Sie waren in London. Der Zug hatte sie doch noch in die Metropole gebracht. Und unterwegs war auch alles viel normaler geworden, bis auf ihr Schweigen, das wuchs und wuchs und nicht von erlebter Normalität zeugen konnte.
Doch jetzt?
London lag still. Eine Stille, die sich wie das entnervende Fiepen, das manche Menschen als Dauergeräusch im Ohr tragen, Harry geradezu aufdrängte.
Es war von Anbeginn der Reise kein Spaß gewesen, sich als unsichtbarer Gast auf der Welt auf der anderen Seite einer verfluchten Tür zu bewegen. Aber seit der überstürzten Abkehr von Little Hangleton schien es mit jeder Minute, die verfloss, bergab zu gehen. Den Gedanken an den verlorenen Kreacher hatte Harry bald aufgegeben und Hermine hatte auch nicht wieder davon angefangen. Jetzt war es die fixe Idee, Ginny zu finden, die Harry aufrecht hielt. Selten wandte sich sein Blick einmal Hermine zu. Er spürte sie bei sich, denn ihr Atem war das einzige Geräusch, das sich zu dem dünnen Ton in seinem Ohr gesellte; Und er vergaß sie, so wie man nicht an etwas denken muss, was man in seiner Hosentasche trägt. Wenn er sie dann doch einmal sah, erinnerte ihn ihr Anblick an so etwas Seltsames wie ein wirkliches Leben außerhalb.
Außerhalb wessen?
Obwohl ihnen die ganze Welt offen stand, fühlte Harry enge Wände wie in einem Kokon. Nur dass er nicht darauf wartete, als Schmetterling mit neuen Flügeln auszuschlüpfen, sondern er würde auf dem Boden kriechen, wenn sie hier heraus kämen. Hermine konnte es da kaum anders ergehen. Sie redeten nicht einmal mehr über das, was war, oder das, was bevorstand. Alles, was sie taten, seit sie den Zug nach London bestiegen hatten, geschah in stillem Einverständnis wie nach einem Plan, als hätten sie einen solchen vorher für den Fall, dass Ginny an einem Hubschrauber hängend nach London fliegen würde – und sie waren ganz sicher, dass man Ron nach London bringen würde – ausgearbeitet. Sie wichen lautlosen Autos auf der Straße aus, Passanten lachten und sprachen ohne Ton, die Reklamelichter über den Geschäften blendeten. Hermine wusste den Weg. Den Weg zum St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten.
Krummbein schien schon eine Weile vor ihnen angekommen zu sein. Er wartete vor einem ergrauten Schaufenster, in dem Puppen in Menschengröße in ungelenken Bewegungen vor sich hin starrten. Kein Muggel hätte hinter der Fassade von Reinig & Tunkunter ein Krankenhaus mit sechs Stockwerken und noch mehr Stationen einschließlich eines Professor Lockhart oder den Longbottoms vermutet. Gut – das mit Nevilles Eltern war nicht witzig.
„Die Zuständigen im Ministerium zur Geheimhaltung der Zauberei vor der nichtmagischen Welt leisten Erstaunliches", sagte Harry mit hohlem Ton. Er empfand es als unpassend, das zu sagen, zumal es seine erste Äußerung nach Stunden war, aber er glaubte, Hermine würde es nicht hören. Umso erstaunter war er, als sie doch darauf reagierte.
„Ach komm, Harry, über was bist du so verbittert?"
„Verbittert? Ich bin nicht verbittert", Harry trat mit dem Fuß gegen die Schaufensterverglasung. Er trat glatt hindurch, ohne etwas zu zerstören. Hermine ging daraufhin an derselben Stelle durch das Glas und Krummbein sprang unversehens hinterher.
„Deine schlechten Erfahrungen mit dem Ministerium", setzte sie das Gespräch fort, „machen dich doch nicht mutlos, oder?"
Harry hörte die Frage, aber erwiderte nichts mehr.
Der Empfangsraum des St. Mungo sah leer aus. Harry wollte sofort weiter, um auf den Stationen nach Ginny zu suchen – sie war ganz sicher bei Ron, aber Hermine griff gerade noch nach seinem Shirt und bremste ihn.
Zuerst hob sie den Arm und zeigte stumm auf die hintere Reihe aus Holzstühlen. Dann sagte sie kurz und nicht besonders laut „da."
Harry kniff die Augen zusammen. Im Schummerlicht konnte er, wenn er angestrengt hinsah, gerade so viel erkennen, dass jemand in der letzten Reihe lag.
Ginny war unter ihren verdreckten Kleidern fast durchsichtig, beinah unsichtbar. Sie füllte nur zwei Stuhlflächen, denn sie schlief zusammengekauert wie eine Katze. Krummbein reckte seinen Kopf zu ihr auf.
„Ginny!" ... „Ginny, du musst aufwachen."
Harry hätte es dem kleinen, schwachen Körper gar nicht zugetraut, aber Ginny öffnete ohne zu zögern die Augen und setzte sich im nächsten Augenblick kerzengerade auf.
„Meine Mum und mein Dad wachen abwechselnd bei Ron", gab sie leise und wie ein Automat die wichtigsten Informationen an Harry und Hermine weiter, „Ron wird von drei Spezialisten und einem zusätzlichen Heilerstab von sieben Hexen und Zauberern überwacht. Sie sagen, er kommt durch, aber sie wissen nicht wie."
„Wie?" fragte Harry.
„Sie wissen nicht, ob er jemals wieder zaubern können wird."
Harry wusste nicht, wie er darüber denken sollte. War es schlimm, nicht zaubern zu können? Würde Ron dann auch nicht mehr auf einem Besen zu fliegen in der Lage sein?
Hermine drückte ihre Finger in Harrys Rücken. Sie jedenfalls schien sich solche Fragen nicht zu stellen. „Ginny", sagte sie, „wir müssen zum Grimmauldplatz und", sagte sie, „wir haben Kreacher verloren."
Ginny stellte sich auf ihre Füße. Jetzt bemerkte Harry die Zeitung auf der Sitzfläche, die Ginny vorher mit ihrem Körper verdeckt hatte. Ginny griff danach und hielt auch tatsächlich den Klitterer, wie Harry jetzt, da ihn die Titelseite ansah, lesen konnte, in den Händen. Sie hielt es wie ein wichtiges Dokument, wie Umbridge den Zettel mit den Namen der DA-Mitglieder gehalten hatte oder Snape zwei Jahre zuvor die Karte des Rumtreibers. Ein Blick auf den Stuhl aber zeigte, dass da immer noch die Zeitung lag, als hätte Ginny sie niemals berührt. Ginnys Körper hatte beim Schlafen das Papier nicht einmal geknittert. Später erinnerte sich Harry an Einzelheiten wie diese. Im Moment wollte er nur noch fort. Er erschrak und fuhr herum. Denn plötzlich hörte er jemanden sprechen. Zwei Stimmen; die eine gehörte der Hexe am Empfang, die andere einem Geist.
„Es tut mir leid, aber Sie sind schon tot."
Der Geist trug einen geblümten Schlafanzug und beschrieb Räumlichkeiten irgendeines gruseligen Hauses, an das er sich, wie man an seiner Erzählung merkte, nur noch dunkel erinnerte.
„Hören Sie", wirkte er auf die Empfangshexe ein – Harry berührte mit den Händen seine Ohren, das Fiepen war nicht da, auch wenn er sich überhaupt nicht sicher war, ob es ihn für immer verlassen hatte – „hören Sie mir nur einmal zu, ich erkläre Ihnen jetzt seit mehr als hundert Jahren jede Nacht das selbe-"
„Das ist richtig", unterbrach ihn die Hexe genervt.
„Es war Nacht, als ich-"
„Darum tragen Sie wohl einen Pyjama", unterbrach die Hexe erneut.
„Das ist verrückt", sagte Hermine, „lasst uns hier raus."
Ihr bestimmender Ton erschreckte Harry wieder und er folgte dem Gespräch am Empfangstresen nicht weiter. Er fühlte sich nur mindestens so verwirrt wie der Geist im Schlafanzug. Hermine fasste seine und Ginnys Hand.
Sie verließen St. Mungo, sie liefen durch das Muggel-London, und Harry hörte wieder, wenn sich ihnen auf der Straße ein Auto näherte.
Die Nachtgeräusche waren rar, doch zumindest auch wieder präsent.
Hermine zog.
Sie zog zu sehr an Harry, dass er seinen Blick an ihr Gesicht heftete. Tränen flossen aus ihren Augen. Diesmal war es ihr Weinen, das kein Geräusch verursachte. Nicht einmal ihr Atem hatte sie verraten.
„Hey, Ron lebt, und wir besuchen ihn vielleicht schon morgen!"
Harry wusste nicht, warum Ginny dieses vielleicht in ihren Satz packte. Allerdings war er sich auch nicht gewiss, ob er am nächsten Morgen, wenn sie – vielleicht – Zugang zu Sirius' Haus erlangt hatten, noch zu einer Bewegung fähig sein würde.
„Hey!" wiederholte Ginny und hinderte Hermine am Weitergehen, indem sie stoppte und ihrerseits an Hermines Hand zog.
„Was ist los?" fragte jetzt auch Harry. Wenn Hermine die Tränen liefen, fühlte er sich wesentlich weniger hilflos, als wenn irgendein anderes Mädchen weinte.
„Wir lassen Kreacher zurück", sagte sie auf die Frage und den festen Griff Harrys um ihre Arme hin.
„Was ist daran ...", er verstummte.
„Immerhin kann Kreacher sich selbst Essen und Trinken beschaffen" versuchte Ginny Hermine zu beruhigen.
„Wir haben das Haus nach ihm abgesucht – er wollte sich nicht finden lassen", sagte Harry, doch es schien Hermine nicht zu trösten, denn das Wasser aus ihren Augen floss unaufhörlich. Er hatte wohl das Falsche gesagt.
Kurzes Atemholen.
„Du hast einen Elfenrettungsfimmel" fuhr er sie unvermittelt an. – Harry spürte in sich eine ins Unermessliche gesteigerte Spannung; sie waren wieder in London, kurz vor Sirius' verfluchtem Haus, Ginny war da und Ron wussten sie versorgt im St. Mungo. Er wollte kein Fiepen mehr in seinen Ohren (jetzt begann es schon wieder), er wollte keine abgestandene Luft mehr und keine Alpträume – alles hier war ein Alptraum, das hatte Hermine selbst gesagt. Er sah sich nicht in der Lage, einen milderen Ton für Hermine zu finden. Gleichwohl es alles noch schlimmer machte – und das wusste er selbst. –
„Sieh mal Hermine, Kreacher hat sich selbst da reinmanövriert..." wollte Ginny beschwichtigen.
„Er hat dafür gesorgt, dass wir nicht verhungert sind!" sagte Hermine fassungslos über Ginny, während sie Harrys Vorwurf überging.
„Er hat den Aufenthalt in der Nocturnegasse sichtlich genossen und Voldemorts Haus auch...", versuchte es Harry diesmal wieder sehr vorsichtig.
„Als freier Elf könnte er das auch, ohne auf der anderen Seite der Tür in einem Raum zu stehen, der nicht dazu gemacht ist, darin zu leben - Kreachers Gesinnung steht auf einem anderen Blatt! Und im Übrigen hat er geweint."
„Ist Kreacher denn nicht frei?" wagte Ginny zu fragen.
„Wann hat er geweint?" schob Harry seine Frage hinterher.
Hermine atmete hörbar aus.
„Er ist unfrei geboren, seine Vorfahren wahren sämtlich Unfreie - bitte, was soll Kreacher von Freiheit wissen? Und er hat geweint", fuhr sie nach einer Pause fort, „als ich ihn hinter dem Haus im Garten fand. Er ist dann vor mir geflohen, durch die Rosen ..."
Harry berührte mit den Fingerspitzen einen der tieferen Kratzer in Hermines Gesicht. Sie ließ es zu.
„Kommt", sagte Ginny und erinnerte sie an den Heimweg. „Du willst doch nicht noch einmal zu dem Haus zurück, von dem ihr beide gesprochen habt?"
Hermine gab keine Antwort, doch bedeutete ihr Schweigen keinesfalls, dass sie die Suche nach Kreacher fallen lassen würde. Harry sah es ihrer verschlossenen Miene an. Dahinter arbeite es.
Sie erreichten das Haus am Grimmauldplatz, nur befanden sie sich an seiner Vorderseite, während ihr Ziel die Tür am schwer zugänglichen Hinterhof war. Es konnte jeden, der sich auf seinen Orientierungssinn etwas einbilden durfte, nur verwirren, aber der Weg zum Hinterhof des einen Hauses führte nicht um die Häuser am Grimmauldplatz herum über die Brücke, ab der das Grabenwasser unterirdisch weiterfloss, und durch die Gärten, um an einer bestimmten Stelle den Graben abermals zu überqueren – diesmal schwimmend – an dessen anderem Ufer der Hof lag. Der Weg führte durch die Nokturnegasse. Harry sah sich die Häuser am Platz genau an. Er suchte eine Stelle, von der man meinen konnte, dass es an ihr keinen Durchgang gäbe. Das restliche Wegstück nach dem tropfenden Kessel setzten sie sich mit Hilfe des U-Bahn-Plans zusammen. Da um die Mitternachtsstunden keiner der unterirdischen Züge fuhr, mussten sie den Weg, den sie zwei Wochen zuvor in entgegengesetzter Richtung mit der U-Bahn zurückgelegt hatten, laufen. Hermine notierte sich alle U-Bahn-Stationen auf der Strecke in ihrem Kopf, und so konnten sie den oberirdischen Weg nehmen und sich an den Namen der Eingänge zu den U-Bahn-Schächten entlang hangeln. Zuletzt fanden sie auch zurück durch die Gärten.
Es gab Vögel, die um diese Zeit in den Bäumen sangen.
Den Graben durchschwammen sie, ohne ihre Kleider vorher abgelegt zu haben.
Harry rannte nicht über den Hof. Er ging so langsam, als würde er seine Schritte zählen. Ginny und Hermine warteten auf ihn. Harry legte als Erster seine Hand auf die unnachgiebige Tür. Sie hing schief in den Angeln und auch ihr Holz versprach dem Aussehen nach, jedem stärkeren Fußtritt nachzugeben. Aber Harry kannte die Täuschung doch schon, und auch die anderen beiden. Darum unternahmen sie nichts Offensichtliches. Sie grübelten. Harry tastete mit der ganzen Fläche seiner Hand über das Holz und dachte nach wie Hermine und Ginny auch.
Lange Zeit.
„Ehrlich gesagt", hörte er Ginnys Stimme, „graust mich der Gedanke, jemandem zu begegnen, der mich für tot gehalten hat."
Grausen konnte man es sicherlich nennen, aber darüber wollte Harry lieber nicht nachdenken. Wie viel Aufheben wird man von seinem Tod gemacht haben? Wenigstens hatte sein fotografiertes Abbild stets die Angewohnheit, aus dem Bild zu rennen;
„Wenigstens gab es keine Leichen", sagte er.
Hermine lachte einmal kurz auf. Dann legte sie ihren Kopf wieder mit der Stirn auf der Erde ab, auf der sie kniete. Harry sah die Kurve ihres Rückgrats, darüber im Hintergrund die Baumkronen aus den Gärten als schwarze Silhouetten in den Himmel ragen, dessen dunkle Farbe nicht mehr ganz so tief war. Am Wechsel der Farben des Himmels lasen sie die Zeit. Auf andere Weise spürten sie kaum, dass eine Stunde nach der anderen verging. Um nur einmal in ihrem Leben wieder durch jene Hintertür eingelassen zu werden, blieben sie wach. Selbst Hermine schlief nicht. Sie schloss nicht einmal die Augen, als sie ihr Gesicht der Erde zugewandt hatte.
laser-jet: schreibe doch bitte, was unlogisch ist, dann fällt es mir leichter, Änderungen vorzunehmen
Fidi: magst DU Ginny nicht oder kommt es so rüber,als obICH sie nicht mögen würde und ihrso eineDummheit anhänge?
... mit dem codierten Smily wolltesich offenbar jemand erkenntlich zeigen. Grüße an Dax! Hatte das nun einen Mund nach oben oder unten oder was?
