmer verschanzt, während Ron... - das Ziepen seiner Narbe - er hätte viel eher darauf hören sollen!
„Es ist nur", sagte Harry laut, „etwas seltsames: Ich habe heute Morgen auch den Propheten bekommen. Da stand nichts über einen Anschlag. Ron lebt vielleicht noch!"
Hermine sah Harry verwirrt an.
„Ja!" versicherte ihr Harry, „wenn ich es dir nur zeigen könnte, da heißt es, das Ministerium unternehme alles mögliche gegen Voldemort, aber sonst gab es nichts beunruhigendes"
Harry stockte, und plötzlich war ihm, als schlüge ein schwerer Stein in seinem Magen auf.
„Hermine!" sagte er eindringlich, „Hast du Post von Hogwarts - ich meine die Prüfungsergebnisse..."
„Ja", sagte Hermine und wusste nicht worauf er hinauswollte, „...aber das ist doch jetzt egal."
„Vielleicht ist es nicht egal. Stell dir vor, in meinem Brief von Hogwarts stand, ich hätte in jeder Prüfung ein Ohnegleichen."
Hermine machte sich auf den Weg zum Sekretär.
„Hier ist mein Brief", sagte sie, trat an den Sekretär und öffnete eines der vielen schmalen Schubfächer. Sie zog einen goldenen Brief mit dem roten Siegel von Hogwarts daraus hervor.
„Du hast ihn noch nicht mal geöffnet", sagte Harry mit heiserer Stimme.
Stumm entsiegelte Hermine den Brief, entfaltete ihn und überflog mit den Augen das Pergament. Harry versuchte, von ihrem Gesicht Freude oder Enttäuschung abzulesen. In ihre Stirn gruben sich zwei senkrechte Falten, und es schien, als würde Hermine immer nachdenklicher.
„Da stehen alle möglichen Noten, nur kein O. Zweimal ein S und in Arhithmantik sogar ein T", sagte Hermine ohne ein Zeichen der Entrüstung oder Enttäuschung darüber, dass man sie so schlecht bewertet hatte.
„Weißt du, vielleicht ist meine Post verzaubert. Ich meine, jemand hat ihren Inhalt verändert", sagte Harry.
„Mein Brief von Hogwarts ist nicht weniger seltsam als deiner." entgegnete Hermine, „Möglicherweise stimmt auch nicht, was in meinem Tagespropheten steht."
„Irgendwas ist aber mit Ron", sagte Harry, und er erzählte, dass Rons Eule bei ihm war ohne einen Brief.
„Wo ist Pigwidgeon jetzt?" fragte Hermine.
Harry wollte ihr gerade antworten, als eine Stichflamme über Hermines Bett erschien und sich in einen wunderschönen, schwanengroßen Vogel mit rotgoldenen Federn verwandelte.
„Fawkes!" rief Harry aus.
Der Vogel zog einen eleganten Kreis im Zimmer und blieb dann flügelschlagend vor Harry und Hermine in der Luft stehen.
„Dumbledore schickt ihn", sagte Harry.
„Nimm Krummbein auf deinen Arm!" forderte er Hermine auf.
Er erinnerte sich, wie Dumbledore im vergangenen Schuljahr Fawkes Schwanzfedern nur berührte und im nächsten Augenblick mit ihm verschwunden war. Das gleiche mussten sie jetzt auch tun. Krummbein war schon auf Hermines Rücken gesprungen und krallte sich in ihrem Nacken fest. Harry nahm seinen Besen und den Tarnumhang an sich und fasste Hermines Hand. Hermine begriff ohne Worte und legte ihre andere Hand um Fawkes Schweif. Sofort verschwand Hermines Zimmer vor Harrys Augen in einem Wirbel aus Feuerfarben. Ihm war, als schwebte er schwerelos in einem warmen Raum, in dem er keine Grenzen außer seiner eigenen Haut wahrnehmen konnte. Alles um ihn herum wirbelte, floss und strömte - die Bewegung war außer ihm, er bewegte sich nicht. Das alles geschah in Sekunden oder Stunden - vielleicht verging gar keine Zeit - ein goldener Ton drang in Harrys Ohr, und er öffnete die Augen, ohne sich bewusst zu sein, sie vorher geschlossen zu haben. Er sah Dumbledore, der hinter seinem Schreibtisch saß, die Fingerkuppen aneinandergelegt zu Harry und Hermine aufblickend.
„Du hast das Haus deiner Tante verlassen, den Ort, der dir vollkommenen Schutz gewährt" richtete er seine ersten Worte an Harry.
„Wie lange sollte ich dort noch bleiben?" entfuhr es Harry in einem scharfen Ton. „Wenn ich ein mächtiger Zauberer wäre, dann hätte ich anders gehandelt. Aber so - ... ich kann doch nicht zusehen, wie die Welt um mich herum - wie Voldemort die Zauberer bedroht und die Muggel ... ich kann doch nicht einfach abwarten, während ich weiß, dass sie nichts gegen ihn tun können. Und dann habe ich mir Sorgen gemacht wegen ..."
„Wegen Ron", unterbrach ihn Hermine mit lauter aber sehr viel ruhigerer Stimme, als Harry sie hatte.
Harry ließ sie fortfahren. Andernfalls hätte er Dumbledore anschreien müssen. Es war ein anderes Gefühl als Wut. Es war Verzweiflung. Er dachte an seine Narbe, die fast ständig puckerte und brannte, an die lächerlichen Artikel in seinem Tagespropheten, die das Thema Voldemort ignorierten und an die Machtlosigkeit und möglicherweise auch Dummheit des Zaubereiministeriums. Hätte er weitergesprochen, er hätte seine Gefühle nicht mehr zurückhalten können. Vielleicht spürte auch Hermine das.
„...unsere Post wurde wahrscheinlich mit irgendeinem Zauber belegt. Aber vor allem ist etwas nicht in Ordnung mit Ron. Seine Eule kam zu Harry, ohne eine Nachricht zu überbringen. In meinem Tagespropheten stand, er und Ginny, Fred und George und seine Eltern wären tot! Harrys Ausgabe des Tagespropheten berichtet nicht darüber. Was wissen Sie, Professor?"
„Ich kann Euch leider nicht beruhigen. Die Weasleys konnten sich vor dem Anschlag auf ihr Haus rechtzeitig in Sicherheit bringen. Mr. und Mrs. Weasley sind mit Ron und Ginny untergetaucht. Aber Ron handelte sehr unvorsichtig, als er sich vor fast drei Stunden aus dem Versteck stahl, vermutlich um dich, Harry, zu besuchen."
Hermine ließ Krummbein auf den Boden gleiten.
„Bitte setz dich, Hermine", sagte Dumbledore sanft und wies auf einen bequemen Stuhl, der vorher noch nicht da gestanden hatte. Auch Harry nahm nun einen Stuhl hinter sich wahr, aber er blieb stehen und sah wie gebannt in Dumbledores blaue Augen hinter den Halbmondgläsern. Vor fast drei Stunden hatte er seine Narbe gespürt. Ron! Voldemort hatte Ron.
„Wo ist Ron jetzt? Was machen sie mit ihm?" fragte Harry.
„Ist er am Leben?" drängte Hermine.
Krummbein war auf ihren Schoß gesprungen und schmiegte sich darein, die Ohren gespitzt.
„Ich bin überzeugt, dass er noch lebt", sagte Dumbledore.
„Aber wie -? Wo ist er?"
„Es wundert mich, dass du noch keine Vision hattest, Harry, aber diese Uhr von Mr. und Mrs. Weasley..."
„Voldemort", flüsterte Hermine.
Harry fühlte seine Knie nachgeben. Er musste sich setzen, rutschte aber bis zur vorderen Kante seines Stuhls vor.
„Will Voldemort uns erpressen?"
„Genau das denke ich, Harry. Ron ist seine Geisel", sagte Dumbledore leise und mit ernstem Ausdruck.
Im Raum war es sehr still, nichts regte sich, weder arbeitete eines von Dumbledores filigranen Instrumenten, noch kam ein Geräusch aus den Portraits mit den ehemaligen SchulleiterInnen von Hogwarts, als Hermine fragte,
„Was will Voldemort uns abpressen?"
Harry meinte, die Antwort zu kennen.
„Voldemort meint doch nicht, dass Sie einen Menschen gegen den anderen tauschen würden?" wandte er sich an Dumbledore.
„Wovon redest du?" fragte Hermine.
Dumbledore presste für einen Moment die Hände auf sein Gesicht - wobei die Halbmondbrille den Nasenrücken hinaufrutschte -, als fiele ihm die Antwort schwer. Dann sprach er widerstrebend:
„Selbst wenn Voldemort den in die Hände bekommt, den er will, heißt das nicht, dass er Rons Leben verschont ..."
„Wen will Voldemort?" unterbrach Hermine.
Dumbledore atmete lang und hörbar aus, bevor er seine Rede wieder aufnahm.
„Wenn sich der, den Voldemort will, ihm ausliefert, müsste er sich mit ihm duellieren. Unterläge er Voldemort, so wäre das auch Rons Tod."
Hermine stieß einen gequälten Laut aus.
„Harry - ", sagte sie in dem Versuch, ihrer selbstgestellten Frage eine Antwort zu geben.
„Aber ... ", fuhr Dumbledore ein wenig lauter als zuvor fort, „Wir finden einen Weg, Ron zu befreien, ohne Harry ins Spiel zu bringen."
Hermines Befürchtung hatte sich bestätigt. Ihre Hände gruben sich in Krummbeins Fell. Sie wandte sich zu Harry, aber er wagte nicht, sie anzublicken. Stattdessen sah er auf den Boden zu seinen Füßen, wo die Muster vor seinen Augen verschwammen. Im Augenblick glaubte er nicht, Ron jemals lebend wiederzusehen. Dumbledore erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor.
„Ich begleite euch jetzt zum Gryffindorturm. Ihr werdet diese Nacht auf Hogwarts verbringen. Morgen muss ich abreisen. Ich denke, ihr zieht für den Rest der Ferien ins Hauptquartier. Lupin wird sich um die Sache mit eurer Post kümmern."
Er gebot ihnen zu folgen, und sie verließen stumm das Büro. Die Gänge des Schlosses waren wie ausgestorben. Aus den Portraits entlang der Wände drang ein Schnarchen und Grunzen oder auch nur ein sachtes Schniefen. Die Bewohner der Bilder schliefen. Eine schmächtige Ritterrüstung zur Linken schnarchte lauter als alle anderen. Als Harry, Dumbledore und Hermine mit Krummbein sie passierten, brüllte sie einem Löwen gleich. Der Ritterhelm öffnete sich kreischend und spuckte einen Geist aus: Peeves! Sein Gelächter, als er entschwebte, dröhnte in den Fluren und hallte noch lange nach.
Sie waren vor dem Portrait am Eingang zum Gryffindorturm angekommen. Die fette Dame schlief.
„Noch eines, Harry", sagte Dumbledore und sah Harry fest in die Augen - die gesprungenen Brillengläser schienen ihn nicht im mindesten dabei zu stören - „Rons Leben ist in der größten Gefahr, sobald Voldemort dich in seiner Gewalt hat."
Harry klopfte das Herz im Hals und er konnte Dumbledore nicht länger ins Gesicht sehen. Er wollte nur noch allein sein.
„Zitronenbrause", sagte Dumbledore, woraufhin die fette Dame aus ihrem Schlaf schreckte, dann aber kommentarlos das Einstiegsloch zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors freigab.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlafen kann", sagte Hermine. Dumbledore strich ihr über das Haar. Sanft drückte er ihren Kopf gegen seine Brust.
„Lege dich nur auf dein Bett, und vergiss nicht, die Decke bis zur Nasenspitze zu ziehen", antwortete er ihr.
Hermine widersprach nicht.
Sie kletterten durch das Loch. Das Portrait der fetten Dame verschloss den Eingang hinter ihnen. Hermine warf Harry noch einen Blick zu. Dann eilte sie die Treppe zu ihrem Schlafsaal hinauf. Harry hörte sie schluchzen, bevor eine Tür ins Schloss fiel und Hermines Laute nicht mehr durchdringen konnten. Am liebsten hätte er sie aufgehalten, ihr nachgerufen, sie solle bleiben. Gerade jetzt wollte er nicht allein sein und erst recht nicht schlafen, seinen Kopf unter eine Decke stecken. Er musste mehr über Ron erfahren. War es denn wahr, was die Uhr der Weasleys anzeigte? Woher wollte Dumbledore wissen, dass sie richtig ging? Vielleicht war Ron Voldemort inzwischen schon wieder entkommen. Er brauchte nur Glück so wie Harry. Nur mit Glück hatte Harry es geschafft. Welche Macht gab es sonst gegen Voldemort ...
Das Kerzenlicht, das den Gemeinschaftsraum erhellte, begann zu flackern, als wollte es Harry mitteilen, dass er nun zu Bett gehen sollte.
Harry befolgte Dumbledores Worte. Nachdem er den Tarnumhang, seinen Besen, die Brille und ein paar Kleidungsstücke abgelegt hatte, kroch er unter die Bettdecke und wartete, was mit ihm geschehen würde. Merkwürdigerweise überfiel ihn, sobald er die Decke bis übers Ohr zog, ein tiefer, tröstender Schlaf.
Das Aufwachen am nächsten Morgen war um so schmerzlicher. Harry betrat den Gemeinschaftsraum fast gleichzeitig mit Hermine. Ein Frühstück mit Haferbrei und Toast erwartete die beiden. Sie setzten sich an den gedeckten Tisch, aber keiner unternahm den Versuch zu essen.
„Wir müssen Ron da rausholen, Hermine."
„Bist du dir ganz sicher, Harry? Du hast Dumbledore gehört..."
„Ich kann nicht abwarten, bis den anderen etwas einfällt, wie sie Ron helfen können."
„Aber vielleicht hat Dumbledore schon einen Plan."
„Dann wird er mich in seine Pläne einweihen müssen!"
„Was willst du denn überhaupt unternehmen?"
„Wir müssen zaubern lernen, ich meine all die Sachen, die sie uns noch so lange vorenthalten möchten."
„Das habe ich auch schon gedacht. - Wir müssten uns auch mit schwarzer Magie befassen."
Eine kurze Pause entstand. Wie nebenbei zog sie ihren Zauberstab, tippte mit der Spitze des Stabes an Harrys kaputte Brille und murmelte, „Okulus Reparo."
Harry sah an Hermine vorbei.
„Wie ist Dumbledore so gut geworden?" fragte er leise.
„Ich glaube, Harry, es sind gar nicht seine Zauberkünste - ich meine, er kann natürlich besonders gut zaubern, aber zu einem mächtigen Zauberer wurde er durch eine andere Kraft... Er ist so gut, ich meine - im Herzen."
„Du bist es auch", fügte sie nach einer Weile hinzu.
„Eine Kraft in deinem Herzen ... ", zitierte Harry seinen Schulleiter.
„Wie, bitte?" fragte Hermine, die sehr wohl verstanden hatte.
„Schon gut", meinte Harry.
„Wenn ich mich Voldemort stellen würde ..."
„Nein, niemals!" rief Hermine.
„Aber wie lange wird Ron durchhalten. Was macht Voldemort mit ihm?"
Der Portrait-Eingang zum Gemeinschaftsraum öffnete sich. Harry und Hermine verstummten augenblicklich. Nymphadora Tonks und Kingsley Shacklebolt kamen durch das Loch in der Wand.
„Guten Morgen ihr zwei!" grüßte Tonks, „na, immer noch beim Frühstück?"
Harry blickte zu ihr auf. Er sah ihr bonbonrosa Haar und ihren lustigen Mund und irgendwie freute er sich, sie zu sehen. Kingsley Shacklebolt schritt den Gemeinschaftsraum ab, dann blieb er an der Stirnseite des Frühstückstisches neben Tonks stehen.
„Habt ihr eure Sachen gepackt?" fragte Tonks.
Krummbein musste die Frage verstanden haben, denn er sprang jetzt auf Hermines Schoß. Harry erinnerte sich an seinen Besen und den Tarnumhang.
„Ich muss noch mal hoch", sagte er und verschwand auf der Treppe zu seinem Schlafsaal. Dort angelangt nahm er Besen und Umhang auf, doch statt den Schlafsaal wieder zu verlassen, ging er an eines der Fenster. Von hier aus hatte er einen weiten Blick über die Schlossgründe von Hogwarts und den verbotenen Wald. Am Waldrand sah er Hagrids Hütte. Er suchte nach einem Zeichen dafür, dass Hagrid jetzt zu Hause war. Erkennen konnte er nichts. Rasch verließ er den Schlafsaal.
„Tonks", rief er schon von der Treppe aus, „bevor ihr uns mitnehmt, will ich Hagrid noch ‚Hallo' sagen."
„Oh ja, ich auch!" Hermine war schon auf dem Sprung.
„Hagrid wird uns begleiten", erwiderte Tonks, „Seid ihr fertig mit frühstücken?"
Hermine stand einen Moment der Mund offen, dann sprang sie mit Krummbein im Arm in die Luft, und Harry sah sie zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen am Vorabend lachen.
Hagrid wartete schon auf sie in Dumbledores Büro. Harry und Hermine warfen sich an seine Brust. Er schloss um jeden einen Arm und küsste sie nacheinander auf den Kopf. Es war eine Begrüßung, als hätten sie sich ein halbes Leben nicht mehr gesehen, dabei waren erst drei Wochen seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Harry fühlte sich für einen Augenblick so wohl, wie lange nicht mehr. In ihm wuchs eine Ahnung, was Hagrid ihm bedeutete. Das wiederum war schmerzhaft.
Dumbledore wartete hinter seinem Tisch, bis Hagrid seine beiden Freunde wieder auf den Boden gestellt hatte. Er blickte in die Runde der Versammelten, dann sagte er zu Harry gewandt:
„Heute Abend sehen wir uns wieder. Du wirst an unserer heutigen Versammlung teilnehmen. Jetzt schicke ich euch ins Hauptquartier."
Er hieß alle, einen zerbeulten Kessel anzufassen, den Portschlüssel, der sie zum Hauptquartier des Phönixordens am Grimmauldplatz Nummer Zwölf bringen sollte.
