Kapitel 11, Das blaue Haus
Es gab nur einen, der von dem Drama um Harry, Hermine und Ginny nicht einmal die halbe Geschichte mitbekommen hatte, und das war Hagrid. Er empfing die drei Vermissten in einer schlichten, kaum vom Tageslicht erhellten Diele. Sie fielen ihm praktisch in die Arme. Hagrid vermochte, sie alle drei an seinem massigen Körper zu halten, und da blieben sie auch zunächst für eine Weile liegen.
"Bei Merlin und den drei Ungeheuern, wie seht ihr denn aus!"
Niemand antwortete ihm. Harry drehte sich halb, so dass er nun mit seinem Rücken an Hagrid lehnte, er schloss die Augen hinter seiner Brille und atmete tief und regelmäßig. Hagrid ließ sich mit seiner Last auf einer leeren Blumenbank direkt hinter ihm nieder und konnte nun die Gesichter seiner drei Schützlinge betrachten. Hermines Gesicht nur halb, und Ginny hatte ihr Gesicht tief in Hagrids Umhang vergraben, aber Harrys Gesicht sah er deutlich. Harry spürte Hagrids Blick auf sich. Ihm war, als wäre er zu Hause angekommen, obwohl er keinen blassen Schimmer davon hatte, wo sie waren.
"Ihr seht überhaupt nicht gut aus", hörte Harry Hagrid sagen. "Seid ihr krank?"
"Wir brauchen Wasser und etwas Essen. Brot vielleicht", sagte Harry leise. "Aber bitte mach irgendwas, damit man es nicht schlucken muss", fügte er hinzu.
"Meine Güte, Harry, die ham mir gesagt, ihr kämt vom Ministerium – was ham die bloß mit euch dort angestellt?"
"Hat Kingsley nicht mehr erzählt?" fragte Harry matt.
Dann hörte er Schritte.
"Das sind sie", sagte eine Stimme, die nur ganz entfernt wie Minerva McGonagall klang.
Hermine öffnete ihre Augen daraufhin, denn sie musste ihre Lehrerin als erste erkannt haben. Als Harry die Augenlider hob, stand Professor McGonagall schon unmittelbar vor ihnen.
"Hermine Granger", sagte sie, „Ginny Weasley und Harry ... Potter."
Harry stellte sich auf seine eigenen Beine. Er fühlte sich ungeheuer leicht, als hätte sein Körper kein Gewicht mehr und er könne jeden Moment von einem Luftzug weggepustet werden. Gerade deshalb fiel es Harry auch schwer, auf den Füßen stehen zu bleiben und nicht einfach vom Boden zu kippen. Ginny raffte sich als letzte auf.
"Kommt", sagte Professor McGonagall und fasste Ginnys Hand.
Hermine hielt sich bei Harry fest, und Hagrid legte eine Hand auf Harrys Schulter, die machte, dass er sich fester am Boden fühlte. Sie gingen über die Diele. Noch hatte Harry keinen Blick für seine Umgebung. Er wusste nur, dass sie sich in Sicherheit befanden, und das war genug für den Augenblick. Dann, vor einer kleinen Tür blieb Professor McGonagall stehen und wies darauf mit der Hand.
"Mr Potter", sagte sie und schenkte ihm einen Blick. Wahrscheinlich ungewollt wurde es ein sehr langer Blick. McGonagall musterte Harry von Kopf bis Fuß, bevor sie ihn endlich in das Zimmer, was hinter der Tür lag, schickte. Seine Hand entglitt der Hermines und er trat in den neuen Raum. Einmal sah Harry noch zu Hagrid auf, dann ging er einfach hinein, wie man es ihm gesagt hatte, und legte sich auf das erstbeste Polstermöbel, das ihm in den Weg kam.
Er kippte sofort weg in eine seltsame Traumwelt unterschiedlicher Gestalten, mit Farben und Lichtern, aber nichts wollte hängen bleiben. Keine Geschichte entspann sich, keine Bilder würden ihm im Nachhinein noch erinnerbar sein, alles drehte sich, verschwamm und deutete ins Ungewisse.
Der Grund, der Harry wieder erwachen ließ, war eine leichte Übelkeit. Sie steigerte sich, sobald er begriffen hatte, dass ihm übel war. Er wusste nicht recht, wohin. Mit einem Mal erfasste er das Zimmer, in dem er sich ausgeruht hatte. Edle Möbel, ein Tischchen mit Spitzendecke, Goldgerahmte Zaubererportraits, Teppiche auf dem Boden und unter ihm auf dem Liegemöbel eine gemusterte, fein gewebte Decke. Auch musste ihn jemand während seines Schlafes mit einem ebenso schönen Stoff zugedeckt haben – darüber konnte er unmöglich erbrechen. Aber es geschah, dass er wirklich nicht anders konnte, als sich zu übergeben, und alles, obwohl es nicht viel hätte sein dürfen, denn er hatte die letzten vierundzwanzig Stunden nichts zu sich genommen, kam in einem Schwall über Decke und Sofa bis auf den teppichbedeckten Boden und kleckerte auch auf seine eigene Kleidung und beschmutzte die rechte Hand, die er vor den Mund hatte halten wollen. Harry verzog das Gesicht, wenngleich er sich nun besser fühlte, denn das Würgegefühl war jetzt nicht mehr da. Mit viel Geschick zog er sich mit der linken Hand seine Kleidung vom Oberkörper und ließ sie neben die Liege in das Erbrochene fallen. Sie sah nicht sehr viel besser aus als alte Putzlumpen. Er fingerte nach seinem Zauberstab – auch mit der Linken – richtete ihn auf seine rechte Hand und murmelte einen Spruch, den auch Mrs Weasley immer benutzte, wenn sie irgendetwas sauber machen wollte. Ein einfacher Haushaltszauber, aber er funktionierte nicht, nicht mit der linken Hand. Mit seiner schmierigen rechten Hand aber ging es. Harry zauberte mit rechts alle Spuren von Erbrochenem weg, auch seine Kleidung ließ er verschwinden. Am Ende war nur die Hand noch unsauber und roch auch sehr unangenehm. Allein sie an der Decke abzuwischen würde nichts nützen gegen den schlechten Geruch. Da Harry am Überlegen war, öffnete sich die kleine Zimmertür. Lupin trat ein. Harry vergaß einen Moment, was ihn gerade noch beschäftigt hatte, denn Lupin mochte er gerne wiedersehen, zumal jetzt, nachdem er seinem Gefühl nach mindestens dreihundert Jahre von ihm und seinesgleichen getrennt gewesen war. Lupin aber erkannte wohl sofort, was geschehen war – er roch es, seine Nasenflügel weiteten sich kurz, und prüfend schien er die Luft einzusaugen. Dann sah er Harrys Hände, die linke mit einem weiteren Versuch beschäftigt, die rechte Hand zu säubern. Lupin zögerte nicht lange, sondern führte seinen Zauberstab, den er unversehens in den Fingern hatte, kurz durch die Luft. Harrys Hände waren augenblicklich sauber und er atmete ihren Geruch von Seife. Gleichzeitig klappte eines der Fenster auf und die rotgolden schimmernde Gardine wurde von einem Luftstoß in den Raum geweht. Lupin kam mit zwei großen Schritten an Harrys Liegestatt und umarmte ihn fest.
"Dumbledore war der einzige, der sagte, du würdest leben", sagte er mit halber Stimme, "Harry, ich habe immer versucht, ihm zu glauben!"
Harry hätte sich gerne unter seiner Decke verkrochen, als Lupin auf diese Weise anfing.
"Harry", Lupin kniete auf dem Boden, so dass er Harry auf gleicher Höhe in die Augen sah, "du hast uns allen das Herz schwer gemacht!"
Harry schloss die Augen.
"Dumbledore hat es immer glauben wollen, dass euch das Schlimmste nicht widerfahren ist", sprach Lupin nah an Harrys Ohr.
"Aber er ist krank geworden, weißt du Harry."
Lupins Stimme hob sich bei den letzten Worten, als erwarte er eine Antwort.
Harry fragte nur überrascht zurück,
"krank?",
und schlug die Augen wieder auf.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Lupin erhob sich und wandte den Blick. Eine Hexe mit hohem Spitzhut betrat das Zimmer. Harry erkannte sie wieder, denn sie war es gewesen, die auf der Versammlung des Ordens des Phönix seine Gedanken durchschaut hatte. Ihre runde Brille erinnerte ihn sofort, und reflexartig versuchte er, seine wichtigen Gedanken hinter unwichtigen zu verbergen, oder gar nichts zu denken.
Lupin trat wie selbstverständlich von Harrys Liege zurück und machte damit der Hexe Platz.
"Mr Potter", begrüßte sie ihn mit sanfter, aber sicherer Stimme. (Ihre Stimme war tatsächlich unsagbar schön, und Harry konnte sich nicht erinnern, diese Stimme schon einmal gehört zu haben.)
Dann setzte sie gleich zu einem kleinen Monolog an, dem Harry ruhig folgte.
"Ich bin Sophie Eagle. Ich komme zu Ihnen als Heilerin. Zudem sind Sie in meinem Haus zu Gast, solange der Orden es verfügt. Das Haus Ihres Paten ist vor drei Tagen als Erbschaft an eine Todesserin gefallen. Es war nur ein bürokratischer Schritt, darum sollte es Sie nicht weiter beunruhigen, Sie sind hier geschützt! Das Zimmer ist das Ihre, wann immer Sie sich in meinem Hause aufzuhalten gedenken.
Doch zu dem Grund meines Besuches: Sie sind ernsthaft krank, jedem muss das auffallen bei Ihrem Anblick. Ich muss Sie untersuchen und hoffe mit Ihrem Einverständnis."
Sie ließ eine Pause, und Harry nickte ergeben. Er trug keine Gedanken in seinem Kopf, trotzdem er soeben erfahren hatte, dass Sirius Haus nun den Todessern gehörte. Mrs Eagles Wärme in der leisen Stimme beruhigte ihn.
Die Hexe schickte Remus Lupin aus dem Zimmer. Harry blickte ihm nicht nach. Er hörte kaum Lupins Schritte auf den weichen Teppichen, schließlich aber das Öffnen und Schließen der Tür, und selbst das nur sehr leise.
Mrs Eagle nahm Harrys Handgelenk und maß daran den Puls. Ihre Finger waren schlank und elegant. Harry wunderte sich, ob Lupin wegen des Pulszählens hatte gehen müssen.
"Miss Granger sagt, Sie waren in den vergangenen zwei Wochen in einem unbekannten Raum und haben nur Nahrung zu sich genommen, die von einem Hauselfen herbeigezaubert worden ist?"
"Ja", sagte Harry leise.
Mrs Eagle legte ihre Hand auf Harrys Stirn und fühlte die Temperatur.
"Hermine" (jetzt nannte sie Hermine bei ihrem Vornamen) "sagt auch, dass es dort, wo Sie waren, nicht immer warm war, wenn die Sonne schien?"
"Jaah", sagte Harry und fügte diesmal noch hinzu, "es war wie ... wie in Sirius Haus."
Mrs Eagles rollte fragend die Augen, sagte aber nichts, ihre Hand ruhte noch immer auf Harrys Stirn. Harry spürte, wie ihn wieder jenes Gefühl beschlich, von dem er sich erst vor wenigen Minuten befreit hatte. Er lag flach auf dem Rücken und es würgte ihn.
"Misses", brachte er hervor, "dauert das Temperaturfühlen so lange?"
Mrs Eagle ließ einige Zeit vergehen, ehe sie eine weiße Emailleschüssel unter Harrys Liege hervorholte. Eine Sekunde später wäre alles ins Bett gegangen.
Harry war mit dem Oberkörper hochgekommen, Mrs Eagle strich über seinen Nacken, bis Harry sich beruhigt hatte. Dann nutzte sie die Gelegenheit, ihr Hörrohr auf seinen entblößten Rücken zu setzen.
"Psch!" machte sie.
Harry verdrehte die Augen über der selbstreinigenden Schüssel.
"Atmen Sie", sagte Mrs Eagle.
"Das tue ich doch, Mrs Eagle."
"Tief einatmen und langsam ausatmen", erklärte sie.
Als sie auf dem Rücken genug gehorcht hatte, drückte sie Harry auf die Liege zurück und setzte das Rohr auf seinen Brustkorb, und als sie mit dieser Form der Untersuchung geendet hatte, zog Harry schnell die dünne Decke bis zum Kinn über seinen Körper.
"Wozu machen Sie das alles?" fragte er verunsichert.
Mrs Eagle seufzte. Sie stellte sich einen Stuhl neben Harrys Sofa, sie sah ihn an und er sie.
"Sie sehen wirklich nicht gut aus Mr Potter", sagte sie und brach schon wieder ab.
"Darf ich dich bei deinem Namen nennen, Harry?"
Harry versuchte ein Lächeln, obwohl ihm schon wieder schlecht werden wollte. Doch Mrs Eagle würde vielleicht gerade jetzt zu einer längeren Erklärung ansetzen, wie er sie nur selten von den Erwachsenen zu hören bekam, und er presste die Lippen aufeinander.
"Ihr alle, Ginny, Hermine und Du, seht aus, als hättet Ihr lange Zeit kein Sonnenlicht mehr gesehen. Das wäre auch kein Wunder, wenn es stimmt, was Hermine sagt, nämlich dass Ihr euch lediglich in einem Raum aufgehalten habt, den niemand außer euch kannte. Die Ordensmitglieder haben euch für tot gehalten, auch wenn Dumbledore uns vom Gegenteil überzeugen wollte. Aber schließlich ist er doch immer schwächer geworden, obwohl er nicht aufhörte zu glauben."
Harry wurde bei dieser Erklärung kein bisschen besser, er kämpfte nach außen nicht sichtbar, die Übelkeit niederzuhalten. Mrs Eagle indessen dehnte die Zeit, indem sie eine Weile nichts sagte.
"Sogar er", flüsterte sie, und Harry fürchtete, sie würde schon wieder eine längere Pause einlegen.
"Ich kannte deine Mutter", sagte sie weiter, "und jetzt begegne ich ihrem Sohn wie einem Fremden."
"Schüssel", nuschelte Harry, ohne die Zähne zu auseinander zu machen.
Diesmal reichte Mrs Eagle ihm die Emailleschüssel etwas schneller.
"Was ist mit mir los?" wollte Harry wissen, kaum dass der Würgereiz abgeklungen war.
"Ihr drei habt eine magische Krankheit."
"Sagten Sie, Sie kannten meine Mutter?"
"Ja, Harry."
"Warum wird mir schon wieder schlecht?"
Es folgten drei endlose Tage. Wenn Harry nicht gerade über der Schüssel hing, dann lag er wie tot auf dem Rücken, und immer ganz plötzlich zog er die Beine an und rollte sich ganz und gar ein, um der schrecklichen Bauchschmerzen Herr zu werden, die jedem neuen Anfall von Erbrechen vorausgingen. Kein Wort ging ihm mehr über die Lippen. Er stand am Rande seines Bewusstseins, seine Seele schwebte irgendwo auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde und beobachtete, wie sie ihm stündlich den Trank einflößten, den Professor Snape persönlich überbracht hatte.
Harry konnte sich an diese drei Tage erinnern wie an einen Film, in dem er selbst die Rolle des Kranken gespielt hatte. Plötzlich lag er wach, mitten in der Nacht, schlug die Augen auf, fühlte sich vollkommen normal und wusste, was sich in den vergangenen drei Tagen um ihn zugetragen hatte.
Gardinen ließen Mondlicht durchscheinen und die Zahlen auf dem Ziffernblatt der Uhr blitzten. Von der Wand gegenüber vernahm Harry ein Rascheln. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er das Portrait an der Wand. Ohne Brille sah Harry die Umrisse des Rahmens so scharf, wie es eben im Dunkeln möglich ist.
"Na? Wach?" sprach eine belustigte Stimme aus dem Bild.
Harry stützte sich mit den Armen auf, dass sein Oberkörper höher kam.
"Phineas", sagte er lediglich den Namen dessen her, der gerade zu ihm gesprochen hatte.
Phineas Nigellus hüstelte.
"Nun, wie gefällt dir das Haus deines Paten nach diesem kleinen Ausflug?"
Harry fischte seine Brille von einem kleinen Tischchen und stand auf. Barfuß tappte er über weiche Teppiche bis hin zu der Wand und blieb unmittelbar vor dem Portrait des Schuldirektors a. D. stehen. Aus unerfindlichem Grund sah er das Bild nur verschwommen. Irritiert nahm er darum die Brille wieder ab und erkannte die Züge seines Gegenübers nun so klar, wie es auf einem nachgedunkelten Ölportrait eben möglich ist.
"Warum hast du mich dort hingeschickt?"
"Habe ich das? Willst du mir die Schuld geben? Dafür, dass du beinahe an deiner Neugier verreckt wärest?"
Harry konnte gar nichts auf diese Unverschämtheit erwidern. Er fühlte nicht einmal, ob die Worte Phineas' ihn überhaupt berührten. Dann fiel ihm doch etwas ein, das er sagen wollte, und er sagte es nicht besonders laut, weder wütend noch zu seiner Rechtfertigung,
"Ich dachte, auf diese Weise Ron zu finden, ohne dabei von ihm, Voldemort, gesehen zu werden. Auf jener Seite der verfluchten Tür findest du jeden geheimen Ort, so war es doch."
"Sie haben Recht, die ganze Reise hatte keinen Sinn", fügte Harry nach einer Weile noch hinzu, "andererseits", setzte er wieder zu reden an, "wenn Voldemort auch glaubte, ich sei tot, ihm sei die Macht von Stund an sicher, dann – was ist in unserer Abwesenheit passiert?" wandte er sich an das Portrait.
"Nichts", wisperte Phineas geheimnisvoll.
"Nichts?"
"Nun, ich habe mich von der Politik zurückgezogen und darum wirst du wohl einen anderen fragen müssen. Alles in allem war es recht ruhig bis du in dieses Haus kamst."
"Ach", entwich es Harry.
Phineas lächelte.
"Sag", meinte er, als unterhielten sich zwei alte Bekannte bei einer Tasse Tee, "wie lautete eigentlich das Passwort?"
Harry verschloss seinen Mund und sah fragend zu Phineas.
"Du brauchst es nicht erwähnen", sagte Phineas, "aber fragtest du dich nicht, wer es wohl bestimmt hat? Schließlich ist der Zauber viele hundert Jahre alt, viele Generationen, und die ersten konnten von Tom Riddle nichts wissen."
Harry erfuhr also, dass Phineas Nigellus selbst den unaufrufbaren Namen zum Passwort bestimmt hatte, indem er der alten Mrs Back einen Besuch in ihrem Rahmen abgestattet hatte. Harry merkte auch, dass er nun schon mehr erfahren hatte, als er es bei Phineas Nigellus erwarten durfte, und beschloss daher, sich wieder hinzulegen.
"Ach und", rief ihm Phineas hinterher, als ob er noch etwas vergessen hatte zu sagen.
Harry drehte sich, um zu hören.
"Eine gute Nachte wünsche ich noch."
Harry legte sich hin. "Phineas?", fragte er in die Dunkelheit und erwartete diesmal keine Antwort.
"Ja?" erklang es eine halbe Minute später vom anderen Ende des Raumes.
Harry durchzuckte ein klitzekleiner Schreck. Um nicht unhöflich zu erscheinen, suchte er noch einen Fetzen, der Gesprächsstoff abgab und dabei fielen ihm die seltsamen Ausfälle beim Sehen und Hören in der Welt hinter der verfluchten Tür ein. "Außerdem roch es am Meer, als machten die Doxys dort Urlaub", setzte er seiner Erklärung noch hinzu und drehte sich mit geschlossenen Augen auf die von Phineas abgewandte Seite.
"Oh", sagte Phineas, nachdem wieder eine halbe Minute vergangen war, laienhaft mimte er den Bedauernden, "der Zauber ist schon in die Jahre gekommen und hat auch seine Schwächen. Meinst du, es würde lohnen, die defekten Stellen auszubessern?"
Aber da hörte Harry schon nicht mehr.
Als Phineas am nächsten Morgen nicht mehr in seinem Portrait zu sehen war, nutzte Harry die Abwesenheit, um das Bild mit einem Tuch zu verhängen. Er nahm dafür die rote Decke von einem der Tische im Zimmer.
"Hermine, wir müssen ganz dringend mit Ron reden."
Jeder, der Harry an diesem Morgen am Frühstückstisch in Mrs Eagles Küche sah, wunderte sich, weil Harry keine Brille trug. Hermine beschwerte sich, sie bräuchte dringend eine Brille und Harry feixte nur, "Du hast zu lange über Büchern gesessen."
Ginnys Blick ging lange verträumt durch den Raum, in dem alles von pastellblauer und weißer Farbe war. Nur die Blumen in der Tischmitte leuchteten orangerot – wenn man unscharf sah, waren es nur Farbtupfer in der Luft. Mrs Eagle freute sich für Harrys neue Sicht; alles in allem war sie nur vorübergehend in der Küche, kam hinein, um einen Tee aufzugießen, ging hinaus, um den Tee zu bringen, kam erneut für zwei Minuten hinein, um Tassen zu holen und so weiter.
Eine oberflächliche Fröhlichkeit herrschte unter Ginny, Hermine und Harry, zu der sie niemand angehalten hatte.
"Wir müssen Ron im Krankenhaus besuchen", wiederholte Harry, weil Hermine ihm anscheinend kein Gehör geschenkt hatte. Dabei unterdrückte er nur schwer sein Lachen. Urplötzlich kicherte Ginny und machte damit zum ersten Mal an diesem Morgen auf sich aufmerksam.
"Könnt ihr euch noch an den toten Mann erinnern?" fragte sie und brachte damit unvermittelt ein neues Thema auf den Tisch.
Hermine lachte hierauf einmal kurz. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und Harry dachte, sie tue das, weil sie an etwas komisches denken musste, aber dann sah er Unbehagen in Hermines Augen und wie sie aufsprang und dabei den Stuhl halb umwarf, und hinausrannte, um sich anscheinend zu übergeben. Ginny hatte den Kopf in die Arme gelegt und wurde heftig geschüttelt. Ob von Weinen oder Lachen, wusste Harry nicht, bis Minerva McGonagall die Küche betrat, den Zauberstab voran auf ihre beiden Schüler gerichtet, und ein schlichtes "finite" aussprach.
Harry sah die Lehrerin entgeistert an. Die blickte über ihre quadratischen Gläser hinweg direkt in sein Gesicht – er war der einzige im Raum, der mit dem Gesicht zur Tür gewandt saß – und behielt ihre strenge Miene.
"Wer von euch hat einen Ermunterungszauber dieser miesen Sorte über euch gesprochen?" fragte sie drohend und wollte die Tür in ihrem Rücken gerade schließen, da Hermine, sich ein frisches, weißes Taschentuch an die Lippen haltend, von Mrs Eagle in den Raum geschoben wurde. Professor McGonagall bedachte sie mit einem mitleidigen Blick, wartete, bis Hermine sich gesetzt und Mrs Eagle die Küchentür von außen geschlossen hatte und stellte sich dann an die Stirnseite des kleinen Küchentisches, so dass jeder ihrer drei Schüler sie gut sehen konnte.
"Wie konntet ihr!" sprach sie, "Kinder, die ihr seid ..."
Harry hörte jedes Wort, das dieser Ankündigung folgte, überdeutlich, jedes Wort schmerzte in seinen Ohren, aber für ihn war die Predigt von Minerva McGonagall nutzlos. Sie hätte es auch einer Kuh erzählen können. Harry entnahm keinem einzigen Wort mehr einen Sinn. Wörter wie und, sich, hätte, Merlin, sein, suchen, Hogwarts, in, oder, Ministerium, er, Hose, fort, hält, uns, nicht, niemals, nie, sterben, Zeitung und Eule reihten sich sinnlos aneinander. Erschöpft legte er seine Stirn auf der kühlen, weißlackierten Oberfläche der Tischplatte ab und schloss die Augen. Nur die Ohren hielt er sich nicht zu. Aus Höflichkeit ertrug er den Schmerz, und außerdem wollte er sich nicht respektlos gegenüber seiner Lehrerin erweisen. Es war schrecklich ungerecht, dass sie ihm solche Vorwürfe machte, aber aus ihrer Sicht der Dinge – das wusste er – war es gerechtfertigt.
Plötzlich blieb es für einen Moment still. Keine Vokabel wurde mehr auf ihn abgeschossen.
Die Worte, die auf die Unterbrechung folgten, verstand er wieder.
"Miss Granger, Miss Weasley."
Und er verstand auch, dass McGonagall seinen Namen ausgelassen hatte und sah wieder auf.
"Es wäre Professor Dumbledores Angelegenheit gewesen, mit euch zu diesem Zeitpunkt eine Unterredung zu halten – aber", Professor McGonagalls Augen weiteten sich, und sie blickte in kurzer Zeit nacheinander Ginny, Hermine und Harry an – wobei Harry das Gefühl hatte, dass McGonagalls Blick vor allem ihm galt, "Professor Dumbledore ist krank."
In den Gesichtern der Mädchen las Harry Bestürzung. Sie hatten es also noch nicht gewusst.
Noch immer ist er krank, wollte Harry fragen, aber er traute sich kein Wort zu sagen. Er fühlte, es stand ihm nicht zu, in dieser Situation zu reden und er starrte auf die blaue Küchenwand.
McGonagall sprach von neuem.
"Etwas anderes zu sagen, bin ich hier", erklärte sie.
"Sie werden zu niemandem ein Wort mehr über die vergangenen zwei Wochen sagen. Selbst hier im Haus dürfen sie nicht darüber reden – begreifen sie das meinetwegen als kleine Übung für die Zeit, da Sie wieder nach Hogwarts gehen. Andererseits möchte Professor Dumbledore einen detaillierten Bericht von jedem von ihnen über die vergangene Zeit. Natürlich können Sie diesen Bericht an der Stelle enden lassen, da ich Sie vor drei Tagen empfangen habe. Aber seien Sie darauf gefasst, dass die Leute, die nicht zum Orden gehören, Sie für Geister halten werden. Und nicht zuletzt muss ich mich bei Ihnen nach Kreacher erkundigen."
Die Pause, die auf McGonagalls letzten Satz folgte, war für Harry und Ginny, besonders aber für Hermine unangenehm.
"Ich denke, wir werden Professor Dumbledore Bericht darüber geben", sagte Hermine.
Damit gab sich ihre Lehrerin zwar zufrieden, aber die Falten auf McGonagalls Stirn sprachen von höchster Besorgnis.
"Nun gut, schreiben Sie es in Ihren Bericht."
Den halben Tag verbrachten Harry, Hermine und Ginny im Treppenhaus, um herauszufinden, wer sich im Haus mit ihnen aufhielt, die andere Hälfte saßen sie getrennt voneinander in ihren Zimmern, um den Bericht für Dumbledore zu schreiben. McGonagall hatte sie beim Umherschleichen erwischt und alles weitere so angeordnet.
Harry saß mit der nassen Feder vor dem Pergament, das sich an den Enden immer wieder aufrollen wollte, und konnte kein Wort niederbringen. Er schaute über seine Schulter, aber da war niemand. Jedenfalls war mit den Augen nichts zu erkennen. Nur Luft und das Zimmer eben. Harry legte die Feder ab, stand auf und trat ein paar Schritte hinter seinen Stuhl. Von dieser Position aus betrachtete er den Sekretär. Feder und Pergament lagen unberührt, das Tintenfässchen stand gut gefüllt daneben. Wenn er mit seinem Bericht fertig wäre, sollte die Tinte aufgebraucht sein, so hatte ihn Professor McGonagall angewiesen.
Doch was würde er schreiben?
Das Zimmer nach jemandem abzusuchen, den man weder sehen noch auf sonst eine Weise wahrnehmen konnte, der aber vielleicht da war und das Geschriebene mitlas, hatte keinen Zweck. War der Tote im Schlafrock ihnen schon bis hierhin gefolgt? Hatte er die Spur zu dem Haus von Mrs Eagle schon gefunden? Auf der einen Seite klang es unwahrscheinlich, dass der Tote gewusst haben sollte, wohin der Portschlüssel die Kinder aus dem Ministerium gebracht hatte, auf der anderen waren immerhin schon dreieinhalbe Tage vergangen, in denen der Tote und sein Geist die Möglichkeit gehabt hatten, nach ihnen zu suchen. Er, die Rede ist von dem Toten, würde alles über sie herausfinden wollen – und dann? – wem würde er es erzählen?
Harry setzte sich wieder, tauchte die Feder neu ein und kritzelte in kleiner Schrift etwas hin. Dabei verschwammen die ersten Buchstaben, weil er zuviel Tinte aufgenommen hatte, aber Harry korrigierte sich nicht sondern schrieb unbeirrt fort. Der Mann, sagte Harry sich, hätte schon all die Jahre den Orden ausspionieren können und dann über seinen Geist Voldemort oder Lucius Malfoy Bericht erstatten können. Wahrscheinlich war das gar nicht sein Ziel. Er erpresste die Kinder nur damit, da er den Konflikt kannte und wusste, dass Harry und seine Freunde damit erpressbar waren.
Wann sie Ron besuchen durften, verriet ihnen bis zum Abend keiner. Beim Abendessen, das sie in einem Gesellschaftszimmer einnahmen, hieß es, es werde am nächsten Tag soweit sein. Zu Tisch saßen außer Professor McGonagall Mrs Eagle, Lupin und eine weitere Hexe, die Harry nicht kannte. Zumindest Mrs Eagle bezog sich manchmal auf ihre jugendlichen Gäste, aber letztere hatten still zu sein wie die Kinder, wenn Erwachsene redeten. Professor McGonagall warf ihnen bei jedem Versuch, sich in das Gespräch der Erwachsenen einzumischen, einen warnenden Blick zu. Sie ließ vor allen den Jungen nicht zu Wort kommen, mit ihren Blicken beugte sie noch jeder Frage vor. Dabei musste sie nach Dumbledore doch am besten wissen, wie wichtig es für Harry war, an Informationen über die Vorgänge draußen zu gelangen. Was machte Voldemort gerade? Wer war schon unter seinen Opfern, seit der zweite Krieg begonnen hatte? Was tat der Orden?
"Wie waren Ihre letzten Eindrücke von Brasilien?"
Mrs Eagle hatte ein kleines Stück Fleisch mit ihrer Gabel aufgenommen, führte es aber nur halb zum Mund und senkte die Gabel dann wieder, um die Frage der unbekannten Hexe zu beantworten.
"Nun", begann sie mit ihrer schönen Stimme – warum krächzte ihre Stimme nicht mehr, seit Harry ihr wieder begegnet war? – "die rebellierenden Hauselfen sind in den Wäldern schwer aufzufinden. Sie verstecken sich, so gut es geht, in den Wäldern, da sie befürchten müssen, eingefangen zu werden. Selbst freie Elfen holt man von der Straße und setzt ihnen Zaubersprüche in den Kopf, mit denen man sie von neuem auf Lebenszeit versklavt. Sie, ihre Kinder und Kindeskinder."
Mrs Eagle ließ ihren Worten eine Pause folgen, bevor sie die Gabel wieder zum Mund hob.
"Wieso eigentlich nicht?" fragte die Hexe, da Mrs Eagles Besteck noch nicht ganz am Mund angelangt war.
Hermine horchte auf.
"Was meinen sie damit?" fragte Mrs Eagle und ihre Gabel sank erneut auf den Teller zurück.
"Ich habe schon so viel Elend gesehen, ausgestoßene Hauselfen, die, weil sie nicht arbeiteten, eingegangen sind. Die armen Geschöpfe fühlen sich wertlos, wir entziehen ihnen den Grundstock ihres Selbstwertgefühls, wenn wir sie von ihren Pflichten entbinden."
Hermines Augen wurden größer mit jedem Wort, dass die Unbekannte von sich gab. Harry war sich sicher, sie hätte längst etwas gesagt, wenn sie nicht von den Ansichten der anderen Hexe so verblüfft gewesen wäre ebenso wie von dem Umstand, dass Mrs Eagle sich offenbar mit rebellierenden Hauselfen beschäftigte, und wenn Mrs Eagle nicht an ihrer Stelle widersprochen hätte.
"Die Hauselfen brauchen keine Pflichten! Was sie brauchen, ist Bildung! Einige von ihnen besitzen ungeahnte Weisheit, die uns sehr viel weiter bringen würde als ihre täglichen Dienste, die sie nur zermürben."
"Aber sehen Sie nicht, dass die Zauberer auf die Dienste der Hauselfen angewiesen sind! ... Was - um nur ein Beispiel zu nennen - wäre Hogwarts ohne Hauselfen?" fügte die Hexe mit einem Blick auf die Kinder hinzu.
Harry sah von der Hexe über Mrs Eagle zu Hermine an seiner Seite, dabei streifte sein Blick Ginny, die sich ganz auf ihren Stuhl zurückgezogen hatte, so als wäre sie schon mit essen fertig. Mrs Eagle hatte sich während der Worte ihres Gegenübers doch das Stückchen Fleisch in den Mund geschoben, kaute mit Zurückhaltung und schluckte fast ohne Geräusch.
"Hauselfen sind zuverlässiger als menschliches Dienstpersonal, Misses Eagle. Solange sie sich ihrem Dienstherrn verpflichtet fühlen, gelangen keine Informationen aus dem Haus, das gilt gerade für Hogwarts und gerade in der heutigen Zeit!" Noch einmal erhob die Hexe warnend ihre Stimme.
Hermine war ganz still geworden und hatte die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst, als sie ganz plötzlich ihren Mund wieder aufriss, um los zu werden, was ihr auf dem Herzen brannte, während sie starr an Professor McGonagall vorbei zu der fremden Hexe an der Stirnseite des Tisches guckte.
"Sie stehen unter Zwang, sie vertrauen uns nicht", sagte sie und meinte damit die Hauselfen.
"Jaah?" äußerte die Hexe, offenbar an Hermines Meinung interessiert, wie auch die Augen aller anderen Erwachsenen sich auf das Mädchen richteten, und so fühlte sich Hermine zum Reden aufgefordert.
"England", sagte sie leise, aber bestimmt, "sollte seine Hauselfen per Gesetz befreien und sie auf seine Seite gegen Voldemort ziehen."
Minerva McGonagall ließ versehentlich ihr Besteck aus den Fingern fahren, dass es auf den Teller fiel. Es geschah in absolute Stille hinein. Sie tupfte sich mit der Serviette den Mund und diesmal warf sie ihren erwachsenen Tischgenossen auffordernde Blicke zu, das Thema fallen zu lassen. Harry suchte Lupins Blick, aber der vermied es, überhaupt von seinem Teller aufzuschauen. Lupin schien von seinem eigenen Verhalten beschämt. Zumindest das verschaffte Harry ein wenig Genugtuung, aus Lupin würden sie später schon noch herauskriegen, was die Erwachsenen vor den Kindern zu verbergen versuchten, warum das Thema Voldemort nicht angeschnitten werden durfte.
Eine Glocke schellte und brach damit das allgemeine Schweigen. Mrs Eagle reagierte umgehend, indem sie sich vom Tisch erhob und sich – ganz besonders bei der fremden Hexe – entschuldigte, Lupin sah endlich von seinem Teller auf und direkt auf Harry, der allerdings seinen Kopf nach Mrs Eagle umgewandt hatte, die das Zimmer durch eine Seitentür verließ. Minerva McGonagall wollte eben zum Nachtisch übergehen, aber da wurde sie von Hermine unterbrochen, die sich hinter ihren Stuhl stellte und darum bat, auf ihr Zimmer gehen zu können, "Mir ist noch etwas unwohl."
"Ja ... ja", antwortete Lupin an McGonagalls Stelle. "Aber da ist noch was, Hermine", sagte er, "morgen ist alles zu eurem Schutz ... ähm, Verzeihung", Lupin rieb sich mit der Hand die Stirn und veränderte dann seine Bewegung so, dass es so aussah, als wolle er nur eine graue Haarsträhne aus seinem Gesicht streichen, "ihr könnt morgen Ron besuchen. Komm also rechtzeitig zum Frühstück. Und wenn du dich nicht fühlst, dann werden wir nachher noch einmal Mrs Eagle bei dir vorbeischicken. Alles klar?"
"Aber das hatten Sie uns doch schon mitgeteilt, Professor Lupin", erwiderte Hermine.
"Ach." Lupin rieb sich diesmal die Schläfe. "Bis morgen", sagte er dann und Hermine war entlassen.
Harry, der noch seinen Nachtisch vor sich stehen sah, fühlte sich ziemlich fehl am Platz, nun, wo Hermine schon unter einem Vorwand verschwunden war. Ginny saß so still und unbeteiligt, dass ihre Gegenwart kaum zählte. Er fragte sich gerade, wann die Erwachsenen ihn ins Bett schicken würden, da die ihm unbekannte Hexe ihm ihrerseits eine Frage stellte.
"Mr Potter?" verschaffte sie sich bei ihm Gehör, "wie gefällt es Ihnen bei Mrs Eagle?"
Harry wunderte sich nicht über die Frage an sich, aber darüber, dass eine Person sie ihm stellte, die er so gar nicht kannte. Zudem sah Professor McGonagall ihn an, als wäre sie äußerst interessiert an seiner Antwort. Was sagte Harry einer Frau, mit der er kaum einen Blick gewechselt hatte und in deren Nähe man das Thema Voldemort mied? Er wusste über sie nur, dass sie sich sehr für Mrs Eagle interessierte, für ihre Tätigkeit in Brasilien, und dass sie eine andere Meinung über Hauselfen hatte als Hermine.
"Gut", sagte er nun und hoffte, nicht zu lange überlegt zu haben.
"Gut?" fragte die Hexe nach.
Harry nickte.
Doch die Hexe sah irgendwie unzufrieden aus. Es wunderte Harry um so mehr, da jede andere Person, ob fremd oder nicht, sich mit der Antwort begnügt hätte.
"Mir gefällt es hier auch", sagte Ginny plötzlich.
"Miss Weasley, Sie sehen sehr zerschlagen aus", meinte Professor McGonagall daraufhin, "warum gehen Sie nicht auch ins Bett wie Miss Granger?"
Ginny erhob sich irritiert von ihrem Stuhl, die Frage war eigentlich eine Aufforderung gewesen und Professor McGonagall widersprach man in der Regel nicht.
"Dann möchte ich auch gehen, Professor", bat Harry rasch, ein einziger Augenkontakt verbrüderte ihn mit Ginny. "Ich bin wirklich müde!"
Die Erlaubnis zu gehen kam von der Harry unbekannten Hexe. "Natürlich, Mr Potter", sagte sie.
"Zum Kuckuck, was war mit denen los?" fragte Ginny, nachdem Harry mit ihr zur Tür hinaus war.
Harry mochte sich die gleichen Fragen wie Ginny stellen, er hatte das Gefühl, dass er in den nächsten Stunden und vielleicht noch länger keine einzige Antwort würde auftreiben können. Nach dem hoffnungsvollen Anfang mit Mrs Eagle hatte es keine wirklichen Gespräche mehr zwischen Harry und seiner Gastgeberin mehr gegeben, McGonagall folgte einzig ihrem erzieherischen Auftrag und Lupin zeigte sich nur dann, wenn auch andere Erwachsene zugegen waren, so dass kein Raum für Fragen blieb.
"Sie halten uns für Kinder!", empörte sich Ginny.
"Nein ..., nein", sagte Harry abwesend. "Sie wollten vielleicht gerne, wir wären welche, aber da können sie sich nichts vormachen, das wissen sie."
Sie durchquerten den Flur und Ginny schwieg für den Moment. In Gedanken ging Harry den Katalog an Fragen durch, die er hatte. Nicht einmal den Verbleib von Hedwig und Krummbein hatte er geschafft, in Erfahrung zu bringen. Selbst Hermine hatte keine Gelegenheit gefunden, danach zu fragen, und sie sorgte sich sehr um ihren Kater.
"Warum haben sie uns dann den Mund verboten?", fragte Ginny, mit einem Fuß schon auf der ersten Stufe der Treppe zur nächsten Etage und den Kopf zurückgewandt, da Harry stehen geblieben war.
Harry antwortete nicht sofort. Zwei Ereignisse hatten ihn aus seinen Gedanken geholt. Bei dem einen handelte es sich um Ginnys Stimme, bei dem anderen um die Tatsache, dass es in der Wand entlang der Treppe viele Türen gab, die er da zwei Stunden zuvor noch nicht wahrgenommen hatte. Harry vergaß vollkommen, seine Füße zu setzen, während er auf Ginnys Frage automatisch die erstbeste Vermutung als Antwort ausspuckte, die ihm einfiel.
"Vielleicht", und da er es aussprach, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, "war es wegen dieser Frau, die uns nicht einmal vorgestellt wurde."
"Du meinst Mrs Peach?", fragte Ginny und drehte sich ganz zu Harry um.
"Du kennst sie?"
"Sie ist vom Ministerium. Ich kenne sie von Dad."
"Welche Abteilung? Warum war sie bei Mrs Eagle zum Abendessen eingeladen? Weiß sie vom Orden?"
"Ich weiß nur, dass Dad und sie einmal ein Gespräch hatten, weil eine Zaubererfamilie ein Muggelkind adoptieren wollte, und Dad war als Experte in Muggelfragen an der Entscheidung beteiligt."
"Und? Wurde das Kind adoptiert?"
"Sie haben damals meinem Dad geglaubt, dass Muggelkinder sowieso an Zauberer glauben, weshalb -", Ginny unterbrach sich. Mrs Eagle kam ihnen von oben auf der Treppe entgegen. Für Harry und Ginny war es wie das Signal, endlich die Stufen hinauf zu nehmen. Mrs Eagle balancierte ein Tablett mit mehreren Apothekerfläschchen und lächelte Ginny und Harry im Vorbeigehen an, sagte jedoch nichts. Mit sich trug sie einen Geruch, der Harry unweigerlich an den Krankenflügel in Hogwarts erinnerte.
"Wir müssen Hermine fragen, sie hat vorhin etwas über Mrs Eagle in einem Buch gefunden. Sie war wohl sogar schon mal für die Schokofroschkarten nominiert", sagte Ginny, kaum dass Mrs Eagle in einer der neuen Türen verschwunden war.
Harry dachte nur kurz daran, ob diese Heilerin vielleicht noch mehr ihrer Patienten so wie Hermine, Ginny und ihn im eigenen Haus behandelte; andererseits sah das Zimmer, das sie ihm gegeben hatte, nicht gerade wie ein Krankenzimmer aus.
Am oberen Treppenabsatz blieb Harry wieder stehen.
"Wenn wir nicht über Voldemort reden durften, dann hat sie ganz sicher nichts mit dem Orden zu tun", äußerte er, allein um das Thema Mrs Peach abzuschließen. Es kümmerte ihn auch nicht wirklich, wer die Hexe nun war. Sein Blick ging geradeaus auf das Fenster, das der Diele im zweiten Stockwerk spärliches Licht gab, denn auch draußen war es nicht sonderlich hell. Nicht nur, dass es schon Abend war; nach einem langen heißen Sommertag hatten sich Wolken dicht, fast schwarz, zusammengezogen. Als es das erste Mal blitzte, war die Diele für die Zeit eines Augenaufschlags taghell und die sonst blauen Wände weiß. (Hier oben waren keine neuen Türen hinzugekommen.) Der erste Donner kam mit Verspätung. Harry spürte zur gleichen Zeit seine Narbe. Zum ersten Mal in Mrs Eagles Haus. Mit ein paar Schritten war er beim Fenster. Bei den Dursleys hatte er bei Gewitter oft im Schrank unter der Treppe gelegen und nur auf den Donner gewartet. Nur einmal in der Zeit vor Hogwarts, da er noch nicht in dem Bewusstsein lebte, ein Zauberer zu sein, hatte Harry bei einem Gewitter im Freien gestanden und das gezackte Licht gesehen, wieder und wieder, über dreißig mal, bis das Unwetter vorbei war und er, klatschnass, von Tante Petunia einen Latschen ans Ohr gepfeffert bekam. Da hatte er wieder gewusst, dass er im Garten seiner Verwandten stand, und Tante Petunia hatte Onkel Vernon aufgetragen, dem Jungen am Abend den Hosenboden zu versohlen. Er hatte sich bei jedem Schlag einen Blitz vorgestellt, und zum Glück waren hinterher, als er bäuchlings auf der Matratze im Schrank unter der Treppe einzuschlafen versuchte, sogar noch Blitze übrig.
Erneutes Donnergrollen und Harry erinnerte sich an den Neid, der ihn jedes Mal überkam, da er wusste, dass Dudley sich heulend in Tante Petunias Schoß verkroch. Damals unter der Treppe hatte er überlegt gehabt, Dudleys Jammern zu genießen, sich dann aber doch für die Faszination am Donnergrummeln entschieden. Selten einmal war das Gewitter so nah gewesen, dass es einen Donnerschlag ähnlich einem Knall gegeben hatte. Nun blieb die Faszination zum ersten Mal aus. Harry presste die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, an die von außen der Regen trommelte, und versuchte das Brennen zu lindern. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn fühlen, das Ginny noch bei ihm war, aber ihr konnte er sich schlecht in die Arme werfen.
Wieder war es gut und auch der nächste Blitz löste noch keinen Schmerz aus, da immer eine Zeit zwischen Lichterscheinung und Donner verging. Eine kurze Zeit blieb Harry, zu denken, nachzudenken, was gerade passierte, mit ihm, mit der Welt draußen. Es handelte sich nicht um eine bloße Naturgewalt. Da draußen war kein gewöhnliches Gewitter.
"Ginny?", er hörte kaum die eigene Stimme. "Ginny?"
Mit dem Donnergrollen war der Schmerz gekommen und mit ihm verging er auch wieder. Harry spürte Ginnys Hand auf seinem Rücken, und als er wieder klar denken konnte, war es ihm verdammt peinlich, so kläglich nach ihr gerufen zu haben.
Die Erkenntnis traf Harry, dass da draußen Dinge vor sich gingen, wirklich schlimme Dinge, die er nicht zulassen durfte. Er fühlte sich verantwortlich für das, was da geschah. Er brauchte keine Phantasie, sich vorzustellen, was die Blitze und der Donner bedeuteten. Für wen Mrs Eagle die neuen Zimmer entlang der Treppe hatte. Wer ihrer Hilfe bedurfte. Sollte er da hinaus, sollte er eigentlich da draußen stehen und kämpfen? Er? Ein Blick auf Ginny. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen und beobachtete angstvoll den Himmel. Natürlich musste sie etwas ahnen. Sie hatte den Zusammenhang begriffen und legte beim nächsten Donner sofort ihre Hand über eine von Harrys Händen, die beide an der Scheibe klebten. Ihre Finger verschränkten sich mit denen seiner Hand und gaben ihm das Gefühl, einen Halt zu finden, wenigstens so viel, um nicht in die Knie gehen zu müssen. Noch im Donner zuckte ein neuer Blitz aus den Wolken.
"Sieh nach Hermine", sagte Harry, "geh schon!"
Ginny löste sich, um Hermine zu holen, musste sie ins nächsthöhergelegene Stockwerk.
Mit geschlossenen Augen erwartete Harry das Grollen. Es kam, und er hatte nicht den Eindruck, unter dem Druck des Donners und seines Schmerzes überhaupt noch einen Gedanken fassen zu können. Trotzdem taten sich ihm in diesen Sekunden ganz klare Fragen nach seinem alten Schulleiter auf. Warum war Dumbledore krank geworden? Sollte der Grund wirklich in ihm, in Harry, gelegen haben? War sein Verschwinden schuld, das alle glauben gemacht hatte, er sei gestorben. Mrs Eagle hatte es doch deutlich gesagt, Dumbledore konnte den Glauben, Harry sei lebendig, nicht länger aufrecht erhalten, und McGonagalls Vorwurf galt Harry, Harry war schuld.
War Dumbledore wirklich krank geworden, weil er nach Harry keine Hoffnung mehr sah, die Welt vor Lord Voldemort zu retten? Selbst wenn es so war, war das eine Antwort?
Für Harry grenzte es an ein Wunder, dass in diesem Augenblick kein Donner mehr nachkam. In der entstandenen Pause, in der sein Schmerz ruhte und nur der Regen rauschte, vernahm er aus der unteren Etage mehrere Stimmen und ein stumpfes Plopp. Von oben kam Ginny mit Hermine. Sie hoben ihn vom Boden auf und halfen ihm in sein Zimmer.
"Nein, geh nicht zu McGonagall!", sagte Harry von der Couch aus und hob Einhalt gebietend die Hand etwas in die Höhe.
Ginny ließ schon von der Tür ab. Nocheinmal dirigierte Harry sie durch den Raum, denn er hatte ein leises "tzs, tzs" vernommen. Ginny verhängte ein weiteres Portrait mit einem Tischtuch.
Währenddessen kniete Hermine an Harrys Bett und legte eine Hand auf seine Stirn, die er sofort wieder von sich wies.
"Hermine, ich möchte wissen, wo wir hier sind."
Leise, fast im Flüsterton, begann sie ihm zu erzählen wie man einem Kind Märchen erzählt, nur dass ihre Erzählung eigentlich Erklärung genannt hätte werden sollen und sie es deshalb so leise und bedacht tat, um Harry zu beruhigen.
"Wir sind in Mrs Eagles Haus. Sie ist Heilerin. Es ist das blaue Haus ..."
