Kapitel 10, Halb tot

„Ein normaler Mensch kann bis zu drei Tage ohne Wasser sein", überlegte Hermine.
„Ja", sagte Harry. Er beobachtete den Himmel, ließ den Blick verschwimmen und wieder scharf werden, er hörte Ginny in seinem Rücken, wie ihre Zähne aufeinander schlugen, dachte nebenbei über Wärmezauber nach und fixierte dann mit den Augen einen Punkt in den kleinen Obstbäumen am anderen Grabenufer.

Hermine sinnierte laut.
„Es gibt keinen Weg von diesem Ort zurück außer durch diese Tür. Einen anderen Weg kennen wir jedenfalls nicht. Und wenn uns niemand die Tür von innen öffnet, dann verdursten wir hier draußen; jedenfalls wenn wir in London bleiben."

„Willst du wieder zu diesem schrecklichen Ort?" fragte Harry.

„Würdest du lieber verdursten? – Was ist schrecklicher?"

„Alles ist schrecklich", erwiderte Harry, „aber dieses Haus wollte mir den Verstand rauben." Er brach ab.

Nach einer Pause, in der Hermine nichts entgegnete, fuhr er fort,
„Du hast einen wunderbaren Vorwand gefunden, noch einmal nach Kreacher zu suchen, aber bist du dir auch sicher, dass wir dieses Haus wiederfinden, und dass Kreacher auf uns wartet und ..."

Hermine harrte noch immer in ihrer Stellung am Boden aus. Harry hatte nicht weiter gesprochen, weil sie ganz bestimmt wusste, welche Unsicherheiten mit der Suche nach Kreacher verbunden waren. Und dann stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er sein Leben, das durch regelmäßige Mahlzeiten wahrscheinlich erheblich verlängert werden würde, mit Kreacher zubringen müsste.

„Vor uns haben auch schon Menschen versucht durch die Tür zu kommen", sagte Ginny zähneklappernd. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit dem verwitterten Türholz zugewandt.

„Die Portraits haben es doch schon gesagt", erwiderte Hermine hierauf.

„Was gesagt?" fragte Ginny.

„Dass es vor uns andere gab, die durch die Tür gegangen sind – aber keiner ist je wiedergekommen."

„Wir haben keinen von denen gesehen", sagte Ginny.

„Doch, haben wir."

Jetzt hob Hermine den Kopf und sah Harry an.

„Den im St. Mungo mit den Blumen auf seinem Nachthemd."

„Das waren Lilien", sagte Hermine, und eine Ahnung lag in ihrem Ton, „blaue Lilien wie auf dem Portrait von Mrs Kassiopeia Black."

Harry wunderte es nicht, dass Hermine den Namen der Portraitierten kannte.

„Aber woher willst du wissen, dass er durch diese Tür gegangen ist?" fragte sie. „Ich meine, er hat mit dieser Hexe gesprochen?"

„Weil er uns seit einer Weile beobachtet."

Hermine folgte Harrys Blick, wobei sie ihren Kopf nach links wenden musste. Ihre Kopfbewegung veranlasste nun auch Ginny, zu den Gärten hinüber zu sehen. Und als er feststellte, dass man ihn entdeckt hatte, löste sich der Geist von einem Baumstamm.

„Er kann uns sehen!" entfuhr es Ginny.

Das Geräusch, als der Fremde in den Graben sprang, ließ alle drei aufhorchen.

„Das ist unmöglich ein Geist!"

Ein Mann aus Fleisch und Blut zog sich auf das diesseitige Ufer. Er trug die Kleidung des verwirrten Geistes, den sie im St. Mungo gesehen hatten, einen weißen Schlafrock mit blauen Lilien, aber der Mann, der sich Harry, Hermine und Ginny näherte, war tatsächlich kein Geist. Es war ein Mensch in jämmerlichem Zustand. Er blieb unmittelbar vor Hermine stehen, und bald darauf stand er in seiner eigenen Pfütze. Haltung und Blick verrieten keine Regung. Sein Nachtkleid, die blauen Lilien klebten an seinem Körper und Wasser rann aus seinen Haaren, aus dem Stoff, tropfte von seinen Wimpern und seinen entsetzlich langen Fingernägeln.

„Sie können uns sehen, Sir?" sprach Hermine. Sie hatte sich vom Boden erhoben und war zurückgewichen.

„Warum sind Sie uns gefolgt?"

„Drei Vögelchen in der Falle", sagte der Fremde langsam, seine Stimme klang wie eine knarrende Tür. „Ich sah euch bereits im St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Katarre", der Mann legte eine Pause ein. „Aber die Dame am Empfang sah unsere drei Spätzchen nicht, sonst hätte sie wohl für jeden von euch tatütata nach einer Heilerin geschickt."

„Tatütata gibt es nur bei den Muggeln", verbesserte Hermine den Mann automatisch.

„Meinst du, das spielt für mich eine Rolle? Ob Muggel oder Zauberer? Oder Hexe? Für mich?"

Harry hielt den Zauberstab in seiner klammen rechten Hand hinter dem Rücken verborgen. Er hing an den Augen des Fremden, und es irritierte ihn, dass er dessen Blickbewegungen nicht ausmachen konnte. Hohlspiegel waren diese Augen, gefüllt mit Nebel. Harry, Hermine und Ginny vergaßen schnell, dass der Mann in einem tropfnassen Nachthemd vor ihnen stand, während das Wasser, das sich unter ihm am Boden sammelte, immer näher an ihre eigenen Füße kroch.

„Du hältst nicht zufällig", sprach er weiter, und Harry vermutete, der Mann hätte Ginny in den Blick genommen, „dieses Schmierblatt noch in deinen Händen?"

Ginny hob unsicher ihre rechte Hand, in der sie den Klitterer hatte; nur ein wenig, dann ließ sie den Arm schon wieder sinken.

„Was meinen Sie denn, warum uns die Empfangshexe nicht sehen konnte?" fragte Harry rasch.

„Kamt Ihr vielleicht durch jene Tür?" fragte der Mann.

„Soll das die Antwort sein?" sagte Hermine und wich noch ein Stück zurück.

Harry sah, dass das Wasser ihre Fußspitzen bald schon wieder erreicht hatte.

„Sind Sie selbst durch diese Tür gegangen?" fragte er, ohne eine wirkliche Antwort zu erwarten. Selbstverständlich musste der Mann einmal durch die verfluchte Tür gegangen sein, weil er sonst Harry, Hermine und Ginny gar nicht entdeckt haben könnte. Aber welche vernünftige Frage konnte Harry diesem Menschen im Augenblick stellen. Wollte er ihn überhaupt noch irgendetwas fragen? Spielte dieser Mann eine Rolle, wo es darauf ankam, eine verdammte, morsche Tür zu öffnen?

Ginny fand die Sprache wieder.

„Sie sind kein Geist." Eine Pause entstand, weil Ginny erbärmlich schlotterte. Dann kam leise, aber deutlich ein Wort nach dem anderen über ihre Lippen. „Sie sagen, Sie waren im St. Mungo. Aber im St. Mungo waren nicht Sie, sondern ein Geist, der nur so aussah wie Sie, und der mit der Hexe redete. Menschen auf unserer Seite können nicht mit der Empfangshexe im St. Mungo reden. Ich denke, Geister ebenso wenig."

„Mein Geist."

Der Morgenhimmel hatte sich gefärbt, doch in des Fremden Rücken war kein Stückchen Himmel mehr zu sehen. Wolken schoben sich grau in grau ineinander und drängten sich immer dichter. Fast hilfesuchend legte Hermine den Kopf in den Nacken, und Harry tat es ihr gleich, nur um festzustellen, dass es bald Regen geben würde. Aber was interessierte sie der Regen. Das Grabenwasser hatte sie nicht weniger durchnässt als den fremden Mann in seinem Nachtkleid mit den hässlichen Augen, wenngleich aus ihm das Wasser troff wie aus einem Schwamm, doch die Frage, wann sie wieder trocken würden, war schlicht nebensächlich.

„Während mein Geist in der wirklichen Welt wanderte, bin ich ihm gefolgt", sagte der Mann an unerwarteter Stelle, und Hermine tat noch einen Schritt zurück. In dem selben Moment packte Harry von hinten ihre Schulter, denn ein eisiger Schauer hatte ihn durchfahren. Ein Schwall kalten Wassers, das Gefühl, das einen überkam, wenn man in den kopflosen Nick hineinrannte.

„Sie haben einen Geist!" sagte er, ja, er schrie es beinahe, gleichwohl er die Gegenwart von Geistern gewohnt war und in Hogwarts, das Harry sein Zuhause nannte, mindestens vier Geister und Peeves wohnten. Auch von Ginny kam ein Laut, der verriet, dass sie sich erschreckt hatte. Hermine brauchte sich nicht zu ihr und Harry umdrehen – der Geist schwebte durchscheinend und milchigweiß auf die Bildfläche. Er musste aus den Mauern des Hauses Black gekommen sein.

Nun erst fiel Harry auf, wie grau der nasse Mann vor ihnen aussah. Fast tot. Er mochte jung gestorben sein, aber seine Haut trug ein unappetitliches, stumpfes Grau. Der Geist war sein leuchtendes Abbild, und Harry kam sofort eine Idee.

„Könnten Sie vielleicht jemandem im Haus sagen, dass wir hier vor der Tür sitzen und darauf warten, eingelassen zu werden."

Harry wollte es eigentlich nicht wie eine Frage klingen lassen, aber der Geist fasste es so auf und verneinte.

„Es ist doch noch zu früh, die Herrschaften im Haus zu wecken."

„Aber ..."

Die Antwort des Geistes war nicht einfach abschlägig gemeint, nein, sie war blanker Hohn. Hohn ob der Situation, in der Harry, Hermine und Ginny sich befanden.

„Habe ich euch also soweit?" fragte der Fremde, und sein Geist wandelte in seinem Rücken auf dem Hinterhof umher, als kümmerte ihn der Fortgang des Gespräches nun nicht mehr.

Harry hatte gerade erst seine linke Hand von Hermines Schulter genommen.

„Was wollen Sie von uns?"


hier fehlt der Teil, der erzählt auf welche Weise Harry, Hermine und Ginny zurück kommen, und um was der Tote sie erpresst


Mrs Black schrie in etwa aaaaaaaahhhh, als sie keine Worte mehr fand, Krummbein jagte in die oberen Stockwerke hinauf und Hermine stand mitten in der Eingangshalle und verrenkte ihren Hals. Sie blickte ins Innere des Hauses hinauf, ob sich jemand, durch das Geschrei geweckt, auf der Treppe zeigen würde. Die Stufen des Treppenhauses führten immer an den fünf Wänden entlang, immer rundherum. So drehte sie sich im ganzen, als ihr Hals nicht mehr konnte.

Im Gegensatz zu Hermine erwartete Harry nichts mehr. Nicht einmal einen Menschen. Oder vielleicht doch einen Menschen. Harry wusste, dass es Dinge gab, die man einfach nicht erwarten konnte. Er hätte nie gedacht, dass er sich eines Tages einmal nach so etwas konfusem wie Normalität sehnen würde – Normalität – ein wirrer Begriff, man konnte nur sagen, was er bedeutete, wenn man eine bestimmte Vorstellung davon hatte, was nicht normal war. Die irren Augen des Toten, als er von seiner Auferstehung faselte, bohrten sich immer noch tiefer in Harrys Kopf.

Ginny war die erste, die etwas gegen den Lärm unternahm. Sie zerrte mit all der ihr verbliebenen Kraft am Samtvorhang, bis es endlich wieder still wurde.

Lärm und Schweigen.

Erst das Tönen in einer Intensität, dass jeder Mensch außer Harry und Ginny und Hermine die Ohren unwillkürlich in Schutz genommen hätte, dann die Ruhe. Stille, die er hören konnte, die atmete – Harry empfand, was mit dem Haus geschehen war. Ruhe lag in der Halle, wie sie in ein verlassenes Zimmer einkehrt. Er fühlte jene Ruhe, nur war sie in diesem Haus vollkommen verkehrt.

Harry barg sein Gesicht in den Händen.

In dem Moment, da der Stich in seiner Narbe hinzukam, trat er gegen das hohle Trollbein. Er wusste es vor sich, es hatte den alten Blacks als Schirmständer gedient. Rücksichtslos und blind stieß er dagegen. Das Trollbein fiel, schlug auf den Boden, ohne zu zerbrechen, und Mrs Black begann von neuem.

Seine Augen öffnete Harry erst, als ihr Geschrei wieder jäh erstarb. Sein Blick traf Ginny, die sich mit dem Rücken gegen das lebensgroße Portrait geworfen hatte. Die Schlangen – das sah er jetzt – waren harmlos. Mit ihren Bewegungen veränderten sich die Muster im Ebenholz der Tür. Einzelne Formen fielen aus dem großen Ganzen und fügten sich wie in einem Kaleidoskop zu neuen Bildern zusammen.

Die Narbe stach.

Ununterbrochen blickte Hermine hinauf ...

...als ohne jedes andere Zeichen eine Feder auftauchte. Aus dem Nichts schwebte sie Hermines Nase entgegen. Harry sah sie nur in seinem Augenwinkel, Ginny war gebannt, und Hermine, die nur noch einen Arm danach auszustrecken brauchte stieß einen hohen Ton aus. Er gab nicht weniger als ihre Überraschung bekannt, und sie schien auch schon zu ahnen, warum diese Feder fiel.

Plötzlich war Harry der erste, der die rotgoldene Feder in seinen Händen hielt.

Krummbein tippelte die Treppen hinunter, übersprang die letzten Stufen und mauzte. Seinen Schwanz mit der Quaste hielt er kerzengerade in die Höhe. Für einen Moment galt die Aufmerksamkeit dem Tier statt der Feder.

„Alle weg", sagte Hermine mit kraftloser Stimme. Sie schien in dem platten Katzengesicht zu lesen.

Ginny rührte sich nicht von der schwarzen Tür.

„Glaubst du das?" fragte sie sehr leise.

Nichts regte sich.

Enervate", murmelte Harry, den Zauberstab auf eines der Portraits in der Galerie gerichtet. Eine Tasse zersprang und ein Blumenstängel rutschte aus dem Rahmen. (Normalerweise musste man Portraits nicht zum Leben erwecken, sie bewegten sich von selbst und ständig.) Kassiopeia Black war anscheinend unter dem Tischchen verschwunden.

„Eine Warnung", sagte Hermine immer noch mit der gleichen hohen kraftlosen Stimme und sah dabei auf die rotgoldene Feder in Harrys Händen. Dabei klackten in ihren Rücken schon Riegel und rasselten Ketten. Für Harry war es die schönste Feder in der ganzen Welt von dem schönsten aller Vögel, dem anmutigsten Tier, selbst an einem Brandtag, wenn einen bei seinem ersten Anblick der Schreck durchfuhr.

Sie wandten sich zur Eingangstür mit erhobenen Zauberstäben. Nur Ginny tat nichts.

„Geh weg von der Schlangentür", zischte Harry. Ginny gehorchte, als die schwere Haustür auch schon aufgestoßen wurde. Weißgraues Tageslicht fiel in einem Streifen auf den Hallenboden. Kingsley Shacklebolt trat hinein, sie erkannten ihn im Gegenlicht.

Er kam sehr nah zu ihnen heran und verdeckte mit seinem breitschultrigen Körper für einen Moment Harrys und Hermines Sicht auf seine Nachfolger.

„Zauberstäbe weg", sagte er zwar gelassen, aber so, dass sie merkten, dass es ihm ernst war. Harry versteckte daraufhin auch die rotgoldene Feder unter seinem nassen Fetzen Kleidung, der ihm noch am Körper klebte.

Kingsley folgten eine Anzahl Zauberer, und ihre Gestalten brachten wieder Dunkel in die Halle, denn zwei von ihnen verstellten die Türöffnung. Später stellte Harry fest, dass vor der Nummer Zwölf auf dem abgewetzten Fleck Erde, der Grimmauldplatz genannt wurde, noch mehr Zauberer standen. Zwanzig oder dreißig. Einige trugen die Umhänge der Auroren, andere hatten Gewänder mit Nadelstreifen. Harry schloss darauf, dass das Ministerium die alle geschickt haben musste.

„Wie konnten die das Haus finden?" fragte Hermine flüsternd. Ihre rechte Hand klammerte sich derart an Harry, dass man beide beim Abführen nicht getrennt hatte.

„Die Sensoren im Haus haben euch dem Ministerium gemeldet", sagte Kingsley Shacklebolt in überheblichem Ton. Er lief an Hermines Seite, was sicher gut so war, denn vor ihm brauchte sie sich nicht zu fürchten, auch wenn er ihre Schulter ungewöhnlich hart im Griff hatte. Harry dagegen ertrug einen ihm unbekannten Zauberer. So hatte er Schmerzen an Schulter, Oberarm, in seinem Genick ...und auf der Stirn. Die Narbe machte sich auf fürchterliche Weise bemerkbar, und durch diese Folter hindurch nahm er Shacklebolts Mitteilung an sie auf.

Die Sensoren im Haus haben euch dem Ministerium gemeldet.

Das bedeutete, das Hauptquartier des Ordens war aufgeflogen.

Nein, das konnte schon deshalb nicht sein, weil Dumbledore nie den Orden in Gefahr bringen würde. Nie.

Sie wurden in ein silbergraues Auto gestoßen, Harry und Hermine auf den Rücksitz und Ginny klemmte zwischen zwei Zauberern vorne neben dem Fahrersitz. Bevor sie losfuhren, klappten die Türen noch einmal auf, und links und rechts auf der Rückbank ließen sich Shacklebolt und der andere Zauberer nieder.

Das Auto fuhr schneller an als der Nachtbus für gestrandete Hexen und Zauberer. In einem Tempo, das Dudleys Gangstervideos in den Schatten stellte, rasten sie mit einer Eskorte von mindestens einem Dutzend Luxuslimousinen durch London.

„Krummbein", wimmerte Hermine.

Harry wusste nicht, ob er ihre Hand noch länger drücken konnte oder ihr seine Hand entziehen und auf die Stirn pressen sollte. Es gelang ihm jedenfalls nicht, seinen rechten Arm dem Griff seines Bewachers zu entwinden. Schließlich riss er Hermines Hand in die Höhe, was dafür sorgte, dass man ihm sofort einen Zauberstab wie eine Pistole an die Schläfe hielt, aber er schaffte es, Hermines Hand dennoch auf seiner Narbe zu platzieren. Der fremde Zauberstab drückte weiter in seine Seite, bis der Zauberer mit einem Knurren davon abließ und sich wieder dem Lenkrad zuwandte, denn nicht sein unmittelbarer Aufpasser, sondern der Fahrer des Wagens hatte den Zauberstab auf Harry gerichtet.

„Kopfschmerzen?", fragte der Aufpasser zu Harrys Rechten.

„Das geht sie gar nichts an!" schrie Harry aufgebracht durch den Schmerz, der seine Wahrnehmung vollkommen zu verschleiern drohte. Abermals wandte sich der Zauberer auf dem Fahrersitz nach hinten und dann viel zu schnell wieder vor und zog die Handbremse an. In jedem normalen Auto hätte es die Insassen dabei durch die Frontscheibe geschleudert (abgesehen davon, dass in Muggelautos die Handbremse keine derartige Vollbremsung auslösen konnte), aber so war Harry nur, als bewegte sich einzig sein Magen noch in Fahrtrichtung und er blieb fest auf dem ledernen Rücksitz kleben.

Der Grund ihres Haltes war das Zaubereiministerium. Sie waren unmittelbar vor der defekten Telefonzelle angelangt. Keiner machte Anstalten auszusteigen.

Der Zauberer am Steuer schaltete die Scheibenwischanlage ein, und dann war es Harry, als fiele er in ein großes schwarzes Loch. Hermines Hand wurde ihm entrissen – mehr spürte er nicht. Sekunden später fand er sich auf einen unbequemen Stuhl gefesselt wieder. Einzig seinen Kopf konnte er noch bewegen und den warf er nach vorn und wieder zurück, denn der Schmerz hinter seiner Stirn machte ihn wild. Um ihn drängten sich sehr viele Zauberer und Hexen in einem offenbar sehr kleinen Raum. Sie führten untereinander leise Gespräche und ihre Umhänge streiften hin und wieder Harrys Beine oder seine Stuhllehne. Nach und nach verließen diese Leute das Zimmer durch eine Tür, die Harry in seinem Rücken vermutete, denn es wurde ruhiger im Raum und vor sich konnte Harry verschwommen noch vier oder fünf Nachzügler vor einem Schreibtisch erkennen, die einem Mann hinter dem Schreibtisch silberne Spielzeugautos übergaben. Zuletzt befand sich in Harrys Sichtfeld nur noch der riesige Schreibtisch mit dem Mann und auf dem dunklen Mahagoni die silbernen Limousinen, fein säuberlich aufgereiht. Gerade noch aus den Augenwinkeln heraus vermochte Harry wahrzunehmen, dass sich auch Ginny und Hermine, jede auf einem Stuhl in dem Büro befanden, Hermine unmittelbar neben ihm und Ginny zu ihrer linken Seite. Auch sie saßen in gefesselter Haltung. Bestimmt schnitten die unsichtbaren Schnüre auch bei ihnen in Brust und Arme und Handgelenke und Beine, bestimmt waren sie in diesem Moment genauso ratlos wie Harry, aber keine von ihnen weinte oder jammerte. Dazu waren sie wohl nicht mehr in der Lage.

Die Situation schrie vor Ungerechtigkeit.

Wenngleich die Schmerzen in Harrys Kopf waren, konnte er doch denken. Wo Shacklebolt jetzt war? Ob er den Orden informieren würde? Was wollte das Ministerium von ihnen – sie wurden behandelt, als hätten sie Verbrechen begangen – Da hörte der peinigende Schmerz hinter Harrys Stirn auf, nur ein Puckern blieb in der Narbe zurück, wie man es manchmal in offenen Wunden verspürt. Harry erhaschte zum ersten Mal einen scharfen Blick auf den Mann hinter dem riesigen Schreibtisch. Der saß zwar zurückgelehnt, aber keineswegs entspannt in seinem Drehsessel. Mit dem Zauberstab in der Rechten tippte er nervös gegen die Tischplatte, sagte aber kein Wort. Die Augen des Mannes blickten gelangweilt, aber hinter dieser Fassade konnte Harry ein ungläubiges Glotzen erkennen, und je größer sein Glotzen wurde, desto heftiger schlug auch der Zauberstab in seiner Rechten gegen die Tischkante, bis der Mann die Zauberstabhand erhob und einen ruckartigen Schlenker in der Luft vollführte. Als daraufhin ein Sicherheitstroll an seine Seite sprang, ging Harry ein Licht auf. Sie hatten es hier mit dem Zaubereiminister zu tun. Aber wieso sagte dieser Mann nichts, warum redete er nicht mit ihnen?

Harry blickte unverwandt in die Augen seines Gegenübers. Er dachte gar nicht daran, seinen Blick abzuwenden. Nur ein merkwürdiges Geräusch ließ ihn kurz aufhorchen. Noch einmal vernahm er es aus Ginnys Richtung. Fast wie ein Schluchzen, aber doch keines, sondern wohl ein Schluckauf. Mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand bewegte der Mann eines der silbernen Spielzeugautos aus der Reihe der anderen und rollte es vor und zurück auf dem polierten Holz. Sein Name war irgendetwas mit Owl McNarrow – Harry erinnerte sich wieder. Wie brachte es dieser Owl McNarrow fertig die Mädchen und ihn gefesselt in seinem Büro sitzen zu lassen und nichts zu veranlassen? Harry brauchte Hermine und Ginny gar nicht lange anzusehen – dann wurde ihm fast schlecht, weil er sah, dass sie am Ende waren. Er selbst fühlte sich nicht besser, und vielleicht ließ gerade dieses Gefühl, kurz vor dem eigenen Ende zu stehen, das er auf diese Weise und nur durch das Versagen eines Zaubereiministers herbeigeführt auf keinen Fall erleben wollte, seine Gedanken glasklar werden.

„Sie sagen mir, warum wir hier sind."

Harry empfand seine eigene Stimme als eisig, aber eisig war auch das Gefühl, das ihn überkam, wenn man ihn auf diese Weise sterben ließ.

Zeige- und Mittelfinger der linken Hand McNarrows drückten sich durch.

„Minderjährigenzauberei", antwortete der Mann.

Sein Gesicht wollte nichts verraten, aber Harry sah dahinter die Angst. Er ließ nicht ab, dahinter zu schauen.

„Hausfriedensbruch, Aufenthalt in dem Haus einer entflohenen Todesserin", zählte McNarrow auf.

Weiter, sagte Harrys Blick ihm.

„Verdacht auf Mitwisserschaft", kam es von der anderen Seite des Schreibtischs.

Der Zaubereiminister war nun ganz in seinen Drehsessel gepresst. Ginny ließ sich durch ihren Schluckauf vernehmen. Von Hermine war es ein hoher anhaltender Ton, der ihre Anspannung hörbar machte; hörbar nicht für Harrys Ohren, aber für irgendwelche Antennen seines Körpers, die für solche Signale ausgerichtet waren.

Der Zaubereiminister sprach nach endlosen Sekunden einfach weiter,
„Das Delikt der Minderjährigenzauberei wird nur Mr Potter angelastet. Er hat dabei auch ein wertvolles Gemälde beschädigt. Sachbeschädigung."

„Für wie gefährlich hältst du uns, McNarrow?"

Harry konnte hören, wie Hermine die Luft anhielt ob seiner Worte.

„Sehr", rückte der Minister mit der Sprache heraus, „...sehr. Gefährlich."

Der Sicherheitstroll scharrte zur Linken des Zaubereiministers mit einem Fuß, aber McNarrow vermochte ihm keine Anweisungen zu geben.

„Sie brauchen Hilfe", sagte Harry klar und kalt, er fühlte sich selbst, als hätte er einen Eiszapfen verschluckt, „Sie brauchen jemanden", sagte er wieder, „wenn wir so gefährlich sind, wie Sie meinen, dann brauchen Sie einen guten Auror im Raum: Kingsley Shacklebolt."

„Mr Kingsley Shacklebolt", flüsterte McNarrow mit heiserer Stimme.

Ginny schluckte.

Als Kingsley den Raum betrat, sah der Zaubereiminister hilfesuchend und mit halboffenem Mund zu ihm auf, dann aber musste er wieder in Harrys Augen sehen.

„Kingsley", sagte Harry ohne seinen Blick von Owl McNarrow abzuwenden, „du löst zuerst unsere Fesseln, danach lass dir etwas einfallen."

Kingsley Shacklebolt musste sehen, dass McNarrow vollkommen unter Harrys Einfluss stand, aber Harry war sich nicht sicher, ob Kingsley auch die Notwendigkeit erkannte, dass Hermine, Ginny und er sofort hier raus mussten und nicht noch Stunden als Gefangene des Ministeriums zubringen konnten. Doch Kingsley tat, was Harry ihm gesagt hatte.

Er löste mit einem einer Zauberstabbewegung die unsichtbaren Fesseln aller drei. Harry stand als erster auf den Beinen, sah weiter McNarrow ins Gesicht und sprach zu den Mädchen.
„Komm", sagte er, „kommt!"

Die Feder war der Schlüssel. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Dumbledore an die Möglichkeit gedacht hatte, dass sie einen Portschlüssel benötigten, und dieser hier musste erst von allen dreien berührt werden, damit er funktionierte. Harry zog die rotgoldene Feder des Phönix hervor und bedeutete den anderen, zuzufassen. Hermine und Ginny legten nur die Fingerspitzen an – es ging los. Der Blick zwischen McNarrow und Harry riss im selben Moment.