"Eine Panne – wie kann ein magischer Bus eine Panne haben!", fluchte Harry.
Er fühlte sich auf seinem Stuhl wie auf glühenden Kohlen. Nicht nur, dass er nutzlos im Café des St. Mungo saß - Moody hatte sie zur Überbrückung der Wartezeit hierher geschickt. Harry wollte auch der Aufsicht seiner sogenannten Beschützer entkommen. In Mrs Eagles Haus fühlte er sich wohler, obwohl er nicht annahm, dass er dort weniger bewacht wurde.
In dem Café war es gestopft voll. Einen Tisch in der Ecke am Fenster hatten die Auroren so hergerichtet, dass sich Hermine und Ginny ungestört unterhalten konnten und selbst Harry mitreden durfte, ohne aufzufallen.
"Ach Harry, ist es denn nicht egal, ob wir jetzt im Bus sitzen oder hier?" Hermine suchte, einem Reflex folgend, mit ihrer Hand Harrys Arm, um ihn irgendwie beruhigend zu streicheln. Er sah ihre Bewegung und wich einer Berührung aus, ebenfalls aus einem Reflex heraus. Er wollte sich nicht beruhigen. Nicht jetzt. Ron war dem dunkelsten aller Dunklen Zauberer entkommen und das Wie und Warum machte Harry größtes Kopfzerbrechen. Er glaubte auch nicht, dass Hermine alles so einfach hinnahm.
"Das ist mit Sicherheit egal. Und ich hasse es. Ich hasse diesen Zustand!", sagte Harry in sehr ungehaltenem Ton. Ginny war nicht am Tisch, denn sie wollte etwas zu essen besorgen, und so sprach er nur Hermine an. Gezwungen ruhiger fügte er hinzu, "Du musst doch sicher auch daran denken, was Ron gesagt hat, oder? Voldemort war absolut handlungsunfähig, solange wir unter dem Fluch jener Tür standen. Er war machtlos!"
Hermine nickte wissend.
"Was ist das", erklang Harrys Stimme nach einer Pause erneut, "das ihn so sehr in Panik versetzt, wenn ich angeblich tot bin. Wenn er mich am Leben weiß, ist er nicht halb so ratlos."
"Das ist es vielleicht: du bist angeblich tot. Nicht wirklich", überlegte Hermine. "Aber nein", schob sie sogleich hinterher, "du hast Recht: als du noch nicht hinter der Tür warst, wusste er auch, was zu tun war. Und auch jetzt wieder weiß er es."
Harry wusste, dass Hermine bei ihrem letzten Satz an das Geschehen der vergangenen Nacht dachte.
"Soll ich einfach hinter die Tür gehen, Hermine, und dann lässt er uns in Frieden?"
"Harry! Du liegst vollkommen falsch, wenn du denkst, dass ich das denke."
"Wenn Voldemort von Deinem Tod überzeugt war, was hat ihn dann aus dem Konzept gebracht. Die Frage ist, ob er überzeugt war? Gesetzt den Fall, er spürte deine Anwesenheit in dieser Welt, dann hätte er doch nach einem Weg, dich aufzufinden, suchen müssen. Nein, das kann es nicht sein ..."
Harry folgte Hermines Gedanken, bis Ginny auftauchte. Das Gespräch riss ab. Harry schlang die Arme um seinen Körper, als sei ihm kalt. Und vielleicht war das ja auch der Fall.
Ginny trug einen Stapel Kesselkuchen, wie es sie auch im Hogwartsexpress immer gab. Ihr folgte jemand mit einem Grubenhelm auf dem Kopf, Glubschaugen und vier Tassen Kakao.
"Luna", hauchte Hermine, und dennoch war es ein Ausruf, "Luna", sagte sie mit demselben Ton an Ginny gewandt, "du bringst Luna an unseren Tisch!"
Luna war schon dabei, sich zu setzen.
"Stop!", sagte Hermine nun nicht mehr mit dieser gesenkten Stimme. Ginny erschrak und zog Luna von hinten am Kleid. Der Kakao schwappte über und Harry fühlte, wie das warme Getränk durch seine Robe sickerte. Luna setzte sich irritiert auf den anderen freien Stuhl und verteilte die Tassen Kakao. Zwei behielt sie an ihrem Platz.
"Hallo Luna"
"Hallo", erwiderte Luna kurz. Interessiert blickte sie auf den leeren Stuhl. "Warum stehst du? Ist das nicht dein Stuhl, Ginny?"
"Mit dem Stuhl stimmt etwas nicht", half Hermine aus der Verlegenheit.
"Ja, genau", sagte Ginny. "Er hüpft alle Augenblicke oder kippt um."
"Hüpft?"
Harry bemühte sich um eine glaubwürdige Demonstration.
"Warum trägst du den Helm?", fragte Hermine, noch bevor er sein Theater zu ende gespielt hatte.
"Das ist ein Andenken", erklärte sie, "aus Gällivare."
"Schweden?", fragte Hermine.
"Ja. Ich habe sogar die Mitternachtssonne gesehen!"
Luna klang begeistert und es war, als wolle sie noch mehr erzählen, aber dann ging ihr Blick über Hermines Schulter und sie schaltete die Lampe an ihrem Helm ein und rief, "Neville, Neville! Hier bin ich!"
Hermine stand Verzweiflung ins Gesicht geschrieben und auch Ginny guckte jetzt bestürzt. Harry bemerkte vielleicht als erster, dass Neville gar nichts von Lunas Versuchen, sich bemerkbar zu machen, mitbekam, und er atmete erleichtert auf. Ginny sprang, da sie sowieso stand, schnell zu Neville heran und riss ihn am Arm. Ehe er sich's versah, fand Neville sich an dem getarnten Tisch wieder.
"Mensch, da bist du ja", brachte er seine ersten Worte hervor, "ich hätte dich nicht gefunden. Und IHR! LEBT?"
Neville zitterte bei Hermines und Ginnys Anblick, ganz besonders sein Unterkiefer. Der schob sich schlotternd vor und das Grübchen am Kinn vertiefte sich. Hermine wandte irgendwie beschämt ihr Gesicht ab und schlug zusätzlich die Hände davor. Harry war froh, dass keiner ihn sehen konnte.
"Zwei Stüh-le", stotterte Ginny, "wir brauchen noch zwei Stühle."
Luna rückte auf ihrem Stuhl etwas nach links und machte damit für Neville Platz. Hermine tat nach Lunas Vorbild das selbe für Ginny. Neville brauchte nur auf einen Stuhl zu starren, um beide am Leben zu sehen, Hermine und Ginny. Dass ein dritter Stuhl am Tisch unbesetzt blieb kümmerte ihn in diesem Moment noch gar nicht. Luna legte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern.
"Wir ... wir haben meine Eltern besucht", erklärte Neville seine Anwesenheit. Dann legte er seinen Arm um Lunas Taille und verlieh seiner Erklärung eine neue Dimension.
"Wir ... wir haben Ron besucht", erwiderte Hermine. Man merkte an ihrer Stimme, wie sie, zutiefst verunsichert, doch versuchte, zu einem normalen Gespräch zu finden. Neville stieg sofort darauf ein.
"Wie geht es ihm?"
Hermine zählte alles auf, was sich über Rons Zustand sagen ließ. Ginny hielt sich zurück.
Luna schüttelte nur den Kopf. Viel zu heftig, wenn man annahm, dass sie eine Kopfverletzung hatte. Sogar die Ohren waren mit eingewickelt, das linke mehr als das rechte, von dem noch das Ohrläppchen unter dem Verband hervorguckte. Ein frisches Radieschen baumelte wie wild hin und her, viel wilder noch als Luna überhaupt ihren Kopf schütteln konnte. Radieschen ständig und penetrant. Denn ihr Blick ging Harry wortwörtlich durch und durch.
"Mich entlassen sie bestimmt noch vor übernächster Woche", sagte Luna.
"Wie – du bist nicht zu Besuch hier?"
