Innerhalb weniger Minuten stand der Polizist vor Tréville und blickte sich im Arbeitszimmer um, als vermute er irgendwo einen heimlichen Zuhörer. Erst, als er mit dem, was er sah zufrieden schien, antwortete er auf die berechtigte Frage nach den Ermittlungen. „Die Suche nach dem Spion gestaltet sich als schwierig."

„Ich hatte mir einen schnelleren Erfolg erhofft." erwiderte Tréville grimmig und sogar Bonnet wusste diesen Tonfall so zu deuten, den Hauptmann nicht mit Ausreden und langwierigen Erklärungen noch weiter zu reizen. Ebenso wusste der Polizist, dass er nicht sofort seinen Verdacht aussprechen konnte, sondern zunächst eine Rolle spielen musste. Die des noch zweifelnden Ermittlers, der auf der Seite des Hauptmanns stand. „Nun, ich habe einen Verdacht und auch Beweise, die diesen erhärten. Allerdings kann ich nicht glauben, dass es ausgerechnet dieser Musketier sein soll."

„Verschwendet nicht meine Zeit! Wie lautet der Name?"

Einen wohlberechneten Moment lang zögerte Bonnet. Dann sagte er: „D'Artagnan."

Die Reaktion des Hauptmanns auf diese Eröffnung überraschte Bonnet nicht weiter. Ja, er hatte damit gerechnet, dass Tréville ihn anfahren würde: „Sagte ich nicht, dass Ihr bei Euren Ermittlungen den Leutnant ausklammern könnt?"

„Das sagtet Ihr. Aber ich muss diesen Fall objektiv behandeln." Es war keine offene Beleidigung, dennoch entging sie dem Hauptmann keineswegs. Er wurde gefährlich ruhig und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch, während er den Polizisten scharf ins Auge fasste. „Nennt mich voreingenommen, aber Monsieur d'Artagnan ist nicht fähig einen Verrat zu begehen."

„So glaubt Ihr. Dennoch finden sich eindeutige Hinweise darauf, dass dieses Vertrauen nicht berechtigt ist."

„Ich habe allmählich genug von Euren Anschuldigungen! Legt Eure Beweise dar und ich bin sicher, sie sind allesamt nicht haltbar."

Bonnet wand sich auf überzeugende Art. Natürlich akzeptierte Tréville nicht den Verdacht und überließ es darum nicht dem Polizisten, den Verbrecher endlich dingfest zu machen. Also musste d'Artagnan selbst den Hauptmann davon überzeugen, dass er der gesuchte Verräter war. Wenn Bonnet ihn dann erst einmal in der Hand hatte, würde er auch das übrige aus dem Leutnant herausbekommen. „Wenn das so ist, schlage ich vor, den Leutnant direkt mit den Beweisen zu konfrontieren. In einer Befragung. Kein Verhör, obgleich ich ihn anhand der Tatsachen auch verhaften lassen könnte."

Tréville wusste, dass Bonnet ihn überlistet hatte. In der Tat war es dem Polizisten leicht möglich, von seinem Kommandeur einen Haftbefehl zu erhalten. Aber er schlug vor, es diskreter zu behandeln. Der Hauptmann konnte nicht ablehnen und einmal mehr wusste er, warum er diesen Menschen vor sich nicht im Geringsten ausstehen konnte. Nun, aber in seinem Verdächtigen täuschte er sich. Ja, es würde eine wahre Freude sein, Bonnet seinen Irrtum vorzuführen. D'Artagnan, ein Verräter? Nein, das war nicht möglich, dazu hatte sich der Leutnant schon zu oft durch seine Loyalität bewiesen.

„Gut, eine Befragung. Ich werde nach ihm schicken."

„Er dürfte nicht schwer zu finden sein." Was genau Bonnet damit meinte, erklärte er nicht und Tréville legte auch keinen gehobenen Wert darauf.

---------------------

Als d'Artagnan ein weiteres Mal innerhalb einer Stunde das Arbeitszimmer betrat, trug er noch immer den Brief ungeöffnet bei sich. Er hatte das Hauptquartier sofort verlassen, allerdings nicht in der Absicht, nach Hause zu gehen. Vielmehr hatte er bei Rochefort angeklopft, der allerdings nicht zu Hause war.

Unschlüssig, was er als nächstes tun, aber sehr sicher, dass er den Brief tatsächlich nicht sofort lesen sollte, war der Leutnant doch in Richtung Rue des Fossoyeurs aufgebrochen. Wahrscheinlich, so sagte er sich, aus dem Grunde, Félices Nachricht dort aufzubewahren und sie nicht den Rest des Tages mit sich herumzutragen. Sonst hätte d'Artagnan sie am Ende doch noch sofort gelesen und wäre möglicherweise dabei beobachtet worden. Der Hauptmann musste nicht wissen, dass das Geheimnis aufgedeckt war.

Allerdings war er nicht bis nach Hause gekommen, denn dort hatte ihn ein Bote vom Hauptquartier abgepasst, um ihn umgehend ins Hôtel de Tréville zurückzurufen. Den letzten Ort, den er heute noch einmal betreten wollte. Aber einem Befehl konnte er sich nicht verweigern, also stand er nun ein weiteres Mal vor dem Schreibtisch und wartete, was der Hauptmann ihm mitzuteilen oder zu befehlen hatte.

Mit einigem Verdruss hatte d'Artagnan einen anderen Musketier, Bonnet nämlich, am Fenster stehend bemerkt. War er schon wieder auffällig geworden und sollte es der Leutnant nun persönlich übernehmen, ihm Disziplin beizubringen? Es geschähe nicht zum ersten Mal, dass d'Artagnan aus einem pflichtvergessenem Soldaten mit Hilfe einiger wenig angenehmer Übungen – Meilenmarsch, im strömenden Regen auf einer Wiese exerzieren, Nachtschichten... - einen anständigen Musketier gemacht hätte.

Wenn er Trévilles Miene richtig deutete, die beherrschten Zorn ausdrückte, konnte es sich nur um etwas in dieser Art handeln. Im Vergleich zu dem, was Bonnet nach einem Donnerwetter des Hauptmanns drohte, war es wirklich besser für ihn vom Leutnant einige Tage schikaniert zu werden. Am Ende würde er wissen, dass er noch glimpflich davongekommen war.

Allerdings stand d'Artagnan nicht im Geringsten der Sinn nach solchen Maßnahmen. Drei Tage Arrest würden das Gleiche bewirken, sollte Tréville sich doch selbst um dieses Problem kümmern! Er kümmerte sich ja auch um einiges andere, was eigentlich in d'Artagnans Aufgabenbereich fiel.

Der Hauptmann ließ sich Zeit mit einer Eröffnung und musterte erst seinen Leutnant sehr ernst, der seinen Blick fast feindselig erwiderte. Dies war es, was Tréville zögern ließ, denn solch ein Verhalten hatte er bei d'Artagnan bisher noch nie beobachtet. Zumindest nicht ihm gegenüber. Sollte er etwa wissen, warum er herbestellt worden war? Der Hauptmann räusperte sich: „In letzter Zeit haben sich einige Vorfälle gehäuft, die den Verdacht aufkommen lassen, es könnte sich ein Spion unter den Musketieren befinden."

Diese Einleitung war nun gar nichts, womit d'Artagnan gerechnet hätte und er warf einen kurzen Seitenblick hinüber zu Bonnet. Er etwa? Nein, der Musketier stand völlig reglos am Fenster, schien weder besorgt, noch überrascht. Dafür beobachtete er den Leutnant seinerseits genau und d'Artagnan runzelte die Stirn.

„Monsieur Bonnet hier", fuhr Tréville erklärend fort, „gehört zur Stadtwache und ist damit beauftragt eben dies herauszufinden."

So war das also. D'Artagnan nickte langsam, als er verstand und sah wieder zum Hauptmann. „Ihr weiht mich erst jetzt darin ein?" Wochenlang hatte Bonnet ermittelt und der Leutnant erfuhr es erst jetzt. Nein, mit dem, was Tréville ihm offen mitteilte, war es nicht weit her.

„Aus Gründen der Diskretion wussten bisher nur Bonnet und ich davon, ja."

Wieder nickte d'Artagnan und sah erneut zu dem Agenten, indem er betont höflich fragte: „Seid Ihr fündig geworden?"

„Noch nicht gänzlich. Die Ermittlungen dauern an."

Bisher hatte sich der Leutnant nicht sonderlich um den neuen Musketier – der keiner war - in den Reihen der Kompanie geschert. Aber mit nur wenigen Worten schaffte Bonnet es, d'Artagnan auch weiterhin vor einer näheren Bekanntschaft zu warnen. Diesem Mann war nicht über den Weg zu trauen. Nun, immerhin hatte er dem Hauptmann wohl nach einigen Wochen der Nachforschung mitteilen können, dass sein Leutnant als unbedenklich galt und man ihm jetzt vertrauensvoll die Wahrheit sagen konnte. Wie überaus freundlich.

„Was kann ich also tun, um Euch zu unterstützen?" Es war nicht mehr als eine leere Floskel, aber Bonnet schien sie wörtlich zu nehmen. Er löste sich vom Fenster mit einem hinkenden Schritt und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. „Setzt Euch."

„Pardon?"

„Setzt Euch, Leutnant. Ich habe einige Fragen."

D'Artagnan war viel zu verblüfft, um sofort zu begreifen, was diese Unverschämtheit ihm gegenüber zu bedeuten hatte und fragend sah er zum Hauptmann. Dieser allerdings trug nur eine steinerne Miene und jetzt begriff d'Artagnan. Neuer Zorn packte ihn. „Ein Verhör? Das ist absolut lächerlich, ich weigere mich-"

„Wenn Ihr das tut", fuhr ihm Bonnet mit schneidender Stimme dazwischen, „bin ich befugt Euch unter Arrest stellen zu lassen."

Einen Moment länger starrte der Leutnant Tréville an, der sich zu dieser neuerlichen Frechheit nicht äußerte, sogar fast unmerklich nickte. Einen Moment zögerte d'Artagnan noch, fassungslos und wütend. Dann setzte er sich fast ruckartig auf den Stuhl und fixierte seinen Hauptmann weiterhin, der sich nicht anmerken ließ, was er wirklich denken mochte. Er hatte seinen Leutnant schließlich selbst in diese Falle gerufen und d'Artagnan kam nicht umhin sich zu fragen, ob er tatsächlich so wenig Vertrauen genoss – oder ob dies noch mit etwas anderem zusammenhing.

Hinter dem Stuhl begann Bonnet auf und ab zu gehen. Sein Bein, das er dabei ein wenig nachzog, gab seinen Schritten einen unregelmäßigen, unberechenbaren Klang in der plötzlich sehr bedrückenden Stille des Arbeitszimmers. Seine Stimme war kalt. „Mein Auftrag lautet, einen Verräter im Hauptquartier der Musketiere ausfindig zu machen, der intimste Informationen über die Belange der Kompanie weiterverkauft. An diese Informationen kann nach geprüften Tatsachen nur gelangen, wer zum Einen Teil der Kompanie ist, schon über Jahre und dem aus diesem Grund als unbedenklich gilt, und wer zum anderen auch beinahe uneingeschränkten Zutritt zu diesem Arbeitszimmer hat, wo die meisten Dinge die Musketiere betreffend geregelt werden. Dafür kommen nicht viele Personen in Frage."

„In der Tat nicht", zischte d'Artagnan durch die Zähne. „Nur beinahe jeder der Musketiere."

„Beinahe jeder. Doch keiner mit einer Häufigkeit und einer Regelmäßigkeit, wie der Leutnant. Ward Ihr nicht heute für beinahe drei Stunden allein im Arbeitszimmer?"

„Auf Befehl des Hauptmanns. Es ist meine Aufgabe, ihn in dessen Abwesenheit zu vertreten." D'Artagnan warf diese Worte Tréville entgegen, aber der Hauptmann ließ mit keiner Geste eine Bestätigung erkennen. Er schien vielmehr Bonnet und dessen Beweisführung aufmerksam zu beobachten.

„Ah, ja, Ihr seid der stellvertretende Offizier. Leutnant der Musketiere; keine schlechte Stellung, aber sehr unterbezahlt. Der Sold ist recht knapp bemessen, vergleicht man ihm mit dem, was ein anderer Offizier, zum Beispiel bei den Gardisten des Kardinals, erhält."

„Mein Sold genügt vollkommen. Ich habe nie nach einem Vorschuss gefragt." Stolz. Im Laufe der Jahre hatte sich eins nie geändert: D'Artagnan hätte sofort behauptet, den ganzen Louvre kaufen zu können wenn ihn jemand für wenig Vermögend hielt. Bonnet blieb abrupt stehen. „Ja, das war wohl nie nötig."

D'Artagnan erkannte seinen Fehler sofort. Der Kerl drehte ihm das Wort im Mund herum! Was auch immer er auf seine angedeuteten Verdächtigungen erwiderte, es war das Falsche.

„Überhaupt habt Ihr eine bemerkenswerte Karriere vorzuweisen." Die Schritte setzten wieder ein, unregelmäßig und dumpf. „In nur drei Jahren vom einfachen Rekruten zum Leutnant. Eure Reputation ist weithin bekannt, man ist doch sehr beeindruckt, hört man sie zum ersten Mal."

Der Leutnant beschloss, ab jetzt gar nichts mehr zu sagen. Bisher war ihm noch nicht einmal eine richtige Frage gestellt worden, Bonnet begnügte sich mit einer Aufzählung. Wieder blieb der Agent stehen und seine Stimme klang näher, als zuletzt. „Nur drei Jahre, dafür habt Ihr die richtigen Personen beeindruckt. Zunächst seid Ihr unter die Gardisten des Königs aufgenommen worden – nachdem Ihr Eure überragende Fechtkunst gegen die Soldaten des Kardinals unter Beweis gestellt habt. Ich hörte, unter ihnen wäre auch Monsieur de Jussac gewesen, der als einer der besten Fechter gilt. Wirklich beeindruckend, dass ihn ein junger Mann so leicht schlagen konnte."

D'Artagnan biss sich auf die Unterlippe, um nicht eine wütende Antwort zu geben, die ihm Bonnet ein weiteres Mal anders gedeutet hätte, als sie gemeint war. Der Polizist fuhr fort: „Trotz dem Ihr ein Rekrut bei den Gardisten ward, suchtet Ihr die Nähe zu den Musketieren. Natürlich, Euer größter Wunsch war es immerzu, einer der ihren zu werden. Und tatsächlich seid Ihr versetzt worden. Auf Veranlassung des Ersten Ministers nach der waghalsigen, ich möchte beinahe sagen: Verzweifelt heldenmütig anmutenden Eroberung der Bastion von Saint Germain. Ihr hättet dabei umkommen können und mit Euch drei der besten Musketiere, die an diesem Unternehmen beteiligt waren."

Es blieb d'Artagnan nichts anderes übrig, als die Faust zu ballen und weiterhin zu schweigen. Lieber hätte er sie in die Magengrube von Bonnet gerammt. D'Artagnan sollte geplant haben, seine Freunde zu opfern, um versetzt zu werden! Warum sagte Tréville nichts dazu? Er wusste doch, wie es so gekommen war!

„Zuletzt hat Euch Seine Eminenz das Patent geschenkt. Unter etwas dubiosen Umständen, dachten doch einige Leute, Ihr wärt in Wahrheit verhaftet worden, als man Euch nach einer unerlaubten Abwesenheit aus dem Feldlager vor Richelieu zitierte. Seither wird eine Dame vermisst, die in den Diensten des Staates gestanden haben soll. Und eine weitere liegt begraben auf einem Klosterfriedhof. Sie soll die Weißnäherin der Königin gewesen und von Ihrer Majestät mit so manchem Geheimnis betraut worden sein."

D'Artagnan wusste nicht, warum er noch immer auf seinem Stuhl saß und nicht längst seinen Degen gezogen hatte, um Bonnet zu durchbohren. Er warf ihm vor, Myladys Platz eingenommen zu haben. Er warf ihm vor, sich dadurch sein Leben und sein Patent erkauft zu haben. Er warf ihm vor, Constance eigenhändig getötet oder ihren Tod zumindest nicht verhindert zu haben. Und d'Artagnan konnte nichts anderes tun, als jetzt den Kopf zu senken und sich zu wünschen, Bonnet würde endlich den Mund halten.

„Es waren keine „dubiosen Umstände". Mir ist nichts geschenkt worden." sagte er wider besseren Wissens und sah auf. Bonnet mochte reden, soviel er wollte. Aber Tréville musterte nun stirnrunzelnd seinen Leutnant, als zweifelte er nach der Rede des Agenten tatsächlich am Werdegang d'Artagnans.

„Ja, Ihr hattet einiges durchzustehen", setzte Bonnet seine so genannte Beweisführung fort. „Ihr seid gereist und hattet Euch mit vielen Widersachern auseinander zu setzen. Manch Einer hätte die zahlreichen Feinde und Hindernisse nicht allein überwinden können."

„Ich war nicht allein! Meine Freunde standen mir bei."

„Meint Ihr die Herren „Unzertrennlichen"? Sie haben alle ihren Dienst quittiert."

Wieder eine Feststellung, die vor allem ein Vorwurf war. Als ob Athos, Porthos und Aramis keine Musketiere mehr wären, eben weil sie d'Artagnans Freunde gewesen waren. Freunde standen einem nahe, vor ihnen konnte man ein Geheimnis nicht lange verbergen. Also war es besser, sie verschwanden irgendwann.

Erst jetzt mischte sich Tréville ein. „Das gehört wohl kaum hier her und trägt nichts zur Sache bei!" Ihm war nicht entgangen, dass sein Leutnant nur noch einen Schritt davon entfernt schien, etwas sehr Unüberlegtes zu tun. Und obgleich er die Karriere seines Untergebenen noch nie auf diese Weise betrachtet hatte, wusste er auch, wie es so gekommen war. Immerhin hatte er selbst es verhindert, dass ein anderer Name als der d'Artagnans unter diesem Patent stand. So ganz großzügig abgelehnt hätten Athos, Porthos und Aramis möglicherweise nicht, als ihr junger Freund ihnen anbot, Leutnant zu werden.

Fast schien es Tréville, als wolle Bonnet den Leutnant provozieren und ihn tatsächlich zu einer unbedachten Handlung hinreißen. Der Polizist nahm den Einwurf des Hauptmanns nur mit einem flüchtigen Schulterzucken zur Kenntnis und trat noch einen Schritt näher an den Stuhl. In Reichweite d'Artagnans, sollte dieser aufspringen und Bonnet packen wollen. Was wäre ein besserer Grund gewesen, den jungen Mann doch zu verhaften, als dass er den Polizisten vor einem Zeugen angriff?

D'Artagnan seinerseits bemerkte kaum, dass Tréville ihn gerade verteidigt hatte. Er rechnete schließlich nicht damit, dass der Hauptmann auf seiner Seite stehen könnte, nachdem nun dieser Brief aufgetaucht war. Hielt er ihn wirklich für einen Spion oder war das eine bequeme Art, ihn loszuwerden?

„Doch es gehört hier her, welchen Umgang der Leutnant zu hegen pflegt. Ihr steht gut mit Monsieur de Rochefort, heißt es."

„Ja. Er ist ein Freund."

„Der Stallmeister Seiner Eminenz, der Euch gleich bei der ersten Begegnung den Empfehlungsbrief Eures Vaters an Monsieur de Tréville stahl?"

„Monsieur de Rochefort", betonte d'Artagnan fest, „hat sich dafür entschuldigt."

„Also hat er den Empfehlungsbrief gestohlen? Den Brief, den eigentlich jeder junge Kadett haben sollte, um sich überhaupt etwas für seine Zukunft erhoffen zu dürfen?"

„Ihr wisst, wie es sich zugetragen hat", wandte sich der Leutnant an Tréville. Der Hauptmann allerdings wirkte sehr nachdenklich. Schon damals, als d'Artagnan zum ersten Mal vor ihm stand und seinen Wunsch äußerte Musketier zu werden, hatte Tréville überlegt, ob der gestohlene Brief nur eine List wäre um zu erklären, warum es eben keinen solchen Brief gab... Verärgert runzelte der Hauptmann die Stirn. Bonnet begann allmählich, auch ihn zu verwirren. Natürlich gab es diesen Empfehlungsbrief! Rochefort hatte es irgendwann selbst zugegeben, ihn „aus Versehen" mitgenommen zu haben – und er hatte ihn dabei an den Hauptmann gereicht. Es war das Original gewesen, wie sich anhand der abenteuerlichen Orthographie leicht feststellen ließ.

D'Artagnan wäre nun wirklich gerne aufgesprungen. Nicht, um Bonnet einen Kinnhaken zu versetzen. Sondern um Tréville bei den Schultern zu packen und zu schütteln, weil er ihn im Stich ließ. Weil er wirklich auch nur in Erwägung zog, irgendetwas von dem, was Bonnet sagte, könne der Wahrheit entsprechen und beweisen, dass er der Verräter wäre.

„Nun, hat es sich so zugetragen?" Bonnet nahm den Faden wieder auf. „Das mag durchaus sein und zu Eurem Glück seid Ihr Monsieur d'Artagnan fils. Euer Vater ist ein alter Freund des Hauptmanns und so hattet Ihr es leicht, Vertrauen zu gewinnen. Ein Vertrauen übrigens, das bis heute ungebrochen ist, wie mir Monsieur de Tréville eben noch versicherte."

Es klang wie ein Friedensangebot, aber d'Artagnan fiel nicht darauf herein. Obgleich der Hauptmann nun bekräftigend nickte und sagte: „So ist es. Und Ihr tätet gut daran, nun endlich irgendeinen Beweis für Eure Verdächtigungen zu nennen. Bisher habe ich nur Details aus der Vergangenheit gehört, die sich zwar auf diese Weise deuten lassen, aber darum nicht wahr sein müssen oder den Leutnant beschuldigen."

„Es gibt in der Tat einen Beweis dafür, dass Monsieur d'Artagnan Euer Vertrauen nicht verdient." So etwas wie Triumph lag in Bonnets sonst so Gefühlskalter Stimme und das ließ d'Artagnan schaudern. Der Polizist neigte sich vor und stützte sich mit einer Hand auf der Stuhllehne ab. Sein Gesicht war unangenehm nah und d'Artagnan war sehr versucht, den Kopf wegzudrehen und Bonnet fort zu stoßen, als der jetzt mit drohendem Unterton sagte: „Ich habe heute Morgen die an den Hauptmann gerichtete, persönliche Post auf den Schreibtisch gelegt. Es sind 21 Briefe – und einen davon habe ich verfasst. Es ist nicht weiter schwierig ein Schreiben zu öffnen, es zu lesen und wieder zu verschließen, als ob es nie angerührt worden wäre. Wer jahrelang auf Umwegen versuchen musste, dies zu praktizieren, wird sich heute sehr darüber gefreut haben, die Post direkt bereit liegen bemerkt zu haben."

Bonnet richtete sich wieder etwas auf, um zu Tréville zu sehen, der natürlich sofort nach dem Stapel mit der Post gegriffen hatte. „Um ein Siegel spurlos brechen zu können, braucht es allerdings Fingerspitzengefühl und Zeit. Zeit, die es in einem ständig belebten Hauptquartier nicht gibt, um ungestört der Tat nachgehen zu können. Also sollte ein solcher Brief mitgenommen werden, bevor dem Empfänger überhaupt bewusst ist, dass es ihn gibt."

Bonnet machte eine kleine Pause und fuhr fort, als keiner der anderen beiden Herren etwas sagte. „In meinem Beruf ist es von Vorteil, Handschriften nachahmen zu können. Ich habe mich einer fremden Handschrift bedient, um dem Spion eine Falle zu stellen. Zählt die Briefe. Einer wird fehlen!"

Tréville zögerte einen Augenblick, zumal sein Leutnant kreidebleich bei Bonnets Ausführungen geworden war. Der Hauptmann wollte nicht glauben, dass es tatsächlich so sein mochte, aber jetzt zählte er die Briefe nach. Er zählte sie ein zweites Mal. Dann sah er auf. „Es sind nicht 21 Briefe."

„Wie ich geahnt habe!" rief Bonnet aus und drehte sich wieder zu d'Artagnan um, der in seinem Stuhl zusammengesunken zu sein schien, weil er auf ertappt war und sich dem fragenden Blick seines Hauptmanns ausgesetzt sah. Warum...?

„Wo ist der fehlende Brief, Leutnant? Habt Ihr ihn schon übergeben und das Geld dafür entgegengenommen? Ihr seid dabei beobachtet worden, an die Tür Monsieur de Rocheforts geklopft zu haben, nachdem ihr das Hauptquartier verlassen habt!"

„...das ist wahr..." gab d'Artagnan beinahe tonlos zurück und dieses Mal begnügte sich der Hauptmann nicht mit einer stummen Frage. „Es ist wahr?" rief Tréville ungläubig aus und ehe der Leutnant noch etwas sagen konnte, hatte Bonnet ihn plötzlich am Arm gepackt und zerrte ihn auf die Füße. „Das ist ein Geständnis!"

„Nein! Ich bin kein Verräter!" wehrte sich d'Artagnan und wand sich aus Bonnets Griff, instinktiv eine Hand schon am Degengriff. Aber der Polizist handelte ebenfalls schnell und ehe er sich's versah, war eine Pistole auf d'Artagnan gerichtet. „Die Beweislast ist erdrückend, Monsieur! Es wäre klug, wenn Ihr keinen Widerstand leistet."

„Beweise! Das sind keine Beweise, das sind Verleumdungen, Ihr verfluchter-"

„Führt den Satz zu Ende, greift mich an und ich schwöre Euch: Ich werde schießen. Notwehr." Bonnet schien in der Tat bereit, sofort den Abzug zu drücken, wenn d'Artagnan nur eine falsche Bewegung machte. Wie erstarrt blieb der Leutnant darum stehen, mit dem Rücken zum Schreibtisch und eine Hand noch immer am Degengriff.

Stille herrschte im Arbeitszimmer, dehnte sich aus und schien jeden Spalt erdrückend zu füllen. Das Geräusch eines weiteren sich spannenden Pistolenhahns klang unnatürlich laut hinter d'Artagnan und er wusste, was das zu bedeuten hatte: Auch der Hauptmann zielte auf ihn.

„Was soll das, Tréville?" Bonnets ständig misstrauischer Gesichtsausdruck wich einer zornigen Miene und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Es heißt für Euch: Mon capitaine oder Monsieur le capitaine. Und jetzt nehmt die Waffe herunter, oder ich schwöre meinerseits: Sobald Ihr abdrückt, seid Ihr ein toter Mann. Notwehr."

„Das ist Wahnsinn! Der Leutnant ist als Spion überführt und-"

„-und Ihr seid nicht so klug, wie Euer Ruf vermuten lässt. Eure so genannten Beweise sind in der Tat höchst lächerlich. Ihr seid so versessen darauf, meinen Leutnant zu überführen, dass Ihr den wahren Verräter völlig aus den Augen verloren habt. Wessen Handschrift habt Ihr gefälscht?"

Bonnet war noch immer verärgert, aber senkte die Pistole, indes ohne sie wieder einzustecken. „Spielt das eine Rolle?"

„Ja, durchaus. Wessen?" Auch Tréville legte seine Waffe auf den Schreibtisch, jederzeit griffbereit.

„Die des königlichen Sekretärs. Nur ein wichtig anmutender Brief wird eingesteckt."

„Einleuchtend. Nun, ich habe hier nicht 21 Briefe..."

„Selbstverständlich nicht! Einen hat Euer Leutnant!"

„Es sind 19 Briefe."

Zum ersten Mal schien Bonnet verunsichert. „Was?"

„Ihr habt ganz Recht verstanden. Und nun geht und fragt Monsieur Duvoire, wo der fehlende 20. Brief ist. Ich bin sicher, mein Adjutant, der es Euch großzügig überlassen hat heute an seiner statt die Post ins Arbeitszimmer zu legen, wird Euch Auskunft geben können."

Einen Moment länger starrte Bonnet den Hauptmann an. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte geradezu aus dem Arbeitszimmer. Eines musste man ihm lassen: Er konnte sich schnell auf neue Situationen einstellen und eine weitere Spur verfolgen. Vielleicht wurde er bei Duvoire fündig. Vielleicht nicht. Vielleicht musste heute jeder einzelne Musketier antreten und seine Tasche lehren, ob er den Brief eingesteckt hatte. Bonnet wusste, um welches Schreiben es sich handelte und würde es wiedererkennen. Hauptsache, für den Augenblick verschwand der Polizist aus diesem Raum. Es war nicht nötig, dass er das nächste Gespräch belauschte.

„D'Artagnan?" Der Leutnant hatte sich noch nicht wieder gerührt und auch jetzt wandte er sich nicht um. Gerade als Tréville überlegte, ob er vielleicht nicht gehört worden war und er darum erneut versuchen sollte, die Aufmerksamkeit seines Untergebenen zu erlangen, löste sich d'Artagnan doch aus seiner Erstarrung. Er hatte sich eben schwere Vorwürfe anhören müssen und für einen Augenblick war es tatsächlich so erschienen, als würde der Hauptmann ihn durch Bonnet verhaften lassen. Verständlich, dass er sich zunächst einmal sammeln musste. Er tat es, indem er aus der Innentasche seines Wamses einen Brief hervorholte, sich dann umdrehte und das Schreiben wortlos an Tréville reichte.

Der Hauptmann nahm es entgegen und hoffte halb, nicht seinen Namen als Empfänger zu lesen. Doch die zierlichen und dabei sehr säuberlich geschriebenen Buchstaben schlossen jede Verwechslung aus. Die Handschrift einer Frau, eindeutig. „Warum dieser Brief?"

„Er ist von Félice." D'Artagnans Stimme klang hohl. Das Verhör war beendet, der Hauptmann hatte deutlich gemacht, dass er kein Wort von Bonnets Ausführungen glaubte – und doch schien es sich um einen gegenseitigen Vertrauensbruch zu handeln. Von der Seite des Leutnants aus, weil er diesen Brief an sich genommen hatte. Von Tréville aus, weil er die Befragung zugelassen hatte.

„Félice?"

„Mademoiselle de Lachipie."

„Mademoiselle...? Ah, ja. Sie ist oft in Eurer Begleitung."

„Ja."

Einsilbige Antworten gab der Leutnant meist, wenn er etwas nicht offen ansprechen oder genauer ausführen wollte. Aber in diesem Fall sagte sein Blick alles. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte sich Tréville nun ein Lächeln, vielleicht sogar ein Grinsen erlaubt. Daher rührte also heute die schlecht versteckte Feindseligkeit d'Artagnans. Höchst schmeichelhaft, was er von seinem Hauptmann zu denken schien.

Ohne noch etwas zu sagen, brach er das Siegel, faltete das Papier auseinander und las, was ihm Mademoiselle de Lachipie mitzuteilen hatte. D'Artagnan unterdessen blieb um Gelassenheit bemüht. Noch wollte er nicht ganz glauben, dass es sich lediglich um ein Missverständnis handeln sollte. Zudem war er noch immer aufgewühlt durch das Verhör, das ihm deutlich aufgezeigt hatte, wie leicht etwas so umzudeuten war, bis es in ein vorgefertigtes Bild hineinpasste. Bonnet hatte wirklich geglaubt, den Verräter gefasst zu haben. Vielleicht, wenn Tréville nur ein wenig mehr gezweifelt hätte, hätte sich d'Artagnan nun tatsächlich im Gefängnis wieder gefunden – und es gab keine Argumente, die Bonnets aufgewogen hätten, keine Zeugen, denn die hatten den Dienst quittiert. Einzig der Hauptmann hatte das Schlimmste verhindert.

Auf einmal, während Tréville noch den vermeintlichen Liebesbrief an sich las, fühlte sich d'Artagnan nicht mehr zornig, sondern sehr unwohl. Wie hatte er nur jemals denken können, Félice betrüge ihn? Wie hatte er dem Hauptmann unterstellen können, ihn um Félice willen Bonnet ausliefern zu wollen? Er hatte sich mehr als dumm benommen und sollte sich dringend entschuldigen.

„Mon capitaine, ich-"

Tréville hob eine Hand, ohne vom Brief aufzusehen und gebot seinem Untergebenen so Schweigen. D'Artagnan verstand und übte sich in Geduld. Gleichzeitig versuchte er an der Miene des Hauptmanns zu erkennen, was wohl in dem Brief stand. Allerdings las Tréville nichts anderes als sehr ernst. Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment auch eine noch so amüsante Anekdote mit großem Ernst gelesen – schließlich war er sich der forschenden Neugier seines Untergebenen durchaus bewusst.

Schließlich faltete er den Brief wieder zusammen, behielt ihn aber noch in der Hand, während sich d'Artagnan eine weitere Musterung an diesem Tag gefallen lassen musste. Jetzt durfte er sprechen. „Mon capitaine, ich muss um Verzeihung bitten. Ich hätte den Brief nicht nehmen dürfen."

„Ihr hättet an sich nicht einmal die Post durchsehen dürfen, aber nun gut. Ich kann verstehen, warum Ihr diesen Brief letztlich eingesteckt habt."

„Er ist von Félice."

„Ja, das sagtet Ihr bereits. Allerdings irrt Ihr Euch in dieser Hinsicht."

D'Artagnan schaute völlig verständnislos drein. „Aber... Ich erkenne doch ihre Handschrift...?"

„Die Adresse ja, sie mag von Mademoiselle de Lachipie geschrieben worden sein und das ist nicht weiter verwunderlich, sieht man die Schrift ihres Vaters dagegen. Der Bote sollte die Adresse leicht entziffern können."

„Oh." Mehr brachte der Leutnant zunächst nicht hervor, bis er, noch immer verwirrt, nachfragte: „Also ist der Brief nicht von Félice?"

„Nein."

„Oh."

„Trotzdem hat das Schreiben mit Euch zu tun, monsieur le lieutenant."

„Mit... mir?" D'Artagnans Verwirrung wuchs noch weiter, während sich Tréville in seinem Sessel zurück lehnte und nun doch ein kleines Lächeln in seinen Mundwinkeln spielte. „Monsieur de Lachipie verlangt nach einigen Auskünften. Über Euch, Euren Stand, Eure Reputation und dergleichen Dinge mehr. Ich werde ihm selbstverständlich nur das Beste antworten."

„Aber... Warum?"

Sein Leutnant schien in mancher Hinsicht nicht so schnell zu begreifen, wie in anderer, stellte Tréville mit einem unhörbaren Seufzen fest. Dann musste er es eben genauer erklären. „Ein Vater hält es so, wenn seine Tochter sich mit Heiratsgedanken trägt. Im Übrigen nicht nur damit, wie Monsieur de Lachipie ebenfalls mitteilt. Es hat wohl einige Zeit gedauert, bis er sich zu diesem Brief an mich überwinden konnte, aber manche Dinge lassen sich nun einmal nicht rückgängig machen und so gilt es nun, rasch zu handeln und alles zu arrangieren, bevor das Kind- D'Artagnan, hört Ihr mir zu?"

D'Artagnan hörte zu, aber die Stimme des Hauptmanns klang mit einem Mal sehr weit entfernt. Félice war... schwanger? Heiraten?

Tréville war durchaus nicht entgangen, dass diese Nachricht seinen Leutnant weit mehr aus der Fassung zu bringen vermochte, als es jede Anschuldigung durch Bonnet hätte erreichen können. Also entschloss er sich, d'Artagnan die Entscheidung abzunehmen. „Ich gewähre Euch drei Wochen Urlaub, um meinen Antwortbrief persönlich zu überbringen. Reist noch heute, Ihr werdet sicher erwartet."

ENDE