4. Kapitel: Die peitschende Weide
Das schlechte Wetter wollte einfach nicht aufhören. An jedem Morgen war die Decke der Großen Halle von einem deprimierenden Grau.
Doch Sirius fühlte sich nach der Konfrontation mit seinem Vater merkwürdig befreit. Es kam kein Brief, kein Heuler, und auch auf einen erneuten Besuch verzichtete Mr. Black.
Sirius glaubte nicht, dass er ihm je wieder verzeihen würde, noch nahm er an, dass Viathan Black tatenlos in der prachtvollen Villa der Familie herumsitzen würde.
Doch solange er ihn in Ruhe ließ, war es Sirius nur Recht.
Es war ein Freitag, und ihre ersten beiden Stunden fielen aus, da die Lehrerin für Kräuterkunde mit einer „wichtigen, komplizierten Verpflanzung" beschäftigt war.
Sirius, James und Remus hatten die freie Zeit genutzt, um sich auf ihre Stunde im Besenflug, die sie gemeinsam mit den Slytherins haben würden, vorzubereiten.
James ging recht selbstsicher den schlammigen Pfad zum Quidditchfeld hinunter. „Das wird ein Kinderspiel!" sagte er. „Zuhause bin ich schon oft geflogen. Und ohne zu übertreiben – ich bin bisher keinem Gleichaltrigen begegnet, der schneller war als ich. Natürlich hab ich auch einen ausgezeichneten Besen…"
Sirius grinste. Quidditch, das Fliegen und Besen schienen James Steckenpferd zu sein. Andauernd sprach er davon. Auch Sirius machte das Fliegen Spaß, doch er hatte sich nie mehr darin hervorgetan als andere Kinder.
„Was für einen Besen fliegst du denn?" James, der nur auf diese Frage gewartet hatte, drehte sich im Gehen um und grinste ihn an.
„Einen Shooting Star!"
„Wie bitte?" mit offenem Mund blieb Sirius stehen. „Aber – die werden doch erst im Winter veröffentlicht!"
„Oh ja, das werden sie." James genoss den Moment ganz offensichtlich. „Aber ein guter Freund meines Vaters ist im Prüfungskomitee der Nimbus Coop. Und rate mal, für wen er eines der Probeexemplare auf Seite gelegt hat." Er wuschelte sich durch die schwarzen, strubbeligen Haare und blickte selbstzufrieden von Sirius zu Lupin.
„Das ist…wow. Großartig! Darf ich ihn auch mal fliegen?" haspelte Sirius.
Das Grinsen auf James Gesicht schwächte ein wenig ab.
„Ich hab ihn nicht dabei. Meine Eltern haben es mir verboten, weil die Erstklässler keinen Besen besitzen dürfen. Aber ich finde schon einen Weg, um ihn in den nächsten Ferien mitzuschmuggeln!"
Ein schriller Pfiff hallte über das Trainingsgelände, und die drei Schüler eilten zu dem schlanken Mann, der in der Mitte des Feldes stand und einen blauen Quidditchumhang trug.
„Ich bin Mr. Rither, und ich brauche keinen hochrangigen Titel, um euch Regeln zu machen, klar?" schmetterte er in einer schrillen und recht aggressiv klingenden Stimme, als die Letzten hechelnd bei ihm ankamen.
„Das Fliegen, Ladies and Gentlemen, wird oft unterschätzt und als eine Freizeitbeschäftigung abgetan, die eher amüsiert als nützt. Aber!" Er riss den rechten Zeigefinger in die Höhe. „Das Fliegen ist viel mehr! Es ist Transport, Reisemittel, gefährlichen Verfolgungsjagden, große Geschichten spinnen sich darum, und natürlich hat das Fliegen die Geschichte auch verändert! Dieser Besen ist nicht nur ein Stück Holz – er ist etwas Magisches! Eine Symphonie von Lebendigem und Zauberei, verschmolzen zu-"
Er brach plötzlich ab, als würde es ihm öfters passieren, dass er in den Sog seiner eigenen Erzählung verfiel. Die Schüler wussten, dass sie es hier mit einem Fanatiker zu tun hatten.
„Holt euch einen Besen, und dann stellt euch hier auf!" blaffte Mr. Rither nun. Die Schüler schlenderten zu der kleinen Holzhütte, in der die Trainingsbesen aufbewahrt wurden. Die meisten waren uralt, doch man sah ihnen an, dass sie jemand regelmäßig hingebungsvoll gepflegt hatte: Sie glänzten frisch poliert, keine einzige Borste war verbogen.
James schenkte ihnen trotzdem nicht mehr als ein abschätziges Nasenrümpfen. Sie nahmen sich drei beliebige und gingen wieder zu Mr. Rither, der seinen eigenen Besen mit seinem Umhang blank wischte.
Remus Blick wanderte immer wieder zu der anderen Seite des Feldes, von wo aus man den verbotenen Wald sehen konnte. Auch die gläsernen Gartenhäuser standen dort, wo eigentlich ihre Kräuterkunde-Stunde hätte stattfinden sollen.
James folgte seinem Blick. „Ich frage mich, was für eine „wichtige, komplizierte Verpflanzung" das ist." Meinte er. „Sie haben anscheinend den ganzen Bereich abgesperrt."
Seine Augen glitzerten verräterisch. „Ich würde zu gerne wissen, was sie vorhaben."
„Ach, sicher nichts Wichtiges", unterbrach ihn Remus. „Wir sollten zu Mr. Rither gehen." Hektisch lief er weiter und warf ihnen einen auffordernden Blick über die Schulter zu.
Schließlich ging auch James weiter, und Sirius folgte ihm.
Dieses Glitzern in den Augen von James – er kannte es. Es war die Abenteuerlust, die direkt aus seiner Seele glitzerte, Wagemut, Unerschrockenheit, auch der ungestillte Hunger nach Ehre und Ruhm. Die Gefühle, die auch in ihm brodelten, lange versteckt unter den Vorsätzen seiner Familie.
Doch er war hier in Hogwarts, und so wie es aussah auch erstmal weit weg von seinen Eltern. Das Schulleben war aufregend, neu, befreit.
Doch es war ihm nicht genug. Dieses Schloss schrie einem förmlich entgegen, dass es voller Geheimnisse war, die gelüftet werden wollten.
„Stellt euch auf! Rechte Hand über den Besen! Wenn ich pfeife, rufen alle ‚Hoch!', verstanden?"
Eher verunsichert stellten sich die meisten Schüler neben ihren Besen, und als der schrille Pfiff ertönte, blieben viele Besen auf dem Boden liegen und zuckten nur müde.
James hielt seinen Besen lässig in der Hand und deutete ein Gähnen an.
Auch Sirius hatte mit dieser einfachsten aller Übungen kein Problem gehabt – seine Eltern hatten sich schon um seine Flugausbildung gekümmert, als er gerade mal fünf war.
Remus Besen hatte sich auf halbem Weg zu dessen Hand anders entschieden und war wieder zu Boden geplumpst.
Mr. Rither schlug verzweifelt den Kopf in die Hände.
Beim zweiten Versuch klappte es bei den meisten, und beim dritten schafften es alle außer einem kleinen, dicklichen Slytherin und einem mageren, braunhaarigen Mädchen, die theatralisch zu weinen begann.
Der Fluglehrer sagte ihnen, sie sollen sich setzten, da er es ihnen einzeln erklären wolle.
Seinem Gesichtsausdruck nach hatte er jedoch keine Lust, sich mit zwei absoluten Versagern im Flugsport abzugeben.
„So, nun werden wir einen sanften Start versuchen!" sagte er zu den Anderen. „Alle mal bitte aufsteigen, und wenn ich ‚Los' sage, stoßt ihr euch leicht ab, fliegt einen Bogen und landet wieder genauso sanft. Hört sich doch leicht an, nicht wahr? Alle fertig? LOS!"
James war der Erste in der Luft, und elegant wie ein Raubvogel sauste er steil nach oben.
Sirius folgte ihm, weder so elegant noch so schnell, aber wenigstens in einer stabilen Haltung.
Remus schlenkerte gewaltig hin und her und schien sich in der Luft nicht ganz wohl zu fühlen.
James landete genauso selbstsicher, wie er geflogen war, und hinter ihm setzten – etwas unsanfterer – Sirius und Lupin auf.
Irgendwo in der Luft schaukelte Peter Pettigrew herum, aber die meisten anderen Schüler waren bereits gelandet.
Nachdem er Peter aus der Luft gefischt hatte, trug Mr. Rither ihnen auf, die Übung zu wiederholen, während er sich um die beiden Schüler kümmern wollte, die anfangs so große Probleme gehabt hatten.
Nach dem dritten Flug stoppte James auf einmal abrupt in der Luft ab und drehte sich grinsend zu Sirius um, der fast in ihn hineingerast wäre.
„Rither ist beschäftigt." Er deutete mit dem Kinn in die Richtung des Lehrers, der verzweifelt versuchte, dem schwarzhaarigen Slytherin klarzumachen, wie er sicher auf dem Besen saß.
„Wie wär's – wollen wir uns mal bei den Gewächshäusern umsehen?"
Sogleich spürte Sirius, wie ihn die Aufregung durchrieselte.
Etwas Verbotenes tun, ein Geheimnis aufdecken…
„Sicher!" grinste er.
James warf noch einen letzten Blick zu Mr. Rither („Madeleine, du bist nicht grobmotorisch oder dumm! Versuch doch einfach, es wie die anderen zu machen! Nein! Bitte nicht weinen!"), dann legte er sich scharf in die Kurve und raste zu den Gewächshäusern hinüber, dicht gefolgt von Sirius, der noch ein paar nervöse Blicke zurückwarf.
Sie stoben durch den wolkenverklebten Himmel und erreichten schließlich die gläsernen Gewächshäuser, in denen sich lange, grüne Pflanzenarme gemächlich ausbreiten.
„Siehst du irgendetwas von einer Verpflanzung?" flüsterte Sirius. Er hatte dicht neben James angehalten. Der blickte jedoch nicht auf die Gewächshäuser, sondern auf den Wald dahinter.
„Schau mal nach da drüben", wisperte er zurück.
Nicht weit im Inneren waren die Baumwipfel in heller Aufruhe. Der Wind war recht schwach, trotzdem wippten sie hin und her, und man hörte leise Rufe von dort.
Ohne abzuwarten flogen sie beide näher an den Unruheherd heran, jetzt waren die Rufe schon deutlicher zu hören.
„ – Etwas mehr hierüber, links, links, links verdammt nochmal!-"
„- passen Sie mit den Ästen auf, der Lähmungszauber scheint schwächer zu werden –"
Als sie näher flogen, erkannten sie die Lehrerin für Kräuterkunde, die aufgeregt mit ihrem Zauberstab herumwedelte. Vor ihr schwenkte einen buckeliger, entwurzelter Baum in der Luft, dessen Äste sich müde bewegten.
„Was beim Merlin ist das denn?" keuchte Sirius.
Es war ganz offensichtlich eine Weide mit unzähligen, langen Ästen, die eher wie dünne Seile aussahen. Der Stamm war seltsam verformt, dicke Knubbel und Einhöhlungen trugen nicht gerade zu seiner Schönheit bei.
„Ich wette, ihr dürft hier nicht sein!" schnarrte da eine Stimme unter ihnen.
Erschrocken blickten die beiden Jungen nach unten, wo der schwarzhaarige Slytherin stand, der am Anfang der Stunde so schlecht gewesen war.
Seine tiefschwarzen Augen fixierten abwechselnd James und Sirius, die Lippen waren zu einem höhnischen Grinsen verzogen.
„Ach ja? Und was machst du dann hier, Pickelgesicht?" konterte James, doch er sah sich erneut nervös um.
„Mr. Rither hat mich geschickt, ich soll ein Buch über verschiedene Besenholzarten aus dem Gewächshaus drei abholen", erklärte der Junge.
„Theorie!" höhnte Sirius. „Du scheinst es echt nicht draufzuhaben, hm?"
Das Grinsen verschwand vom Gesicht des Schwarzhaarigen.
Stattdessen drehte er sich auf der Stelle um und rannte zum Quidditchfeld zurück.
„Was hat er denn?" fragte James. „Er wird doch nicht…"
„Diese verräterische Ratte!" rief Sirius.
James wendete innerhalb von Sekunden seinen Besen und raste hinter dem Jungen her. „Hey…du! Junge mit den fettigen Haaren! Nein? Pummelchen? Auch nicht? Hör mir zu!"
Doch der Erstklässler hatte eine für seine Statue unerwartete Geschwindigkeit erreicht und kreische laut „Mr. Rither! Mr. Riiiiither!".
Der braunhaarige Lehrer drehte sich um und riss überrascht die Augen auf: Ein Schüler auf einem Besen trieb Severus Snape, dem er eben den Auftrag gegeben hatte, ein Buch zu holen, anscheinend vor sich her!
„Was ist da los!" brüllte er und zückte seinen Zauberstab. „Potter! Sofort aufhören!"
Angesichts des Stabes bremste James ab und starrte den Lehrer an. „Mr. Rither, ich kann das alles erklären!"
„Da bin ich aber mal gespannt", entgegnete Rither.
„Glauben sie ihm kein Wort!" mischte sich der Gejagte ein. „Die Beiden", er deutete von James zu Sirius, „haben während der Stunde das Quidditchfeld verlassen und mich gejagt, obwohl ich ihnen nichts getan habe!" Er atmete noch immer schwer, doch seine Augen glitzerten triumphierend.
„Severus Snape erhebt schwere Vorwürfe gegen Sie!" wandte sich Mr. Rither wieder an James und Sirius. „Ich denke, ein Besuch beim Direktor ist angebracht, vor allem da Sie das Quidditchfeld eindeutig verlassen haben. Jetzt", fügte er gereizt hinzu.
