Hermines Gesicht erhellte sich, wenngleich sie keine Leidenschaft mit Quidditch verband.
„Godrics Hollow", erklärte sie, „das muss Godrics Hollow sein!" – in Wales gab es kaum noch andere Orte, in denen genügend Zauberer wohnten, um zwei Quidditchmanschaften aufzustellen – „Ich habe darüber gelesen, dass es eine uralte Siedlung sei, wahrscheinlich um tausend vor –"
Sie unterbrach sich.
Harry hielt für kurze Zeit den Atem an.
Wohin hatte er sie geführt? Hatten sie den langen Fußweg unternommen, um schließlich in Godrics Hollow anzukommen? Oder war dieser Ort nur eine Zwischenstation, lag er zufällig auf ihrem Weg? Voldemort konnte unmöglich in Godrics Hollow sein!
Ginny hatte schon ein paar Schritte den Hang hinab gesetzt. Dann blickte sie zurück.
„Geht es hier lang?" fragte sie an Harry gewandt.
„... ähm ...jaah, ich denke schon."
Daraufhin setzten sie sich in Bewegung. Nur Kreacher stockte, und Harry musste ihn am Arm ziehen. Mit großen Augen und gerunzelter Stirn blickte er ins Tal, als ob er sich ebenfalls fragte, ob das schon ihr Ziel sei.
Schon beim Abstieg vom Berg begegneten sie Menschen in Muggelkleidung. Wanderern; Touristen. Unten im Ort wurden es dann immer mehr, und ihre Erscheinung und ihre Gelassenheit erinnerten Harry daran, dass wahrscheinlich Sommerferien waren. Wie seltsam musste es sein, Sommerferien zu haben.
In Godrics Hollow lebten Zauberer und Muggel zusammen, doch die Zauberer hatten diesen Ort zweifelsohne geprägt. Das Quidditch-Stadion konnten die Muggel natürlich nicht sehen. Aber die alten verhutzelten Häuser, deren Fachwerk mit Stroh und Lehm gefüllt war. Sie nahmen auf dem Boden nur wenige Quadratmeter ein und bildeten in der Höhe Luftschlösser in Miniatur. Hinter manchen dieser Häuser standen Stallungen, so groß und aus Stein, dass man in ihnen hätte Drachen halten können. Jetzt schienen diese Ställe leer.
Auch die Muggel wohnten in Fachwerkbauten. Ihre Häuser erkannte man daran, dass sie genauestens rekonstruiert und restauriert waren. In den Fensterchen baumelten Hexen mit Dumbledore-Nasen, wilden Haaren und Besen zwischen den Beinen. Obwohl die strengen Vorschriften des Zaubereiministeriums die Geheimhaltung der Welt der Zauberer vor den Muggeln garantierten, und also die Muggel die Zaubererhaushalte nicht für solche halten konnten, hatte sich auf der Muggelseite ein hartnäckiger Kult um Zauberei und Hexen ausgebildet.
„Hier soll also der Dunkle Lord wohnen", sagte Kreacher wie nebenbei, während er an Harrys Hand lief.
Harry reagierte nicht, jedenfalls ließ er sich nicht anmerken, ob die Rede des Hauselfen ihm etwas ausmachte.
„Hier also soll der Lord wohnen" wiederholte Kreacher. Und diesmal sah Harry auf ihn herab.
Selbst aus dieser Perspektive, aus welcher Harry Kreachers Gesicht nur von oben sehen konnte, wobei vor allem die Schnauzennase auffiel, bemerkte Harry Häme. Kreachers Hautfalten und Furchen, die auch von oben zu erkennen waren, hatten sich in solcher Weise aneinandergelegt, dass Harry, der das Gesicht des Elfen zum Überdruss kannte, auf ein hämisches Grinsen darin schloss. Harry riss seinen Arm, an dem er mit Kreacher verbunden war, hoch und schlug die Hand des Hauselfen aus. Für einen Moment standen sie einander zugewandt und der Elf blickte aus runden, feuerflackernden Augen zu Harry auf. Auch Harrys Augen blitzten. Im nächsten Augenblick jedoch stieß ein Passant an Harry, während Kreacher in die Höhe hopste und dann davon.
„Hier wohnt der dunkle Lo-ord", hörte Harry seine aufgekratzte Stimme.
Entgegenkommende nahmen Harry, aber auch Hermine und Ginny die Sicht auf Kreacher. Alle drei wussten, dass sie ihm unbedingt hinterher mussten. Nachdem Harry sich vergewissernd nach den Mädchen umgesehen hatte, begann er einen Schlängellauf um die Fußgänger und Radfahrer. An Engpässen wich er auf die Straße aus, denn Platz machte ihm niemand. Nur aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Krummbein an ihm vorbeiflitzte. Bald suchte er mit den Augen auch nach dem Kater. Vor einer niedrigen windschiefen Tür in einem der noch schrägeren und in sich verzogenen Häuserchen entdeckte er ihn wieder. Krummbein saß mit erhobenem Kopf auf der Schwelle und bewegte leicht den Schwanz. Hermine nahm ihn auf, sobald sie ankam, und drückte ihr Gesicht in sein Fell.
„Und was weiter?" fragte sie außer Atem, „Glaubst du hier ...?"
Krummbein entwand sich ihren Armen, sprang auf die Erde und wies auf die Tür, indem er seinen Körper reckte und an dem Türholz scheuerte.
„Geöffnet ab 3.00 Uhr", bedeutete ihnen ein Schild.
Sie waren bis jetzt durch jede Tür gekommen, so kamen sie auch durch diese und betraten über ein Paar Stufen, die unmittelbar hinter der Türschwelle nach unten führten, eine niedrige Gaststube. Krummbein verschwand in einem dunklen Winkel des Raumes.
Harry erforschte Hermines Gesicht. Ihm war unklar, seit wann sie derart blass war. Er erkannte nicht viel, denn es war viel zu dunkel in der Ecke, in der sie saßen. Außer der Hautfarbe deutete nichts an ihr auf eine Krankheit hin. Müde wirkte sie, aber müde war Harry auch. Hermine saß ihm gegenüber. Zwischen ihnen auf einem Tisch standen drei Gläser mit bonbonrotem Himbeersirup. Kreacher hockte am Ende der Sitzbank eingequetscht zwischen Harry und der Wand. Es war dieses Restaurant, in das er sich geflüchtet hatte. Seine Wahl war nicht schwer zu verstehen. Die Tischdecken waren aus geklöppelter Spitze, in deren Muster Fledermausflügel und Schlangenzungen einander abwechselten. Die niedrige Eingangstür hatte darüber hinweggetäuscht, dass dies das erste Gasthaus am Platz war. Die düstere Atmosphäre, die hier schon am frühen Nachmittag herrschte, war außergewöhnlich. Nicht einmal in Hogsmead, dem einzigen Dorf Großbritanniens, in dem keine Muggel wohnten, würde es ein Gasthaus wie dieses gegeben haben. Sie saßen in der schwärzesten Ecke der Gaststube. Ginny steckte kopfüber unter dem Tisch und zerrte an etwas.
„...eine Zeitung", ächzte sie, doch bevor sie das Papier zeriss, gab sie auf.
Eh Harry sich noch länger über ihr Aussehen wundern konnte, tauchte Hermine ebenfalls unter die Tischplatte ab. Eine Zaubererzeitung war in den letzten Tagen für Harry und Ginny, aber vor allem für Hermine eine Rarität geworden. Das Papier war unter ein Tischbein geklemmt worden.
„Ich sehe nichts", sagte Ginny, „zu dunkel hier ..."
„Lumos", murmelte Hermine und richtete das Licht des Zauberstabs auf das Papier. Zwar stand das Tischbein noch immer auf der Zeitung, und Ginny vermochte nichts an seiner Lage zu verändern, aber ein Teil der nach oben gekehrten Seite war lesbar.
... Das Besondere sind die Eierschalen. Zermahlen sind sie Bestandteil im Sand von Stundengläsern und sorgen für ihre Genauigkeit. Das weiße Pulver kennen die Uhrmacher allerdings nur unter dem Namen Kreidesand. Man stellte ihn aus den verlassenen Eierschalen dieser weitgehend unbekannten Tierart her. Erwachsene Muttertiere mit ihren noch unversehrten Eiern fand man nie. Angeblich soll ein Ei, in dem sich ein lebendes Junges befindet, Zeit machen können. Damit lassen sich auch die Allmachtsphantasien schwedischer Herrscher erklären, die in ihrem Wappen seit Urzeiten den Vierkrötigen Lappenlacher, eine den Schrumpfhörnigen Schnarchkacklern verwandte Schupplerart, tragen.
„Waas?" wunderte sich Hermine, „war es das, was Luna dir erzählt hat?"
In diesem Moment erschien Harrys Kopf unter dem Tisch. Die Brille war ihm beim Abtauchen halb von der Nase gerutscht. Er schob sie aufs Nasenbein zurück.
Im Lichtkreis des Zauberstabes befand sich ein Foto. Allerdings bildete es niemanden ab.
„Vielleicht", sagte Ginny, „ist die Person, die darauf hätte zu sehen sein sollen, auch einfach aus dem Bild gerannt."
„Wie kannst du dir so sicher sein, dass es nur eine Person – oder dass es überhaupt eine Person war?" fragte Hermine. „Vielleicht handelt es sich doch eher um die Fotografie eines Schnarchkacklers, den es nämlich gar nicht gibt."
„Nein", erwiderte Ginny, „die Bildunterschrift sagt etwas anderes, lies nur!"
Die Bildunterschrift war winzigklein. Ginny hatte sie aus ihrer besseren Position heraus bereits entziffert.
„Expedition ins Nirgendwann: Lurch Scamander 1925 mit dem Ei eines Schrumpfhörnigen Schnarchkacklers, dessen Existenz er seit über 70 Jahren leugnet."
Harry fuhr zusammen und stieß dabei mit dem Schädeldach an die Unterseite des Tischs. Hermine erschrak. Ginny registrierte mit stummem Gesicht die rote Flüssigkeit, die an Harrys Hals hinablief. Harry fädelte seinen Kopf unter dem Tisch hervor, den Zauberstab, den er reflexartig ergriffen hatte, legte er auf die Tischplatte und griff sich Kreacher mit beiden Händen. Der strampelte mit den Beinen und schien sich zwischen hilflosem Quieken und Lachen entscheiden zu müssen. Harry ließ ihn kraftlos fallen. Hermines und Ginnys Köpfe waren über dem Tisch aufgetaucht. Als Harry sie wieder ansah, schloss Hermine gerade erst den aufgerissenen Mund.
„Oh", begann sie verlegen, ihre Mundwinkel zuckten, „oh ...ich weiß einen Spruch, der alles wieder saubermachen könnte, hm, na ja, mindestens würde er bewirken, dass der Sirup nicht mehr klebrig ist –"
Harry spürte den Himbeersirup, wie er von seinem Nackenhaar troff, in seinen Ausschnitt den Rücken hinab und auch nach vorn übers Schlüsselbein floss und die Kleidung an der Haut klebte. Als hätte es diese Empfindung und die Gesichter der beiden Mädchen gebraucht, wich die Benommenheit von ihm. Eine Benommenheit, die schon lange auf Harry gelegen haben musste. Er hatte sie gar nicht mehr wahrgenommen. Aber jetzt, fühlte er sie wieder, nun, da sie sich aufzulösen schien und ihn nur noch als dünne Nebelfetzen umhing.
„NEIN", schrie er, „ich brauche deinen Spruch nicht!"
Hermine schossen Tränen in die Augen. Harry fand sich im vollends erwacht und Hermines veränderter Anblick ließ ihn vergessen, warum er eben noch zornig auf sie gewesen war. Plötzlich tat ihm sein Ausbruch leid, in seinem Kopf reihten sich schon die Worte und ihm fehlte nur noch die Stimme, es auszusprechen. Hermine kam ihm zuvor
„Harry, bitte, ich finde nicht gut, was Kreacher tut, aber ...", sie ließ an dieser Stelle offen, was ihre Meinung war, sie wich aus und sagte, „wir dürfen nicht alle durchdrehen, keiner von uns. Ich fühle, dass es nicht in Ordnung ist, hier zu sein, ich meine diese Welt, nur wir drei, das ist nicht gut. Das macht irgendwie krank."
Hermine lagen noch mehr Worte auf der Zunge, aber sie sagte es nur noch mit Blicken, und Harry verstand. Ginny zauberte den Sirup fort.
„Hoch jetzt",Harry riss Kreacher am Arm auf die Füße, und so verließen sie das Lokal.
Draußen auf der Straße wusste Harry nicht, wohin. Eine Ahnung führte ihn, und ihm war, als hätte all dies mit Lord Voldemort zu tun, aber Kreacher hatte vielleicht recht; in Godrics Hollow lebte niemals der dunkle Lord und trotzdem gab es für Harry hier irgendein Ziel.
Hermine stieß ihn an. Harry erschreckte wie aus Gedanken gerissen.
„Harry", fragte sie, „willst du an den Ort wo deine Eltern mit dir lebten?"
„Ich weiß es nicht", gab Harry zur Antwort, und er wusste es wirklich nicht.
Godrics Hollow war die letzte Zuflucht seiner Eltern. Hier wurden sie verraten, und Voldemort selbst hatte sie ermordet.
Harry fühlte sich miserabel.
Er fühlte sich daran Schuld, dass sie nun durch Godrics Hollow liefen. Umsonst hatten Ginny und Hermine ihn begleitet. Umsonst war Hermine das Risiko eingegangen, durch die Tür zu gehen, vor deren schwarzem Fluch sie eindringlich gewarnt hatte. Nun hielt vielleicht selbst Voldemort Harry für tot, und Ron lebte nicht mehr. Vielleicht fanden sie auf diesem Wege niemals heraus, wo Voldemort sich versteckte. Harry verachtete sich in diesem Moment selbst; und als Hermine seinen Arm packte, brachte etwas an seiner Haltung sie dazu, ihre Hand wieder zurückzuziehen. Hermine und Ginny waren selbst verantwortlich für ihr Tun, dachte Harry, er hatte sie nicht überredet, mit ihm zu kommen, ja, er hatte es noch nicht einmal gewollt! Verachten brauchte er sich also nur für den noch immer nicht bezwungenen Wunsch, eine Familie zu haben. Seine Familie. Nur dieser Wunsch konnte ihn fehl geleitet haben.
Abrupt blieb er stehen.
Hermine hatte Krummbein auf den Arm genommen und presste ihn an ihre Brust. Ginny sah Harry von der anderen Seite an. Inzwischen war sie es, die Kreacher wie ein dreijähriges Kind an der Hand hielt, ziemlich fest, damit er nicht entlief.
„Bist du dir nicht sicher?" wagte sie zu fragen.
Sie standen am rechten Straßenrand. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es keine Häuser mehr, nur Brachland. Hohes, ausgedörrtes Gras. Harry überquerte die Straße. Ginny folgte ihm. Sie musste heftig an Kreacher reißen, damit der Hauself überhaupt von selbst zu laufen begann. Hermine zögerte zu lange. Eine ganze Reihe von Autos trennte sie nun von den anderen. Doch Harry sah sich nicht um. Er war auf der Wiese stehen geblieben und glaubte sich fast in einem Traum, den er schon einmal geträumt hatte. Auch Ginnys hoher Schrei und ihre plötzliche Bewegung nach vorn brachten ihn zu keiner anderen Überzeugung. Er nahm diese Dinge wie durch Nebelschleier wahr. Jemand lag in schwarzes Tuch gehüllt, das Gesicht zur Erde gekehrt. Die aufragenden Grashalme wisperten im Wind. Ginny warf sich über die Gestalt am Boden, noch ehe Harry erkennen konnte, wer es war. Für die Dauer eines Blinzelns glaubte er, leuchtend rote Haare gesehen zu haben. DAS GRAS! Es flüsterte und tuschelte und zischte. Und wogte wie ein Meer und barst auseinander. Lärm senkte sich wie eine Glocke über den Ort. Harry spürte ihn körperlich. Das rotierende Geräusch fuhr ihm im Zehntelsekundentakt durch seine Eingeweide und drohte, seinen Leib zu zerreißen. Zugleich erstickte es das Flüstern und Wispern der Wiese. Harry bemerkte zu spät, dass sich große Kufen wie die eines Riesenschlittens in sein Gesichtsfeld schoben. Er spürte, wie jemand ihn von hinten packte, und zu dem Reißen in seinem Leib kam das Gefühl, von den Füßen gehoben und an anderer Stelle wieder zu Boden geschleudert zu werden.
Im Fallen rollte er über Hermine.
Sie hatte ihn buchstäblich in letzter Sekunde gerettet.
Harry wurde sich dessen augenblicklich bewusst, denn jetzt sah er es vor sich. Was im ersten Augenschein wie ein großes Ungetüm wirkte, war ein Helikopter. Harry kannte solche Dinger aus Dudleys Videospielen. Außerdem hatte Dudley mit neun Jahren einmal drei Tage lang einen fernsteuerbaren besessen ...
„Wo sind deine Augen", schimpfte Hermine.
Dann guckte sie genauso wie Harry. Dem Helikopter entstieg eine Frau mit feuerrotem Haar. Mrs Weasley. Harry und Hermine folgten ihr um das Flugzeug.
Der Rotor lief und erzeugte unnötig Wind und Lärm. Mrs Weasley lief zu der schwarzen Gestalt. Ginny wich zur Seite. Ihre Mutter beugte sich über Ron. Sie hob seinen Körper ohne sichtliche Mühe vom Boden und trug ihn zum Helikopter. Ein weiterer Weasley-Schopf erschien am Ausstieg. Es war Bill, der Ron entgegennahm. Mrs Weasley kletterte hinterher. Harry blickte durch die Öffnung ins Innere des Helikopters. Mr Weasley sah aus, als wäre er der Pilot. Er trug eine Fliegerkappe und darüber Ohrenschützer, wie die Schüler sie in Hogwarts im Fach Kräuterkunde – wenn auch sehr selten – benutzten. Jetzt kniete er neben Ron, den sie am Boden des Helikopters auf eine Decke gebettet hatten. Harry, Hermine und Ginny beobachteten, wie Mr Weasley sein rechtes Ohr vom Ohrenschützer befreite und an Rons Brustkorb legte. Er warf Molly Weasley einen Blick zu. Geredet wurde nicht. Es wäre sinnlos gewesen, da der Maschinenlärm alles übertönte. Molly nahm eilig Mr Weasleys Platz an Rons Seite ein. Sie nahm eine von Rons Händen und hatte ihren Zauberstab dabei zwischen den Fingern. Mehr konnte Harry nicht sehen, denn Bill kam, den Ausstieg zu verschließen. Ginny stemmte sich im selben Moment mit aller Macht gegen die Tür. Es nützte natürlich nichts.
„Was willst du? Du klemmst dir die Hände ein!"
Harry packte Ginny an den Schultern.
„Ginny!"
Sie schrie, indem Hermine ihre Hände fortriss und Harry sie rücklings ins Gras
stieß.
Harry atmete heftig.
„Lebt Ron?" fragte er Ginny, die im Gras niederlag. Sie sah ihn aus weit
aufgerissenen Augen an. Der Helikopter hob vom Erdboden ab. Niemand hatte Harry hören können. Schon wieder brachte Hermine ihn vor den Kufen des Flugzeugs in Deckung. Sie drückten sich an die Erde, Harry und Hermine. Ginny hatte sich aufgerappelt – und diesmal reagierten sowohl Harry als auch Hermine zu langsam – Sie schaffte es, sich an eine der Kufen zu klammern, die dem Erdboden wieder näher gekommen war, als der Helikopter abdrehte.
„OH GOTT!" schrie Hermine. Und Harry hörte ihren Schrei, trotz des Rotorgeräuschs. Hilflos sah er zum Himmel, wo der Helikopter sich entfernte. Schneller, als man es von gewöhnlichen Helikoptern annehmen könnte, wurde er zu einem schwarzen Punkt und verschwand schließlich auf südlichem Kurs.
„Es ist ein Alptraum", sagte Hermine. Ganz leise hatte sie es gesagt, ohne Harry anzublicken. Überdeutlich hatte Harry es verstanden. Haargenau fühlte er so, nur dass er wusste, dass sie sich nicht in einem Traum befanden. Es gab auch niemanden, der sie von hier aus wieder zurückschicken würde, nicht mal einen räudigen Hund – und was nützte das jetzt – sie waren ja schon mittendrin. Ginny, an den Kufen eines Helikopters, eine halbe Meile über der Erde. Harry versuchte zu denken, und gleichzeitig schweiften seine Augen über die Wiese.
„Es ist ein Graus" schnarrte eine Stimme in seinem Rücken.
„Halt den Mund!" fauchte Harry, indem er sich umwandte.
Eigentlich war er froh, den Hauselfen wiederzusehen. Kreacher hätte sich in all der Zeit, die niemand auf ihn geachtet hatte, aus dem Staub machen können. Und ohne ihn hätten sie dann nicht einmal das Wasser zum Trinken gehabt.
„Eure kleine Reise ist doch nicht etwa schon zu ende?" fragte Kreacher. Aber es war keine ehrliche Frage. Der Hauself drohte im Unterton. „Für diese stinkbiestige Feuerlocke ist sie es jedenfalls."
Stinkbiestige Feuerlocke pflegte er Ginny seit geraumer Zeit zu nennen, nachdem ihm Hermine einen anderen, viel schlimmeren Namen verboten hatte.
„Was willst du sagen, Kreacher? Drück dich aus!" Harry ballte seine Hände, aber Kreacher ließ sich mit der Antwort Zeit. Er wischte sich über die Nase und zog den Rotz darin hoch, ehe er wieder sprach.
„Was meint ihr, was eure Freundin dort, wo sie jetzt hinfliegt, zu essen bekommt?"
„Was soll dieser Ton!" fragte Harry.
„Ich denke, sie bringen Ron nach London. Wenn wir die Eisenbahn nehmen, können wir vielleicht noch heute da sein, wo Ginny ist", sagte Hermine leise, belehrend und ohne eine Regung erkennen zu lassen, die Harrys vergleichbar gewesen wäre. So als hegte sie keine Spur von Argwohn gegen Kreacher. Die Sonne schien in ihr Gesicht, und Harry betrachtete das Bild, das sich ergab. Es kam ihm bekannt vor. Es rührte an einer Erinnerung in ihm. Er konnte nicht lange darüber nachsinnen, welche Erinnerung es war - schon hatte Hermine seinen Blick bemerkt und Kreacher hatte seinerseits zu einer Erwiderung angesetzt.
„War nicht der Dunkle euer Ziel? Der, dessen Namen ihr ausplärrt, wann es euch passt? Hattet ihr das vergessen?"
„Aber ohne Ginny – "
Hermine unterbrach Harry allein mit einem Blick, bevor sie sprach.
„Wir wollten Ron finden, und wir haben Ron gefunden. Mehr sollte jetzt nicht unsere Aufgabe sein."
Kreacher widersprach ihr nicht im geringsten. Er ließ sogar eine Pause. Harry konnte sich sammeln.
„Ich ...", sagte er in die Pause hinein, „ich ...ich denke ...ähm – "
„Nur zu", ermunterte ihn Kreacher.
Aber von psychologischem Feingefühl besaß er wohl keinen Deut, denn seine Ermunterung bewirkte, dass Harry nun das Gegenteil von dem verkündete, was er vorher eigentlich hatte sagen wollen.
„Du", spuckte er dem Hauselfen entgegen – und es war leicht, so im Zorn zu ihm zu reden, denn der Elf war klein und erbärmlich in seinem dreckigen Handtuch, halbnackt, „du willst, dass wir mit dir zu Voldemort gehen – das käme deiner Leidenschaft sehr entgegen."
„Aber das werden wir nicht!", setzte Hermine nach, „Ginny braucht unsere Hilfe. Und wir können auch keinen Menschen unnötig länger in dem Glauben lassen, wir wären tot ..."
„Ooch", seufzte Kreacher theatralisch und offenbar nicht im Mindesten eingeschüchtert. „Kreacher werden die Feinde nicht vermissen und seinen Kopf wird er auf die eine wie auf die andere Weise wohl selbst im Treppenhaus seiner verstorbenen Misses anbringen müssen. Aber unnötig", schloss er, „unnötig, zu wissen wo der Dunkle Lord sich versteckt, sollte es für den Feind doch keinesfalls sein."
Es widerstrebte Harry, Kreacher Recht zu geben. Vorsichtig fragte er.
„Meinst du, wir könnten Voldemort finden und trotzdem beizeiten Ginny erreichen?"
„Harry", Hermine fuhr ihm dazwischen.
„Wieso Harry?", verteidigte sich Harry und äffte Hermines Betonung seines eigenen Namen nach. „Es war nur ein Gedanke ..."
„Du solltest an Ginny denken. Und an all die Menschen, die uns im Augenblick wahrscheinlich sehr vermissen!"
„All die Menschen, die uns sehr vermissen würden wahrscheinlich sehr gern wissen, wo sich Voldemort aufhält, damit sie ihn endlich erledigen können!"
„Na und?", erwiderte Hermine, „ist es deine Aufgabe, das herauszufinden?"
Harry schluckte.
„Du hast Angst", sagte er.
„Ich denke daran – "
„Nein", sagte Harry rasch, „nein, es ist in Ordnung, wenn du dich fürchtest."
„Aber ich fürchte mich nicht!"
Es war Krummbein, der Harry und Hermine die Entscheidung abnahm. Er tauchte unvorhergesehen auf und schmeichelte Hermines Beinen. Seinen Schwanz hielt er kerzengerade aufgerichtet, und schließlich streifte der Kater auch an Harrys Beinen entlang.
„Er hat vielleicht Hunger", wehrte Hermine die Einsicht ab, dass Krummbein ihnen einen neuen Weg weisen würde.
Als sie Krummbein schließlich folgten, geschah das, ohne dass einer von ihnen ein Wort darüber verloren hätte. Nur Kreacher kicherte in sich hinein. Niemand fasste seine Hand. Harry wusste, dass er ihnen auch so nicht mehr verloren gehen würde. Der Elf schien ganz verrückt danach, Voldemorts Quartier zu sehen.
