Kapitel 5, Die Pforte

Als Harry wieder in sein Zimmer gehen wollte, hielt er vor der Tür inne. Drinnen war jemand, der weinte.
„Ginny", klärte Hermine Harry auf, „sie hat sich ziemlich heftig mit Fred und George gestritten", dann drückte sie an seiner Stelle die Türklinke.

Ginny saß auf dem Bett, in dem immer Ron geschlafen hatte, die Knie dicht an ihren Körper gezogen, stieß sie seltsame Jammerlaute aus sie, ohne Luft zu holen. Harry machte eine hilflose Geste. Er fing Hermines Blick ein und gab ihr zu verstehen, dass er wohl besser raus gehen würde, aber Hermine sah ihn missbilligend an. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie ihm, im Zimmer zu bleiben. Sie übernahm es, Ginny zu trösten, während Harry sich auf sein Bett legte und zur Decke starrte.
„Ich bin kein Baby", schluchzte Ginny, „sie haben kein Recht, mich hier einzusperren, ... als wenn Rons Verschwinden nur ihre Angelegenheit wäre, ... als wenn sie Mittel gegen ... gegen Voldemort einsetzen könnten, die ich nicht hätte ..."
Ginnys ohnehin gebrochene Stimme zitterte, als ihr der Name Voldemort über die Lippen kam.

„Sie können seinen Namen noch nicht einmal aussprechen", fügte sie verächtlich hinzu.

Harry schloss die Augen und legte seine Brille mit den runden Gläsern auf die Bettkante. Die Ereignisse des Tages hatten ihn erschöpft, der Hauself, Lupin ..., und Ginny sagte nur das, was ihn schon lange bedrückte. Dass er nichts tun konnte, nichts tun durfte, um auf Rons Spur zu kommen.

„Lass uns was tun, Harry", hörte er Ginnys Flehen, ohne wahrzunehmen, dass sie mit ihm sprach. Auch in ihm selbst rief es doch immer nur, lass uns etwas tun!

„Bei Sirius hast du auch sofort was unternommen!"

Als er den Namen seines Paten aus Ginnys Mund hörte, schreckte Harry auf. Er drehte den Kopf und sah Ginny und Hermine an. Hermine blickte ihm streng entgegen, wie um zu sagen, dass Harry jetzt entschieden gegen Ginny halten sollte. Schließlich war das, was als Sirius' Rettung begonnen hatte, zu einer Katastrophe geworden, aus der sie selbst befreit werden mussten. Sie waren nur knapp dem Tod entronnen. Alle, außer Sirius.

„Sirius ist gestorben, weil wir einen Fehler ..."

„Schweig!" knallte Harry in Hermines unvollendeten Satz.
Er zog das Kissen unter seinem Kopf hervor und bedeckte damit sein Gesicht. Ginny schüttelten noch vereinzelte Schluchzer. Dazwischen blieb es vollkommen still, denn Hermine wagte kein Wort mehr.

Nach einer Weile drehte Harry sein Gesicht zur Wand - um niemanden ansehen zu müssen, während er sprach.
„Hermine! Du hast eine Tür entdeckt ..."
„Welche", fragte sie automatisch, ehe sie sich wieder erinnerte.
"Jaha", sagte sie nun, „kaum, dass wir allein im Haus sind, entdecken wir merkwürdige Türen und geheime Gänge wie in einem schlechten Gruselroman."
Harry wusste nicht, worauf Hermine hinaus wollte.

„Was ist, Hermine, willst du nicht wissen, wohin diese Tür führt?"

„Ja", sagte Hermine, „ich will es nicht wissen. Hör mir zu, diese Tür, so kurz ich sie auch nur gesehen habe, macht mir ein schlechtes Gefühl."

Ginny konnte nun endlich ganz aufhören zu weinen.
„Was für eine Tür?" fragte sie mit blassem Gesicht.

„Harry, bitte", beschwor Hermine ihn zugleich, „lass es sein!"

Harry wollte ganz bestimmt nicht auf Hermine hören, was ihn dazu brachte, ihr sein Gesicht wieder zuzuwenden. Keine Tränenspur verriet ihn.

Hermine musste einsehen, wie zwecklos ihr Verhalten war, denn Harry brauchte nur selbst an Mrs Blacks Portrait zu treten. Er stand schon an der Zimmertür und Ginny zögerte nicht, ihm zu folgen.
„Was ist mit dir?" fragte Harry noch einmal an Hermine gewandt, nur um sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Treppe zu drehen und die Stufen hinabzueilen.

Lupin war schon weg. In dieser Nacht war Vollmond. Harry musste für kurze Zeit daran denken, denn dies war der Grund, warum Lupin heute nicht bei ihnen bleiben wollte. Schämte er sich, Harry, Hermine und Ginny als Werwolf zu erscheinen? Snapes Trank sollte ihm doch ermöglichen, bei klarem Verstand zu bleiben ...

Schon schrie Mrs Black, denn Ginny hatte den Vorhang gelüftet. Hermine stand mit verschränkten Armen dabei. Harry hatte schon verstanden - sie wollte nicht diejenige sein, die ihm und Ginny diese geheime Tür zeigte. Kurzentschlossen streckte er seinen Arm vor, was einige Überwindung kostete, weil die schreiende Frau ihre Hände wie krallenbewährte Klauen ausfuhr und Gift und Galle aus ihrem Mund sprühte. Obwohl nur gemalt, sah diese Szene täuschend echt aus. Harry näherte seine Hand dem Bild. Er meinte sogar, die Fingernägel von Mrs Black zu spüren und ihre Spucke auf seiner Haut. Sobald er aber das Bild berührte, wurde aus der grässlichen Alten eine schwarze Tür. Stille brach herein. In Harrys Ohren aber schrie es noch immer. Er hatte den Eindruck, Mrs Blacks Schreie waren lauter geworden, seit Sirius tot war. Hermine trat augenblicklich neben Harry und tastete mit flachen Händen die Tür ab. Es gab keine Klinke oder irgendeinen Knauf. In das Ebenholz waren zwei Schlangen geschnitzt. Harry sah, wie sie züngelnd auf Hermines Hände zukrochen. Gleichzeitig rissen Ginny und er jeder eine von Hermines Händen von der Tür.

„Harry könnte mit den Schlangen reden", schlug Ginny vor.
„Meinst du, die Blacks hatten irgendeinen Parselmund in der Familie? Voldemort ist nicht verwandt mit ihnen", sagte Hermine und wich im selben Moment von der Tür zurück, als hätte sie etwas Verdächtiges bemerkt.
„Dann probieren wir es mit einem Passwort", meinte Ginny.

„Schlammblut", sagte Harry deutlich.
Hermine warf ihm einen abfälligen Blick zu.
„Vo-l-de-mort", sagte sie überdeutlich.

„Seht!" rief Ginny.

Die Tür war nur noch angelehnt, man konnte sie jetzt aufziehen. Aber weder Harry noch Hermine oder Ginny wagten es.
„Wir sind doch mutig, oder, ich meine, der sprechende Hut hat uns nach Gryffindor gesteckt?" vergewisserte sich Ginny bei den anderen und streckte gleichzeitig ihre Hand aus, die Tür zu öffnen, aber Harry hielt sie zurück.
„Ich habe ein ungutes Gefühl", sagte er.

Seine Eingeweide waren gefroren. Er musste unwillkürlich an Dumbledore denken und empfand aus einem Grund, den er nicht zu nennen vermochte, tiefes Mitleid mit dem alten Mann. Und ebenso fühlte er Trauer, Trauer um sich selbst. Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn er, Harry, nicht mehr da wäre, wenn er gestorben wäre. Bei diesem Gedanken tat er sich selbst sehr leid, doch am meisten Dumbledore.

Wenn Ginny ihn nicht einmal kräftig gerüttelt hätte, wäre Harry wohl in solcherlei traurigen Grübeleien stecken geblieben.
„Harry! - Harry!" sagte sie zweimal und verpasste ihm fast so etwas wie eine Ohrfeige, „ich glaube, das kommt von der Tür."
Harry war nun wieder bei der Sache und erinnerte sich nur noch daran, was er eben empfunden hatte. Dumbledore tat ihm wirklich von allen am meisten leid. Wenn Harry wirklich sterben würde, wüsste Dumbledore im selben Moment, dass alles aus war. Niemand mehr stünde Voldemorts Macht im Wege. Keiner hätte die Kraft dazu. Dann war es überhaupt sinnlos, dass Harry jemals die Gabe besessen hatte, Voldemort besiegen zu können ...

Diesmal ertappte sich Harry selbst bei seinen Gedanken, denn als er Hermines Gesicht sah, wusste er, dass er sie nicht denken sollte.
„Hermine!" riefen Ginny und er fast gleichzeitig.
Ginny fasste Hermine an den Schultern und schüttelte sie, wie sie es auch bei Harry getan hatte.
„Hermine!" sagte Harry noch einmal, „es ist bloß eine Tür! Wir können sie wieder schließen."
„Nicht!" Hermine gebot ihren Freunden mit einer Armbewegung, die Tür nicht anzurühren.

„Von allen, die das Haus durch diese Tür verließen, nahm man gemeinhin an, sie wären gestorben. Und ich muss euch sagen, man hat noch keinen wieder gesichtet." - Harry drehte sich zum Raum: Wer redete? - Es war ein bärtiger Zauberer auf einem der Portraits in der Halle.

„Sie sind vielleicht wirklich in den Tod gegangen", überlegte eine Hexe von einem benachbarten Bild, aber jemand von der Wand gegenüber räumte sofort ein:
„Ich weiß, dass man durch diese Tür in die wirkliche Welt und sogar an geheime Orte gelangt."
„Nur wird man in der wirklichen Welt nicht mehr wahrgenommen, wenn man sie durch diese Tür betreten hat", sagte der bärtige Zauberer.
„Und man kann nichts mehr bewirken", ergänzte ein viertes Portrait.
„Mit dir habe ich noch eine Rechnung zu begleichen", sagte der Bärtige zu jenem vierten, der sich gerade zu Wort gemeldet hatte.
„Bei mir gibt's Tee", flötete die Hexe von gegenüber - sie war neben einem runden Tisch gemalt, auf welchem eine schlanke Vase mit blauen Lilien stand und davor ein Teeservice. Zierliche Porzellantässchen klapperten einladend auf ihren geblümten Untertassen. Das Gespräch der Portraitierten drohte, banal zu werden.
„Sagt alles, was ihr über diese Tür wisst!" rief Harry in die Runde.

Die Hexe strich mit langen Fingern an den Blättern ihrer blauen Lilie entlang nach oben bis zu der Spitze einer Blütenknospe.
„Wenn du dadurch gehst, Harry Potter, wird dich jeder, der dieses Haus betritt, für tot halten. Er wird von deinem Tod überzeugt sein, verstehst du?" sagte sie fast im Flüsterton.
„Natürlich versteht er nicht", sagte der Bärtige, „ich wünsche meinen Tee ohne Milch."

KNALL! Hermine hatte die Tür zugeschlagen. Jetzt würde es keinen Tee mehr für den bärtigen Zauberer geben. Mrs Black war sie selbst und keine Tür, und sie schrie und alle anderen mit ihr.
„Warum hast du das getan?" fragte Harry, aber seine Worte gingen unter.
Hermine kämpfte schon mit dem Vorhang.

Das nächste, was sie wieder sagte war, „morgen ist dein Geburtstag, Harry."

Sie saßen in dem Zimmer, das Ginny und Hermine sich teilten, ziemlich erschöpft von Mrs Blacks Geschrei. Harry wusste, dass sein Geburtstag ohne Ron kein schöner werden würde. Er sagte, was er dachte,
„Man kann durch die Tür an geheime Orte gelangen, also gehen wir durch die Tür und finden heraus, wo Ron ist."

„Alle, die das Haus betreten, werden glauben, wir wären tot - du hast es gehört, Harry!" sagte Ginny, „Voldemort wird Ron umbringen, wenn er erfährt, dass man dich für tot hält, denn dann ist Ron nutzlos für ihn geworden!"
Sie wurde ganz leise.

Harry stellte sich vor, wie Dumbledore reagieren würde, wenn er Harry nirgends mehr ausfindig machen könnte. Es gäbe bestimmt keinen Zauber, der Dumbledore von Harrys Tod überzeugen könnte, wenn Harry nicht tatsächlich tot war.
„Glaubt ihr, Dumbledore fällt auf den Zauber rein? Bestimmt weiß er sogar von der Tür und wollte sie vor uns geheim halten", sagte er.

„Ist euch klar", sagte Hermine, „dass alles, was mit dieser Tür zu tun hat, schwarze Magie ist?"
„Du hast selbst gesagt, wir sollten uns mit schwarzer Magie beschäftigen", erinnerte Harry sie.
„Sich mit ihr zu beschäftigen heißt nicht, sie zu benutzen!"
„Wir wollen Ron finden und uns nicht der Gefahr aussetzen, dabei von Voldemort oder seinen Leuten geschnappt zu werden. Du hast gehört, dass man durch diese Tür in die wirkliche Welt gelangt, aber in dieser Welt nicht mehr wahrgenommen wird. Genau das brauchen wir."
Harry nahm Hermine genau ins Auge. Sie konnte sich doch keinesfalls noch länger gegen einen so genialen Plan stellen.

„Dennoch handelt es sich um schwarze Magie. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann ist die Welt hinter dieser Tür ein Raum des Hauses der Familie Black, und er wurde als solcher erschaffen, um die wirkliche Welt manipulieren zu können", erklärte Hermine.

„Hatten die Portraits nicht gesagt, man könne in der Welt hinter der Tür nichts bewirken?" fragte Ginny.

„Spionage ist auch eine Art Manipulation, oder wenn man andere glauben macht, man sei tot - Die Blacks haben sich solch einen Raum doch nicht in edeler Absicht eingerichtet! Und" - Hermine hob die Hand, um Harrys Einspruch abzuwehren, „man kann Schwarze Magie nicht besser machen, als sie ist, indem man sie für gute Zwecke einsetzt - das weiß ich, seitdem ich mich mit Hexerei beschäftige. Jeder wird es euch bestätigen!"

Harry dachte angestrengt nach. Gab es eine bessere Möglichkeit, Ron aufzuspüren? In dem Moment, da er sich die Frage stellte, wusste er, dass er sich nur auf den Grimmauldplatz stellen musste - für ihn wäre es kein Problem, Ron zu finden, wenngleich er sich dabei nur auf seine Intuition verlassen konnte und sich darüber niemandem mitteilen können würde.
„Wenn wir nicht diesen Weg nehmen, Ron zu finden, dann nehme ich ganz allein einen anderen", sagte er mit ruhiger, klarer Stimme.

„Ich will mit Harry durch diese geheime Tür gehen!" - Ginny stellte sich neben ihn.

„Das darfst du nicht!" widersprach Hermine.
Sie sah nur Harry an. In ihrer Stimme lag kein Flehen mehr. Sie bebte, und ihre Hand war zum Hosenbund geglitten, wo ihr Zauberstab steckte. Harry war für kurze Zeit versucht, ebenfalls seinen Zauberstab zu zücken. Dann aber hielt er die geöffneten Hände reglos, die Handflächen nach außen gekehrt. Hermine konnte sehen, dass er auf diese Weise – in einem Zaubererduell – nicht mit ihr ringen würde.
„Überleg mal", sprach er langsam, „wenn du an Rons Stelle ..."
„Ich will nicht dass Ron stirbt, aber wenn ich an seiner Stelle wäre – Mann! - hier geht es um mehr als Rons Leben – das glaube ich jedenfalls."
Die Festigkeit in Hermines Stimme ging verloren, doch Hermine kämpfte noch darum. Sie schluckte,
„du, du... mit dir könnte womöglich eine Welt zusammenbrechen. Warum sonst will Voldemort dich unbedingt vernichten? Er fürchtet, dass du ihm gefährlich werden kannst, und ich denke, er fürchtet dich zu Recht!"

Hermine machte Harry einen Moment sprachlos. Sie war in ihren Überlegungen dem Inhalt der Prophezeiung, den Harry wie ein Geheimnis bewahrte, sehr nahe gekommen. Wenn sie dachte, dass Voldemort Harry zu Recht fürchtete, dann kannte sie Harrys Geheimnis im Prinzip. Er musste sie nicht mehr einweihen, und es würde nicht mehr so dramatisch klingen, wenn er ihr einmal sagen würde, was Trelawney geweissagt hatte. Aber wollte er Hermine oder einem anderen Menschen überhaupt etwas sagen?

„Wenn ich hier rumhocke und versuche, Kreachers Attacken zu entgehen, bin ich wohl kein bisschen gefährlich", sagte Harry und ging wie beiläufig zur Tür. Er hatte die Klinke schon niedergedrückt. Krummbein quetschte sich durch den entstandenen Spalt ins Zimmer.

„Darum geht es nicht, Harry!
Der Orden und das Ministerium suchen Ron im ganzen Land und im Ausland. Sie werden ihn finden - du hast gehört: Dumbledore will dein Leben nicht aufs Spiel setzen – Und ihm ist Rons Leben bestimmt genauso wichtig wie es Rons Mutter und Vater und Ginny und seinen Brüdern am Herzen liegt, genauso wichtig wie dir und mir."

Harry ahnte nicht, worauf Hermine hinaus wollte.
„Ich war auf der Versammlung des Ordens. Die waren total ratlos! Selbst Dumbledore hat geguckt, als ob Ron schon –", er sprach nicht weiter, weil er Ginny nicht zum Weinen bringen wollte, aber es stimmte, Dumbledores Gesicht hatte sich buchstäblich versteinert, als niemand der anderen Ordensmitglieder einen Rat wusste.
„Okay, Hermine, heute Nacht schlaf ich noch einmal drüber. Du brauchst mich also nicht verhexen."

Für Ginny kam Harrys Entscheidung so unvermittelt, dass ihr der Mund offen stand, aber die Worte fehlten. Hermine folgte, Krummbein auf ihrem Arm tragend, Harry vor die Tür und blieb so lange auf dem Treppenabsatz stehen, bis sie ihn in seinem Zimmer verschwinden sehen konnte.

Harry machte kein Licht. Der Mond schien durchs Fenster auf das Fußende vom Bett mit der zurückgeschlagenen Decke, wo Kreacher die explosive Wärmflasche versteckt hatte. Hermine und Ginny hatte Kreacher nichts ins Bett gelegt. Harry hatte vergessen, mit ihnen über Kreacher zu reden. Er hatte ihnen nicht gesagt, dass er nicht wusste, wie er mit dem Hauselfen überhaupt noch in einem Haus leben sollte. Auch jetzt musste er wieder wachsam sein. Ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch sagte Harry, dass er nicht allein in seinem Zimmer war. Er spähte in die dunklen Ecken, die das Mondlicht nicht erreichte. Und dann -
Impedimenta!"
Ein Körper fiel dumpf zu Boden.
Lumos", der Zauberstab gab Harry Licht, und er sah tatsächlich die Gestalt eines Hauselfen am Boden liegen.
Er musste nicht lange hinsehen, es kümmerte ihn nicht mehr. Aus dem Koffer unter seinem Bett zerrte er eine Jacke und verließ das Zimmer und das Haus.

Harry hätte Wohlbehagen fühlen können, als er nach einer langen Woche des Eingesperrtseins einen seichten, warmen Lufthauch in seinem Gesicht kribbeln spürte. Er hatte den Modergeruch und die klamme Kälte des Hauses der Blacks eingetauscht mit sommerlicher Nachtkühle und dem vertrauten Duft des Sommerlaubs der Büsche und Bäume, und dennoch wurde ihm kaum wohler. Da stand er mitten auf dem Grimmauldplatz, und plötzlich kam ihm eine Ahnung, wo er Ron suchen musste. Nur eine Ahnung, die er nicht laut hätte aussprechen können, von der er aber wusste, dass sie ausreichte, Ron zu finden. Er folgte ihr. Die Straßen lagen stiller als am Tage, und das Laufen fiel ihm nicht schwer. Müdigkeit und Ermattung waren von ihm gewichen. Der Weg führte durch die Innenstadt, die zur nächtlichen Stunde von allerlei Volk belebt war. Jetzt gingen die Muggel einmal nicht ihrer Arbeit nach, um diese Zeit legten sie den Alltag ab. – Harry hatte Tante Petunia auf Silvesterpartys erlebt; wenn sie betrunken war, dann verlor auch sie alles, was sie normal nannte. Aber sie war dann nicht weniger schrecklich in Harrys Augen, sie ähnelte dann einem zu groß geratenen Kind und erregte Harrys Mitleid. Die Reklameschriften der Kaufhäuser, die Leuchtbuchstaben über den Eingängen der Lichtspieltheater, Laternen und Lichterketten in den Bäumen vor den Kaffees – alles strahlte durcheinander und überflutete Harrys Sinne. Dennoch fand er in dem Wirrwarr der Großstadt seinen Weg - er musste nicht einmal darüber nachdenken. Auch nicht, als die Straßen schmaler und dunkler wurden. Immer wusste er genau,wann er wieder um eine Ecke biegen und welchen Fußwegen er folgen musste.Bald kam er an einen Friedhof, den eine alte aus unbehauenen Feldsteinen geschichtete Mauer umgab. Harry passierte die kleine Gittertür ohne Furcht. In den Mauern schien es doppelt so still wie außerhalb, und nur das weiße Mondlicht erreichte diesen Ort. Der Anblick der Grabsteine berührte etwas in Harry. Zauberer verschwanden wohl einfach, wenn sie starben, dachte er. Jedenfalls kannte Harry kein Grab eines Zauberers. Sirius hatte man auch nicht beerdigt, und niemand hatte Harry je das Grab seiner Eltern gezeigt. Unwillkürlich verlangsamte Harry seinen Schritt. Er dachte daran, dass er noch nie in Godrics Hollow war, wo seine Eltern zuletzt lebten und auch starben. Vielleicht musste er dort nach ihren Gräbern suchen.
Den nächsten Schritt führte Harry nicht mehr zu Ende. Er trat wieder rückwärts, weil vor ihm auf dem Weg Augen leuchteten. Der Schatten eines Baumes verbarg die Kreatur, der die Augen gehörten. Harry richtete seinen Zauberstab auf das Augenpaar und wartete einen gespannten Augenblick. Das Wesen im Schatten fing an zu fiepen. Es war ein Wolfshund, der in den Streifen Mondlicht auf Harry zutrat. Er kam mit der Schnauze bis an Harrys Bein, blickte zu Harry hoch und winselte. Harry sah das räudige Fell, sah in die Augen des Tieres, während es ihn anjaulte, und ein kalter Schauer ging über seinen Rücken. Harry wurde übel, aber gleichzeitig war ihm, als hätte er seine Besinnung wiedergefunden - obwohl er sich nicht erinnern konnte, wann er sie verloren haben sollte. Er musste wieder umkehren zum Grimmauldplatz. Er durfte nicht in Voldemorts Arme rennen, und das tat er, wenn er seiner anfänglichen Eingebung folgend, Ron an seinem Aufenthaltsort aufsuchte. Ihm schlotterten die Knie. Ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper. Der Wolfshund hatte seine Augen nicht von Harrys abgewandt. Überstürzt wandte Harry sich um und rannte, was seine Kräfte hergaben. Er schöpfte aus einer Quelle, die ihm immer dann zur Verfügung gestanden hatte, wenn es um sein Leben ging. Jeden Moment hatte er das Gefühl, seine letzte Kraft zu geben, aber er wusste, dass er nicht aufgeben durfte, denn da wäre nur noch Voldemort. Die Furcht davor überwältigte Harry. Er kämpfte verbissen um jeden Meter, vorbei an parkenden Autos, Straßenlaternen und Neonreklame. Bald würde er nicht mehr vorwärtskommen - wenn die Angst ihn erstickte. Harry wusste, dass es seine eigene Angst war, die ihn zu Fall bringen würde. Er fühlte sich plötzlich verloren in der riesigen Stadt unter lauter Muggeln. In seinem Kopf herrschte vollkommene Leere. Nichts, an das er sich klammern konnte. Harry sah an sich hinunter. Seine Beine bewegten sich noch immer. Mit den Füßen brachte er sich weiter, brachte sich aus irgendeiner Gefahr, von der er kein Bild mehr hatte. Bis der Wolfshund wieder auftauchte - das Bild des winselnden Hundes vor seinem geistigen Auge.
Lauf, fiel es ihm wieder ein, lauf zum Grimmauldplatz Nummer Zwölf! Lauf um dein Leben!
Harry rannte. Das Bild des Hundes gab ihm keine Kräfte, aber Harry kannte wieder sein Ziel. Er versuchte regelmäßig zu atmen, um den Druck in seiner Brust zu mindern. Er stellte sich vor, dass Rennen schon immer sein Element gewesen sei, dass es nichts kostete, sich schneller als andere zu bewegen, weder Kraft noch Atem. Er lief wie auf Wolken, bis seine Füße auf den Stufen zum Haus am Grimmauldplatz Nummer Zwölf ins Stolpern kamen. Ehe Harry die Arme vorstrecken und sich mit den Händen auffangen konnte, schlug er mit dem Kinn auf die oberste Stufe. Er zog sich hoch und öffnete sich die Tür, an der es außen keine Klinke gab mit dem Zauberstab.
Alohomora!"
Das funktionierte nur, weil die Tür von innen nicht verriegelt worden war. Hermine und Ginny hatten Harrys Fortgang nicht bemerkt. Für einen kurzen Moment lehnte Harry mit dem Rücken gegen der Tür, nachdem er alle Riegel zugeschoben hatte. Heiße Stiche bohrten sich durch seine Brust. Doch bevor ihn die körperliche Erschöpfung einholte, erklomm Harry die Treppe zum Zimmer der Mädchen und riss Hermine und Ginny aus dem Schlaf.
„AAAHHH!" Hermine fuhr schreiend hoch, als erwachte sie aus einem Alptraum. Als sie begriffen hatte, dass jemand in ihrem Zimmer stand, ergriff sie sofort ihren Zauberstab und leuchtete mit ihm in Harrys Gesicht. Sie stieß einen zweiten, aber leiseren und kürzeren Schrei aus.
„Was - was - Bist du... Wie ist das passiert? Was ist los? Harry!"
Ginny war unterdessen aufgestanden und besah sich Harrys Wunde am Kinn. Dann ging sie an ihren Koffer und kramte. Schließlich brachte sie Harry ein Zauberpflaster.
„Entschuldigt", sagte Hermine und atmete erleichtert aus, „ich dachte nur - das viele Blut - habe vorher schrecklich durcheinander geträumt ..."
Harry hatte sich am Fußende ihres Bettes niedergelassen.
„Hey, Harry? Bist du gerannt?" fragte Ginny, die die Wunde versorgte.
So wie Harry um Luft rang, und mit schweißüberströmtem Gesicht konnte er sie wohl kaum davon überzeugen, dass nichts Außergewöhnliches vorgefallen war. Aber das wollte Harry auch gar nicht. In seinem Kopf wurden die Gedanken klarer. Er wusste wieder, warum er den Weg durch die Stadt genommen hatte, dass ihn auf dem Friedhof ein mitleiderregender Hund, der einem Wolf ähnelte, aufgehalten und zur Umkehr bewogen hatte und...
„...dass wir durch die Tür gehen müssen! Ich weiß den Weg zu Ron! Ich weiß es!"
„Du warst draußen!" stieß Hermine aus und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Ich hätte es wissen müssen!" klagte sie sich an, „es war sogar in meinem Traum ..."
„Wir müssen durch die geheime Tür!" sagte Harry mit Nachdruck.
Hermine stöhnte.
„Ich mach alles, was du willst, Harry! Es ist gut, wir gehen dadurch."


an StarHeyoka: vielen Dank für dein langes Review, je detaillierter, desto besser. Nun höre ich mal, wie mies Hermine rüberkommt, obwohl ich Hermine nie negativ gesehen habe. Aber es stimmt, dass doch all ihre Taten bisher sehr unrühmlich scheinen. Pairing gibt es vielleicht, weil Harry ja auch einfach in dem besten Alter für solche Geschichten ist, aber wenn, dann wird es garantiert nmicht so kommen, dass sich nachher alles nur noch um die Liebe und die Rettung der Liebsten und so dreht. Ich find das so toll bei HP2: da tötet Harry das ungeheuer und erlöst Prinzessin Ginny, aber das nur nebenbei. Pairing - wer mit wem, ist die Frage. Kreachers Ende muss noch etwas zurückgestellt werden, aber in den nächsten Kapiteln tut sich da kontnuierlich etwas an dieser Sache. Ich gebe übrigens, was Kreacher betrifft, Hermine Recht, wenn sie in Kapitel 9 etwas bestimmtes sagt ...

achso: Ginny sagt, warum sie Voldemort oder Ron nicht finden könnten, wenn sie der Eule folgen würden.