Kapitel 6, Tot geglaubt

„Alles Gute zum Geburtstag, Harry", seufzte Ginny noch bevor sie Mrs Black weckten, um sie sogleich in eine Tür zu verwandeln.

Es war Harrys sechzehnter Geburtstag, und in dem Moment, da sich die Tür öffnete, glaubte Harry, dass es sein letzter sein würde. Hermine gratulierte ihm nicht, nicht nur weil sie Harrys Vorhaben nicht billigte, sondern auch weil – und das wusste Harry über Hermines Einstellung – sie das Gefühl nicht los wurde, dass es wie ein schlechter Witz rüberkommen würde, eine Gratulation auszusprechen, bevor sie durch eine Tür gingen, die unter einem Fluch stand, der so schwarz war, dass selbst Hermine noch nie in irgendeinem Buch darüber gelesen hatte.

Ginny ging als Erste.
Sie ist tot, durchfuhr es Harry, und noch ehe er darüber nachdenken konnte, war er durch die Tür gesprungen. Wenn nur eine winzige Chance bestand, Ginny zu retten ...

„Ginny!" rief er verblüfft, als er auf der anderen Seite stand. Sein Atem ging schnell. Ginny sah ihn besorgt an.
Die Tür führte auf einen Hof, denselben, in dem Kreachers Wärmflasche explodiert war. Das Feuer hatte seine Spuren hinterlassen, trotzdem gab es noch ein paar unversehrte Holunderbüsche und Flecken grünen Grases. Zur rechten Seite stand eine hohe Mauer, auf der junge Birken wuchsen. Zur Linken war der Giebel eines Nachbarhauses. Es blieb allein der Weg nach vorn über einen breiten Wassergraben.
Wo steckte Hermine?
Harry sah sich um.
Von außen war die Tür nicht aus schwarzem Ebenholz. Sie bestand aus einfachem Holz, dem Regen und Sonne zugesetzt hatten. Anstelle von Verzierungen wies sie Kratzspuren auf und ein zerstörtes Schloss, denn die Tür besaß auf dieser Seite ein Schloss und einen Türknauf. Harry ging wieder zur Tür und drückte dagegen. Zu seinem Entsetzen fand er sie verschlossen.

„Hermine!" rief er und donnerte mit den Fäusten gegen das verwitterte Holz, „Her-mi-ne!"

Er stieß mit dem Fuß und rammte seine Schulter in die Tür. Sie wirkte altersschwach, morsch und splittrig, dennoch ließ sie sich nicht einmal rütteln.

Alohomora", versuchte es Ginny mit dem Zauberstab, „Voldemort" sagte Harry das Passwort her, das ihnen die Tür von innen geöffnet hatte - nichts passierte.

Harry verpasste der Tür einen Fußtritt, diesmal aus Wut und Verzweiflung. Er vermutete, Hermine in Tränen aufgelöst, im Glauben, er und Ginny seien nicht mehr am Leben, unfähig, Mrs Black zu berühren und das Passwort zu sagen.

„HERMINE"

Aber Hermine würde doch nie den Kopf verlieren; nachdem sie alles über den Zauber, der auf der Tür lastete, wusste, würde sie Harry und Ginny doch unverzüglich folgen. Oder aber Kreacher hatte seine Hände im Spiel.

In einem hilflosen Versuch warf sich Harry mit dem ganzen Körper gegen die Tür und landete hart auf dem Steinboden der Halle.
Hermine war zurückgesprungen.

„Harry", rief sie, und es klang fast wie ein Vorwurf.

Harry rollte vom Bauch auf den Rücken und sah Hermine entgeistert an. Sie weinte nicht, sie wirkte vollkommen gefasst, höchstens ein wenig erstaunt, weil Harry die Tür beinahe an Krummbeins Kopf geschlagen hätte. Sie hielt Krummbein in den Armen und drückte ihn gegen ihre Brust. Harry musste feststellen, dass nicht er mit seiner Kraft sondern Hermine mit dem Passwort die Tür dazu gebracht hatte, aufzuspringen, und Harry nur zufällig im selben Moment ...

„Warum hat sich die Tür überhaupt geschlossen, Hermine, was war los mit dir?" fragte Harry.

Er saß auf dem Boden der Halle und betastete seine linke Schulter bis hinab zum Ellenbogen, währenddessen er die Augen wieder auf Ginny richtete, denn der Gedanke, sie sei unwiderruflich tot, irritierte ihn schon ein wenig, auch wenn sie mit den Füßen fest auf dem Boden jenseits der Türschwelle stand und gelassen im Türrahmen lehnte, so gelassen, wie man nur sein konnte, wenn man einer Reise, womöglich einer Weltreise mit ungewissem Ausgang entgegensah.

„Kreacher hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen", sagte Hermine in Harrys Rücken, „ich hatte gezögert, euch zu folgen, weil ich wissen wollte, ob ich in der Lage wäre mich gegen diesen Fluch zu wehren, ich meine, ich wusste doch eigentlich, dass ihr noch leben würdet."

Sie sagte das so einfach, während es in Harrys Kopf schmerzhaft pochte. Er war froh, als Ginny wieder sprach.
„Hermine kann dem Fluch widerstehen", sagte sie.
Und selbst noch, als sie fragte.
„Wieso bist du nur so anfällig für diesen Fluch, Harry?"

Er antwortete natürlich nicht.

„Hört zu", sagte Hermine, „wenn wir die Tür von außen zu öffnen nicht in der Lage sind, dann sollten wir doch eine Nachricht hinterlassen. Jemand muss im Haus sein und uns einlassen."

„Sie werden uns wieder retten wollen", sagte Harry mit einem Ton, in dem Bitterkeit mitschwang.

„Ich schreibe, dass uns niemand folgen darf. Punkt. Sie werden es akzeptieren müssen."

„Wie kannst du das annehmen?"

„Wenn ihr wirklich durch diese Tür wollt, dann müsst ihr mich mitnehmen."

(Harry brauchte den Blick nicht von Ginny abwenden, um zu wissen, wer das gesprochen hatte.)

„Kreacher! Ich habe gesagt du bleibst im Schrank!" bellte Hermines Stimme.

„Ihr werdet Kreacher auf der anderen Seite brauchen", sagte Kreacher in seinem schleimigen Untergebenenton.

„Wozu?" fragte Harry barsch.

„Das werdet ihr merken, wenn ihr Hunger habt."

„Du meinst, wir kriegen auf der anderen Seite nichts zu essen?"

„Helles Köpfchen", sagte Kreacher zu Ginny und klang dabei kein bisschen mehr nach einem Untertan, „zu essen kriegt ihr schon, aber es macht euch nicht satt. Nur ich kann euch brauchbares Essen und Trinken besorgen."

Er sagte es ihnen ohne Umschweife, man musste ihm seine Worte glauben. Er war eindeutig ehrlich zu ihnen, aber er wollte auch eindeutig unbedingt mit ihnen kommen. Allein bei dem Gedanken wurde Harry grün.

„Gelten für Kreacher auf der anderen Seite der Tür nicht die selben Gesetze wie für uns?" fragte Ginny ungläubig.

„Hauselfen besitzen besondere Fähigkeiten, also sagt Kreacher möglicherweise die Wahrheit", belehrte Hermine sie.

Harry – alarmiert durch Hermines Ton – wandte sich von Ginny ab und begegnete Hermine mit einem vernichtenden Blick.

„Ich weiß", beschwichtigte sie ihn, „er hat versucht uns umzubringen."

„Du weißt nicht!"sprach sich Harryin Erregungund vergewisserte sich Ginnys mit einem Schulterblick. „Wir besorgen uns Proviant und lassen Kreacher hier!"

Hermine kam nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen - an der großen Eingangstür zur Halle verschoben sich die Riegel.

„Lupin", zischte Ginny. (Sie hatten mit Lupins Rückkehr gegen Morgen gerechnet, weil er doch wohl nur wegen dem Mond am Abend zuvor von ihnen gegangen war.)

Wie auf Kommando sprangen Harry und Hermine zu der geheimen Tür hinaus. Kreacher folgte ungebeten hinterdrein und zog am Knauf.
Die Tür fiel ins Schloss.

„Los, du gehst vor mir!" herrschte Harry den Hauselfen an und dirigierte ihn mit dem Zauberstab.

Den Graben überquerten sie schwimmend - Hermine hatte den größten Teil ihrer aller Kleider mit einem Schwebezauber ans andere Ufer gehext. Kreacher weigerte sich, ins Wasser zu springen. Er meinte, sein Hauskleid - ein dreckiges Geschirrtuch, dass seinen Leib notdürftig bedeckte - würde im Wasser nass, und er wolle es keinesfalls ablegen. Schließlich gab er zu, nicht schwimmen zu können, also holte Harry ihn rüber.

„Wohin?" fragte Ginny, nachdem sie sich die trockenen Sachen über die nasse Unterwäsche gezogen hatten. Harry wurde für einen Moment still und horchte in sich hinein. Welchen Weg hatte er in der Nacht, die gerade durch den angrauenden Morgen abgelöst wurde, genommen?
Er erinnerte sich nicht mehr.
Hermine sah ihn stirnrunzelnd an.

Nocturnegasse", tippte Harry.

Sie schlugen sich durch viele Gärten, ehe sie auf eine belebtere Straße trafen. Dort steuerten sie auf die nächste U-Bahn-Station zu, und Kreacher hopste überglücklich vor Harrys Zauberstab her.

In der U-Bahn bekamen sie den ersten Geschmack davon, was es hieß, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Eine Frau mit rotlackierten Fußnägeln setzte sich auf Hermines Schoß, ohne sich im geringsten daran zu stören. Sie nahm auch dann noch keine Notiz von Hermine, als diese sich unter ihr hervorzwängte. Niemand in der Bahn bekam etwas mit außer Harry, Ginny, Kreacher und Krummbein, der sich in letzter Sekunde mit einem Sprung retten konnte.

Von jetzt an achteten sie sehr genau darauf, ob sie irgendwelchen Leuten in der Quere waren - unter Dudley Dursleys Gewicht hätte Hermine nicht einmal mehr einen Atemzug getan. Sie erreichten den Tropfenden Kessel, wo sie sich nun davon überzeugen konnten, dass selbst Zauberer und Hexen nichts von ihrer Anwesenheit bemerkten. Ginny ging soweit, einem Zauberer, der so ähnlich aussah wie ihr Lehrer für Zauberkunst Professor Flitwick, den Teller mit Eiern und Schinken wegzuziehen. Der Junge, der die Leute bediente, brachte dem Gast umgehend eine neue Portion.

„Alles scheint mir unlogisch" seufzte Hermine, „wieso merkt der Mann nicht, dass du ihm sein Essen wegnimmst, aber man bringt ihm einen neuen Teller?"

Ginny zog die Augenbrauen hoch. Sie war mit Kauen und Schlucken beschäftigt und ließ die Gabel an Harry weitergehen. Am Grimmauldplatz hatten sie tagelang nur noch in Wasser gequollene Haferflocken, Äpfel und Tee ohne Milch genossen. Im Nachhinein war Harry sich sicher, dass Kreacher die Vorräte geschmälert hatte.
Hermine fragte jetzt nicht mehr weiter, sondern aß, während Krummbein um ihre Beine schlich. Er machte ein Gesicht, als verspürte er Unmut. Andererseits war sein Gesicht nicht plattgedrückter als sonst, und es hätte auch Vorfreude auf das Wiedersehen mit Wurmschwanz ausdrücken können.
Kreacher setzte zu allem ein überlegenes Lächeln auf.

Am Ende fühlte sich Harry nicht weniger hungrig als vor dem Essen, aber er schob es auf den Umstand, dass sie sich zu dritt einen Teller hatten teilen müssen.

„Wir sollten aufbrechen", sagte er zu Ginny und Hermine.

„Ich bin noch nicht mal satt", erwiderte Ginny.
„Seht ihr, Kreacher hat uns nicht belogen", war Hermines Beitrag zu diesem Thema.
„Du tust gerade so, als hätte er das noch nie getan" Harry war sauer, ganz gleich, ob Hermine nun Recht hatte oder nicht. „Hast du nicht auch gerade vom selben Teller gegessen wie wir? Wie, bitte, sollen wir wissen, ob das Essen, was er uns vorsetzt nicht wieder vergiftet ist? Mit einem Probierzauber ist es auch nicht getan, es gibt schließlich auch langsam wirkende Gifte, zum Beispiel Niesmichvoll, schmeckt wie Bohnensuppe und du schaffst es als Meerschwein in dreißig Jahren bis zum Chefkoch."

„Hör auf, mir einen Vortrag zu halten, ich glaube mehr über Gifte zu wissen als du!"

„Wir hätten heute noch nicht durch die Tür gehen sollen!" unterbrach Ginny, „Proviant wäre echt sinnvoll gewesen und vielleicht auch unsere Besen - wenn ich an die U-Bahn denke."

„Vergiss nicht Harrys Tarnumhang", sagte Hermine schnippisch - „Da sind wir zu dieser Tür hinaus, und jetzt fällt uns ein, dass wir etwas vergessen haben. Vielleicht hätten wir vorher einen Plan machen sollen." Verärgert sah sie abwechselnd Harry und Ginny an.

Alle drei hielt es nicht länger auf ihren Stühlen, sie standen zu beiden Seiten des Tisches und stritten.
Nur Kreacher saß.
Und weil er so klein war, ragte sein Kinn gerade über die Tischkante. Mit blinkernden Augen verfolgte er den Streit und nagte dabei an einer Hähnchenkeule.

„Okay", sagte Hermine mit Blick auf Kreacher, „zurück können wir nicht. Ich mach den Test."

„Nein, machst du nicht!" rief Harry, „Eher bringe ich euch zurück!"

„Wen meinst du mit ›euch‹?" fragte Ginny.

„Dich, Hermine und Kreacher. Ich besorg mir zu essen und zu trinken und mach's allein. Ihr haltet dicht, wenn jemand fragt."

„Vergiss es, Harry", sagten Ginny und Hermine wie aus einem Mund. Kreacher aber rutschte vom Stuhl unter den Tisch und klammerte sich wie von einem Fluch besessen um Harrys Bein.

„Bitte, bitte, meineherrinmögemirdieseschandeverzeihen, nimm mich dahin, wo du hin willst, mit."

Im gleichen Atemzugentsetzt über sein eigenes Benehmen, löste Kreacher den Klammergriff, seine Arme flogen förmlich auf und er zog sich zurück auf den Stuhl. Ob sein Kopf dabei mit Absicht gegen die Tischkante krachte, konnte niemand sagen.

Harry schwankte selbst noch zwischen Ekel und Mitleid, da sich der Hauself längst wieder gefasst hatte, Kreacher schnippte mit den Fingern und eine Platte mit gebratenem Geflügel erschien auf dem Tisch, daneben Tassen und eine Kanne heißer Tee.

Während Harry noch Kreachers Blick prüfte, sprang Krummbein auf den Tisch und roch an den Hähnchenkeulen. Harry sah fragend zu Hermine, ob sie es guthieß, wenn ihr Haustier sich für sie alle opferte, aber Hermine schien keineswegs beunruhigt, als der Kater über die Fleischkruste leckte und sich die Keule vom Teller stahl.

„Hermine, warum lässt du das zu?"

„Krummbein ist zur Hälfte ein Kniesel, und wenn dir das nichts sagt, dann schlag es bei Lurch Scamander, Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind nach."

Selig sah Kreacher die drei essen und sank zurück auf seinen Stuhl,
bald rutschte er fiebrig mit dem Po hin und her, und als Harry die Mädchen zum Aufbruch drängte, war Kreacher als Erster aufgesprungen. Hermine trank eben noch ihre Tasse aus und stellte sie klirrend auf die Untertasse zurück.

Sie verließen den Tropfenden Kessel zur Nocturnegasse hin.

Es war seltsam, die Nocturnegasse ohne Tarnumhang zu betreten, auch wenn Harry wusste, dass er und seine Freunde für die Umgebung unsichtbar waren. In dieser Gasse war sein Kopf mit der gezeichneten Stirn mehr wert als sämtliche Reichtümer in Gringotts und das Gold, das in Ägypten lagerte, zusammen. Bisher hatte sich Harry ein einziges Mal in seinem Leben hierher verirrt, und damals hatte ihm zum Glück Hagrid aus der Klemme geholfen, sonst wäre er gelyncht worden, da war Harry sich sicher. Es war seltsam, nicht bemerkt zu werden.

Kreacher, den Harry vor sich her bugsierte, genoss den Aufenthalt in der staubigen Gasse sichtlich. An jedem Schaufenster drückte er sich seine Schnauzennase platt. Harry musste Acht geben, ihn nicht zu verlieren. Tänzelte Kreacher in der einen Sekunde noch vor seinem Zauberstab her, war er in der nächsten schon abseits bei einem Geschäft stehen geblieben.

Sie gingen in der Richtung, die immer weiter von der Winkelgasse weg führte. Die Nocturnegasse machte den Eindruck, sie würde immer enger werden, so dass man am Ende nicht mehr durchpasste.
„Meinst du, dass wir hier richtig sind?"
„Ich kann den Weg zu Ron nicht beschreiben. Es ist ein Gefühl, das mir sagt, wo ich lang muss. In der vergangenen Nacht war es auch so - nur irgendwie ein bisschen anders."

Kreacher blieb zum letzten Mal an einem Schaufenster stehen. Der Laden sah einem Muggelgeschäft sehr ähnlich. Graugrüne Jalousien und ein Kaktus machten das Schaufenster trist. Einzig an dem Zettel, der liederlich von innen gegen die Scheibe geklebt worden war, erkannte man, dass es sich um ein Zauberergeschäft handelte.

Agentur für die Vermittlung von Drachen, Trollen und Dementoren für Serviceleistungen aller Art stand darauf.

An ihrem Ende täuschte die Nocturnegasse wirklich vor, man käme nicht weiter. Aber wenn man um die Häuserecke trat, die den Weg verstellte, eröffnete sich einem eine völlig neue Ansicht. Harry vergaß Kreacher einen Augenblick lang.
Sie standen auf dem Grimmauldplatz.
Das Haus der Familie Black starrte aus leeren Fenstern zu ihnen herüber. Es war an seinem Platz zwischen der Elf und der Dreizehn. Als müsste das immer so sein. Für jeden sichtbar.
Hermine blinzelte.
Dann schritt sie voran. Harry schleifte Kreacher am Handgelenk hinterher.

Die Tür ließ sich kinderleicht öffnen. Kein Modergeruch schlug ihnen entgegen. Nicht die übliche stickige Luft. Auch wenn sie vor einem Jahr unter Mrs Weasleys Anleitung die Doxys und den Schmutz im Haus der Blacks nahezu beseitigt hatten, war doch der Geruch nach gammeligen Tapeten und feuchtem Mauerwerk nicht verschwunden gewesen, und Harry fiel auf, dass er zum ersten Mal, da er seinen Kopf zur Tür rein steckte, nichts roch.
Er sah Dumbledore. Dumbledore im Gespräch mit Lupin. Dumbledore registrierte Harry, Hermine, Ginny und die offene Tür nicht. Harry wusste es. Schließlich konnte keiner sie bemerken. Nach der U-Bahn, dem Essen im Tropfenden Kessel und der Nocturnegasse konnte ihm diese Erfahrung nicht mehr neu sein. Neu war, dass es Dumbledore war, der ihn nicht sah. Der Schulleiter. Der Alte mit dem Silberhaar. Unantastbar oder UNNAHBAR - Harry gelangte zu Bewusstsein, dass er Dumbledore nicht kannte. Stets hatte Dumbledore Harry zu ergründen versucht, hatte über ihn gewusst, was Harry selbst nicht wusste. Von sich gab er das Wenigste preis. Wenngleich das Wenige Harry jedes Mal, da er darauf stieß, tief berührte. Ob es ihn rasend machte oder traurig. Immer berührte es den einen Punkt, von dem Harry nicht wusste, ob er Kraft daraus schöpfen sollte oder sich der Verzweiflung überlassen. Eine einzige Träne hatte Harry je an Dumbledore gesehen. Nun erinnerte er sich daran. Dabei war von Tränen keine Rede. Dumbledores Stimme klang fest.
„Nichts davon darf aus diesem Haus gelangen, denn es ist nicht wahr", sagte er.

„Siehst du, ich wusste, dass Dumbledore nicht auf den Zauber hereinfällt", wisperte Hermine.
„Was?" fragte Harry leise, "Was wusstest-"
„Schsch", zischte Ginny.

„ ... keine Minute mehr, da ich nicht daran denken muss. Was bedeutet das?" Lupins Hand klammerte sich am Geländer fest, dort wo es in der Gestalt eines Schlangenkopfes endete.

„Sie sprechen über unseren Tod", stellte Harry fest.
„Über DEINEN Tod, Harry. Was ist, wenn Voldemort davon ..."
„Schsch."

Lupin setzte zum wiederholten Male zu sprechen an und seine Stimme bebte, als endlich Worte über seine Lippen kamen.
„Dobby ...Dobby wird es in dieser Minute verbreiten."

„Dobby?" Harry schlug sich die Hand vor den Mund.

„Dobby?" fragte Dumbledore, „Er ist schon in Hogwarts? - Dann muss ich zu ihm. Remus", Dumbledore legte seine Hand auf die Hand, mit der sich Lupin auf das Geländer stützte, „kannst du im Haus bleiben?"

Ginny fand als Erste ihre Sprache wieder. Sie drängte zum Gehen, Ron finden, ihren Bruder. Harry gab die Richtung vor. Er dachte nicht daran, wie unwahrscheinlich es jetzt noch war, dass sie Ron retten konnten, bevor Voldemort die Botschaft vom Tod Harrys erreichte. Er wollte nicht daran denken. Auch wenn sich die Nachricht von ihrem Tod ab jetzt verbreitete – Dumbledore glaubte nicht an den Spuk, und vielleicht war es ja doch noch zu irgendetwas nütze, wenn sie den Weg zu Voldemort gingen.

Wie unter dem Einfluss eines bösen Traumes verließen sie London in westlicher Richtung.
Sie sollten die Sonderausgabe des Tagespropheten, welche die Zaubererwelt über die Bedeutung jenen Tages aufklärte, erst Wochen später zu lesen bekommen. Schließlich flatterten Zaubererzeitungen nicht einfach so durch die Gegend. Was sie sahen, waren Eulen, die über Land flogen. Unzählige Eulen mitten am Tag. Und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie etwas in ihren Fängen trugen. Keine Mäuse. Die Eulen kamen nicht von der Jagd.

„Mum hat mir erzählt, dass es so war an dem Tag, als Voldemorts Herrschaft besiegt war – jeder hat Eulen geschickt, um es dem anderen mitzuteilen."

Nach diesem Satz schwieg Ginny mindestens drei Tage, und Harry sagte, wenngleich er ohnehin schon selten redete, nur noch das Nötigste, weil er sich an Ginnys Unglück schuldig fühlte.

Oxford, Gloucester, Worchester und dann über die Berge bis zur Cardigan Bay. Öffentliche Verkehrsmittel, eine Eisenbahn, einen Bus oder ein Auto, in das sie sich ungesehen hineinzwängten, konnten sie nur bis Worchester benutzen, weil sich Harry danach nicht mehr sicher war, ob sie den Weg nicht doch verlieren würden, wenn sie für eine große Strecke auf ein Fahrzeug mitvorbestimmtem Ziel umstiegen ohne die Möglichkeit, auszuscheren. In einem der Bergdörfer hatten sie ein klappriges Fahrrad gefunden. Es half ihnen sehr, ihre Kräfte beisammen zu halten. Immer wenn es bergab gehen sollte, setzten sie Kreacher auf den Lenker, Ginny nahm auf dem Gepäckträger Platz und Hermine oder Harry auf dem Sattel. Ginny und Kreacher, die beide nie zuvor ein Fahrrad benutzt hatten, kreischten auf der Fahrt ins Tal, und in solch einem Moment stand der Hauself Harry so nahe wie ein Mensch. Die meiste Zeit aber konnte Harry kein Gefühl für ihn erübrigen, nicht einmal Verachtung geschweige denn Hass. Gleichgültig beförderte erKreacheraf demFahrradlenkerauch bergauf, während die anderen laufen mussten. Die drei Tage mit dem Fahrrad waren wohl die unbeschwertesten Tage ihrer Reise, wenn man davon absah, dass sie mit Ausnahme Kreachers um Rons Leben bangten, aber diese Zeit endete jäh. Hermine musste in den Serpentinen einem Auto ausweichen, das allein war nicht ungewöhnlich, nur diesmal schaffte sie es nicht, auf dem Fahrweg zu bleiben, sondern fuhr das Fahrrad vor Harrys Augen nach einem unfreiwilligen Schanzensprung ins abschüssige Gelände direkt vor den nächsten größeren Felsstein.

Ihre Blessuren heilten sie mit Zauberei, soweit sie dazu schon in der Lage waren, das Fahrrad jedoch, der geplatzte Reifen und die Acht in der Felge, ließ sich durch keinen Zauber mehr reparieren.

Hermine zählte schon zwölf rote Punkte auf der Innenfläche ihrer linken Hand, einer für jeden angebrochenen Tag, seit sie London verlassen hatten. Sie machten ihre erste Rast an der Cardigan Bay, die sich der Celtic Sea öffnete und jene wiederum dem Atlantischen Ozean. Vom Steilufer hingen ihre Beine herab und Harry saß abseits von den Mädchen. Wie immer gab es Tee mit Milch und etwas zu essen. An diesem Abend aber nahm die Milch, die sich Harry in den Schwarzen Tee goss, ehe sie sich mit dem Tee vermischte, die Form des dunklen Mals an. Wortlos stellte er die Tasse auf ein nacktes Stück Felsen und rührte nichts mehr, weder Essen noch Trinken, an. Wäre nicht Kreacher mit seinem geschmacklosen Einfall gewesen, hätte Harry vielleicht vergessen, in welchem Alptraum er immer noch war, denn das Gesicht des Meeres wollte Befriedung.

Erst Krummbeins Annährung ließ Harry die Depressionen, die ihn in diesem Moment gefangen hielten, zu Bewusstsein gelangen. Er nahm Krummbein und drückte ihn, wie es sonst nur Hermine mit ihrem Haustier tat, und blickte sehnsüchtig auf das Meer. Er hörte die Stimmen von Ginny und Hermine. Vielmehr als dem, was sie redeten, lauschte er ihrem Klang.

„Weißt du, dass Luna mal gesagt hat, sie könne die Zeit machen", meinte Ginny.

„Glaubst du, was Luna sagt?"

„Sie hatte es ernst gemeint, und wieso sollte sie sich so etwas ausdenken."

„Weil sie eine blühende Phantasie hat, denk doch mal an die Schnarchkackler!"

„Diese Schnarchtiere haben etwas damit zu tun –"

„Weißt du wie viel Macht man hätte, wenn die Zeit machen könnte ..."

Wie machte man Zeit? Der Mond machte die Gezeiten; aber nicht allein, und er war wahrscheinlich nicht mehr als ein überdimensionierter Stein, jedenfalls wohl kein Wesen. In zwei Tagen war Neumond.

Die Sonne war vor Minuten untergegangen, und der Himmel über der dunklen, aufgewühlten Wasserfläche stufte sich in blaugrauen Tönen ab. Die Wolken wieder glichen in ihrer Farbe dem Meer.
Harry hatte das Gespräch verloren.
Unvermittelt brach er sein Schweigen.

„Ich kann das Meer nicht riechen, ich finde, es riecht nicht richtig."

„Was?" Hermine wandte den Kopf zu Harry.

Ginny warf einen Stein und er verschwand in der Tiefe, man konnte weder sehen noch hören, wie er auf das Meer traf.

Jetzt, wo er Hermines Aufmerksamkeit hatte, löste sich Harrys Zunge, und er begann von ganz anderen Dingen zu sprechen als der nebensächlichen Tatsache, dass ihn sein Geruchssinn manchmal im Stich ließ. Seit dem Tag der Versammlung des Ordens hatte er keine Vision mehr von Voldemort gehabt. Seine Narbe war stumm geblieben. Kein Brennen, kein Puckern, nicht einmal ein Kribbeln hatte er verspürt.

„Es könnte daran liegen, dass wir jenseits der Tür sind. Von hier gibt es wahrscheinlich gar keine Verbindung mehr zur wirklichen Welt."

„Aber du hast selbst gesagt", unterbrach Ginny, „dass wir in einem Raum sind, der zum Haus der Blacks gehört. Dann sind wir noch in der realen Welt, zumindest in einem realen Raum."

„Er beinhaltet nur ein exaktes Spiegelbild der Welt, von der wir uns durch die Tür verabschiedet haben", sagte wieder Hermine.

„Das meine ich ja", erwiderte Ginny ungeduldig.

„Du vergisst", sagte Hermine, „dass auf der Tür ein Fluch liegt. Ein schwarzer Fluch. Deshalb halten uns alle für tot, und deshalb kann Harry keine Verbindung zu Voldemort bekommen."

„Wie findet Harry dann den Weg?"

Das wunderte Harry auch.

Sie schliefen eine letzte Nacht am Meer. Ganz gleich, welche Fragen sie beim Abendessen aufgeworfen hatten, waren sie von den langen Märschen am Ende eines jeden Tages so erschöpft, dass sie zum Einschlafen keine Ermunterung mehr brauchten. Einzig Krummbein blieb des nachts viele Stunden wach. Wenn Harry, Hermine und Ginny sich am Morgen zum Aufbruch vorbereiteten, kam er meist erst von seinen nächtlichen Streifzügen wieder.
An diesem Morgen führte sie der Weg wieder zurück in die Berge.
Kreacher beschwerte sich bis zum Mittag viele Male. Dann hatten sie einen Berg erklommen, in dessen Rücken ein von Menschen besiedeltes Tal im hellen Sonnenlicht lag, als hätte jemand das Spotlicht einer Bühnenbeleuchtung darauf gerichtet. Das Licht wirkte derart unnatürlich, dass es allen ins Auge sprang. Ginny bemängelte es als Erste.
„Glaubt ihr, das hier ist ein Spiegelbild der Realität?"
Hermine schüttelte den Kopf. Im gleichen Moment rümpfte Harry die Nase.
„Es riecht nach fauligem Mauerwerk", äußerte er.
„Ja, wie in Sirius' Haus", pflichtete Hermine bei.
„Aber seht doch mal genau hin!" rief Ginny unvermittelt und zeigte mit ausgestrecktem Arm ins Tal. Sie deutete auf den eigentlichen Grund ihres Innehaltens, denn auch Harry und Hermine hatten es gesehen, und dass sie stattdessen über Nebensächliches redeten, lag wohl an ihrer mieserabelen seelischen Verfassung.
Und Ginny zeigte nochmal,
„ein Quidditch-Stadion!"