Kapitel 4: Zwei Welten
„Wieso hast du eigentlich so lange gebraucht, Jesse? Nemesis hätte beinahe seine Geduld verloren." Vanquo führte den Weg, während die fünf Wrangler einen Kreis um sie herum bildeten. Es war eine übliche Formation, um die Beute in ihrem Inneren zu schützen, aber Jesse fühlte sich trotzdem bedroht. Besonders, da er noch nicht einmal eine Waffe bei sich trug und sein Körper nicht mehr lange funktionieren würde. Seine Kopfschmerzen nahmen wieder zu und er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Trotzdem setzte er stur einen Fuß vor den anderen. Outridern gegenüber durfte man nie Schwäche zeigen. Besonders nicht Vanquo. Dann wären sie gleich verloren.
„Ohne den Konvoi wäre ja auch alles glatt gegangen. Aber auf die Idee, sich den Straßenverkehr vorzuknöpfen, sind deine Pappnasen auch nicht gekommen! Tot hätte uns der Junge nichts gebracht, also blieb es an mir hängen, ihn zu retten. Woraufhin ich ins Krankenhaus gebracht wurde und von da an eben eine Woche gebraucht habe, um den Kleinen mal allein zu haben." Jesse verschränkte genervt seine Arme vor der Brust und hoffte, dass niemand bemerkte, wie sehr seine Hände zitterten. Ein wenig vor Anspannung und Angst, aber hauptsächlich vor Erschöpfung. „Wenn es Nemesis nicht schnell genug geht, soll er doch nächstes Mal die Drecksarbeit machen! Ich hätte bei dem Manöver fast mein Leben verloren, schneller ging's eben nicht!"
„Ja, ja, schon gut." Grummelte Vanquo, der keine Lust verspürte, sich mit dem Menschen zu streiten, egal, wie hoch Nemesis Jesse Blue auch handelte. „Wir haben ihn jetzt." Er drehte sich um und musterte den Jungen, der neben Jesse Blue her lief, von diesem ab und an einen Stoß in den Rücken erhielt, wenn er nicht schnell genug voran kam. Der Junge hatte seinen Kopf gesenkt und nasse Strähnen klebten in seinem Gesicht. Seit etwa zehn Minuten liefen sie nun schon durch den Wald, aber er hatte bisher noch keinen Ton von sich gegeben. Vanquo war froh darüber, ihn ödete das Gequatsche dummer Menschen an.
„Und das ist also der große Erbe des MacLeth-Imperiums." Überlegte der Geschwaderführer laut und betrachtete den Jungen abfällig, der stolperte und in das nasse Laub fiel. Jesse packte ihn grob am Arm und zerrte ihn zurück auf die Beine, stieß ihn an, damit er in Bewegung blieb und sie wegen ihm nicht noch weitere wertvolle Zeit verlor.
„Irgendwie hab ich ihn mir anders vorgestellt. Größer. Mächtiger. Weiß auch nicht." Vanquo schüttelte seinen Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Weg. Diese Wälder waren ihm nicht geheuer und er wollte sich nicht verlaufen, war doch die Funktechnik durch die hohen Berge beeinträchtigt. Er wollte auf diesem für seinen Geschmack viel zu bunten Planeten nicht länger als nötig bleiben, und das müsste er, sollte er sein Raumschiff nicht wieder finden.
„So wirken die Menschen auf Photos. In Wirklichkeit sind sie viel schmächtiger." Jesse starrte Johnny finster an, als dieser seinen Kopf hob und ihn mit schreckgeweiteten Augen entsetzt anblickte. Natürlich war er nicht der Erbe des MacLeth-Imperiums. Alex saß mit Sicherheit noch in der Holzhütte und versorgte das kranke Eichhörnchen. Jesse war froh darüber, konnte Nemesis so seinen Plan der Zerstörung nicht ausführen. Andererseits durfte Vanquo aber nicht erfahren, wer Johnny wirklich war. Er würde den Jungen ohne zu zögern erschießen und Jesse ein paar sehr unangenehme Fragen stellen. Fragen, die er nicht hören wollte. Zumindest nicht unbewaffnet.
Johnny bewegte seine Lippen, aber er brachte keinen Ton heraus. Sein Atem schwebte in kleinen Wölkchen vor seinem bleichen Gesicht und er fuhr zitternd zusammen, als ihn Jesse plötzlich am rechten Arm packte und nah an sich heran zog.
„Kein Mucks, du kleine Ratte, verstanden? Ich will hier kein Gestammel von deinem Vater oder seinem Einfluss hören, ansonsten mach ich dir dein Leben zur Hölle." Jesse funkelte den jungen Texaner an, dessen Augen noch größer wurden. Stumm blickte er ihn an. Stumm und anstrafend. Aber damit konnte Jesse umgehen. Besser einen enttäuschten und verängstigten Jungen neben sich zu wissen als einen toten. „Nemesis will dich zwar lebend haben, aber nicht unverletzt, wenn du mich verstehst!"
Johnny schüttelte seine Kopf, aber Jesse achtete nicht auf ihn, sondern zerrte ihn weiter den rutschigen Weg entlang in der Hoffnung, dass der Junge seine Drohung ernst nahm und nichts sagte und sich damit auch nicht verplapperte. Vanquo lachte höhnisch auf und das Geräusch ließ Jesse erschaudern. Er hasste es, hatte es innerhalb der letzten zwei Jahre einfach zu oft gehört. Meist auf dem Schlachtfeld.
Innerhalb der letzten zwei Jahre...
Nein, er wollte nicht daran denken. Wollte nicht an die Grausamkeiten erinnert werden, die er unter der Regie der Outrider erlebte. Aber es brachte nichts, sich zu wünschen, wieder ohne Gedächtnis zu sein. Jetzt stand er hier und musste das beste daraus machen. Musste dafür sorgen, dass sie diesen Nachmittag überlebten.
Für eine Woche hatte er ein Mensch sein dürfen, ein geachteter Star Sheriff. Niemand hatte in ihm einen Verräter gesehen und den Namen Jesse Blue mit Verachtung ausgesprochen. Außer Colt, aber dieser hatte ihm ein Stück Schokolade angeboten und ihn in seiner Nähe geduldet. Für eine Woche hatte Jesse ein ganz normales Leben führen dürfen mit Freunden, die sich um ihn sorgten, die sich um ihn kümmerten und ihn als gleichwertig ansahen. Alex hatte mit ihm ein Videospiel gespielt, April und Fireball waren mit ihm Schoppen gewesen, Colt hatte ihn höflich gemieden, Johnny in seiner Gegenwart offen gelacht und Saber hatte sich mit ihm unterhalten, als würden sie sich seit Jahren kennen. Als wären sie schon ewig gute Freunde und nicht Erzrivalen.
Sie alle hatten ihn wie einen Freund behandelt, weil er sein Gedächtnis verloren hatte. Weil er wirklich für diese wenigen Tage ein anderer Mensch gewesen war. Ohne Erinnerungen, ohne Verbitterung, ohne Hass. Es waren angenehme Tage gewesen und auf einmal wurde ihm bewusst, warum er keine sonderliche Panik verspürt hatte, ohne Erinnerungen leben zu müssen. Denn er hatte diese Erinnerungen nicht wieder haben wollen. Nicht mehr zu wissen, wie seine Mutter ausgesehen hatte und wie sehr sie ihn geliebt hatte, das wog schon schwer, aber nicht so schwer wie die letzten zwei Jahre. Wie jener Vorfall vor einigen Wochen, der ihm die Augen öffnete und zeigte, dass er kein Recht auf Vergebung hatte, da er seine Seele dem Teufel verschrieben hatte. Nemesis.
„Lebend, aber nicht unverletzt. Deine Brutalität fand ich schon immer amüsierend." Lachte Vanquo dröhnend und die anderen Outrider stimmten mit ein, vermutlich, weil sie es nicht anders wussten oder ihrem Anführer so ihren Respekt zollten.
„Schön, dass ich dich unterhalten kann!" erwiderte Jesse genervt und hielt Johnny an seiner Jacke fest, als dieser ausrutschte und hinzufallen drohte. Der Junge schlug seine Hand mit einem angeekelten Gesichtsausdruck zur Seite und setzte seinen Weg fort. Seine Fäuste waren geballt und Johnny wirkte zornig, trotzig. Aber wenigstens blieb er ruhig.
„Wie weit ist es eigentlich noch bis zum Schiff? Ihr seid doch mit einem Schiff hier, oder? Denn ich hab genug von diesem nassen Planeten." Jesse strich sich eine nasse Strähne aus der Stirn und hoffte insgeheim, dass Vanquos Schiff nicht all zu groß war. Denn sollten sie noch weitere Outrider begrüßen, vielleicht sogar Nemesis persönlich, gab es kein Entrinnen, wäre jeder offene Kampf zwecklos, da absolut tödlich.
„Mein Raumkreuzer sollte hier irgendwo stehen." Vanquo schaute auf das blinkende Gerät in seinen Händen und stieß wütend einen Stein beiseite, der durch das nasse Laub sprang und gegen einen Baumstamm prallte. Besonders fröhlich schien der Geschwaderführer auch nicht zu sein. Vermutlich hatte Nemesis ihn die Leviten gelesen, nachdem der erste Entführungsversuch Alex' schiefgegangen und Jesse dabei verloren gewesen war. Jesse kümmerte dies wenig. Das Theater wäre noch viel größer in der Phantomzone gewesen, wenn der Konvoi nicht außer Kontrolle geraten wäre. Denn der ehemalige Kadett hatte schon vorgehabt, Alex von der Straße fortzustehlen, aber er hätte ihn nicht den Outridern übergeben, sondern wäre auf direktem Wege ins Kavallerieoberkommando marschiert. Leider schoss jedoch der Konvoi auf ihn zu und anstelle zu seinen ehemaligen Vorgesetzten zu gehen und sich verhaften zu lassen, zog er in das Haus seiner ehemaligen Feinde, aß mit ihnen zu Abendbrot und flog mit ihnen sogar für ein Campingwochenende in die Highlands. Es erstaunte ihn, dass Nemesis das wirklich für einen perfiden Plan gehalten hatte. Aber entweder waren die Outrider wirklich so dumm – oder sie hielten die Intrigen der Menschen für wirklich so durchschauungswürdig.
„Irgendwo! Na klasse!" regte sich Jesse auf, hoffte aber insgeheim, dass sie das verfluchte Raumschiff niemals finden würden. Und dass es ihm recht bald gelang, an eine Waffe zu gelangen. Eine gut geladene Waffe mit möglichst vielen Schüssen.
„Jetzt halt die Luft an! Was kann ich dafür, wenn dieser Scheißplanet so beschränkte Technik aufweist!" Etwas piepte und Vanquo änderte prompt die Richtung. Die restlichen Outrider bemerkten es nicht gleich und der Kreis um sie herum wurde aufgerissen. Jesses Gleichgewichtssinn wurde auf eine harte Probe gestellt, als er nun selbst auf dem nassen Laub ausrutschte und genau diesen Moment nutzte Johnny zur Flucht.
Der Junge duckte sich und rannte in Richtung Tal davon. Er sprang über mehrere umgefallene Stämme und lief Schlangenlinien zwischen den Bäumen.
„Verdammt!" fluchte Vanquo und hatte bereits seine Schusswaffe gehoben, um den Jungen unschädlich zu machen. Was hatte Jesse gleich noch einmal gesagt? Lebend, ja. Unverletzt, nein.
„Nicht schießen!" schrie Jesse und stellte sich ihm in den Weg. Er atmete heftig und sein Gesicht war käseweiß. „Wenn er stirbt, dann war meine ganze Arbeit während der vergangenen Woche umsonst! Ich arbeite nicht gern umsonst!" Er riss dem Geschwaderführer den Blaster aus der Hand. Dann stürmte er hinter dem Jungen her. An den schweren Schritten hinter ihm wusste er, dass die Wrangler ihm folgten. Ihnen würden sie nicht entkommen. Nicht so. Jesse hatte zwar jetzt eine Waffe in der Hand, und eine ausgezeichnete dazu, schließlich handelte es sich dabei um Vanquos Besitz, aber im Moment konnte er sie nicht benutzen. Denn in dem Durcheinander, das einsetzen würde, wenn er sich offen gegen die Outrider richtete, konnte es rasch passieren, dass Johnny erschossen wurde. Genau das wollte Jesse aber unter allen Umständen verhindern. Er wollte nie wieder einen Toten zu seinen Füßen liegen sehen. Ein weiteres Leben ausgelöscht wissen, das er nicht hatte retten können...
Johnny war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Seine Erzählungen über seine Pferde und dass er gerne ritt kamen nicht von ungefähr. In Sprachen schien der junge Texaner kein Genie zu sein, im Sport dagegen würde er wohl leicht jeden schlagen, der gegen ihn lief. Jesse dagegen hatte das Adrenalin und die Verzweiflung auf seiner Seite. Und heftige Kopfschmerzen, die ihn vorantrieben. Denn je eher dieser Alptraum überstanden war, desto eher könnte er sich in irgendeine Ecke legen und sterben. Dann würden die Schmerzen endlich aufhören und er könnte den ganzen Mist der letzten Stunden, nein, der letzten Jahre endgültig vergessen.
„Verflucht!" brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und betete, dass die Outrider hinter ihm ihn nicht überholen würden. Er wollte den Jungen als erster einholen.
Das Schicksal meinte es gut mit ihm – und schlecht mit Johnny – denn als der Junge über den nächsten Baumstamm sprang, blieb er hängen, strauchelte und fiel der Länge nach auf den Boden. Dabei schrie er gepeinigt auf. Zwar wollte er sich sofort wieder erheben, aber es mochte ihm nicht recht gelingen und so sah Jesse seine Chance, ihn einzuholen und zu überwältigen. Noch ehe sich Johnny wieder auf seine Füße hatte kämpfen können, saß Jesse über ihm und zwang entschlossen, aber möglichst wenig brutal die Hände des Jungen auf dessen Rücken.
Johnny wimmerte leise und als er seinen Kopf drehte, konnte Jesse das Blut sehen. Beinahe hätte er ihn losgelassen und der Übelkeit nachgegeben, die in ihm empor stieg. Dann erkannte er aber, dass sich der Junge nicht ernsthaft verletzt, sondern lediglich seine Nase zu bluten begonnen hatte.
„Warum hast du das gemacht, Jesse?" schluchzte der Junge und kämpfte unter ihm, kam aber gegen das Gewicht auf seinem Rücken nicht an. Tränen rannen aus grünen Augen, vermischten sich mit dem Blut und den Dreck. Regen prasselte noch immer auf sie hernieder, aber weder Johnny noch Jesse beachteten ihn weiter. Noch interessierte den Jungen die Outrider, die etwa zehn Meter auf einer Anhöhe stehen geblieben waren und das Schauspiel fasziniert beobachteten. Selten sahen sie zwei Menschen, die sich im Schlamm wälzten. Somit befanden sich die Wrangler und Vanquo außer Hörweite, nicht aber außer Schussweite. Jesse musste den Jungen zurück bringen, sonst gäbe es für sie beiden nicht einmal den Hauch einer Chance.
„Saber hat dir vertraut! Er hat sich ernstlich mit meinem Bruder gestritten und hat mich gebeten, nett zu dir zu sein. April und Fireball hat er davon überzeugt, dass du es wert bist, dass man sich um dich kümmert! Er hat an dich geglaubt, obwohl du ihn angeschossen hattest. Und was machst du!" Der Junge zitterte unkontrolliert und blinzelte mehrfach, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. Frei liefen sie über seine dreckigen Wangen. „Du hast uns alle verraten!"
Jesse blickte ihn für einen Augenblick sprachlos an und alles, was zu hören war, waren das Rauschen der Blätter sowie der Regen, der um sie herum auf die Erde prasselte. Ihre beider Kleidung war mittlerweile durchweicht und klebte nass an ihren Körpern. Schlamm war in ihre Schule gelaufen und Kälte kroch in ihre Knochen. Wenn diese Odyssee nicht bald ein Ende fand, würden sich beide eine kräftige Grippe einfangen. Das Klicken einiger Waffen, die auf sie gerichtet wurden, erinnerten Jesse jedoch daran, dass eine Grippe harmlos wirkte im Vergleich zum Tod durch Erschießen.
„Du wirst jetzt aufstehen und schön in meiner Nähe bleiben!" Jesse lockerte seinen harten Griff um die Handgelenke des Jungen und beugte sich vornüber, so dass er sich sicher sein konnte, dass auch wirklich nur Johnny ihn hören konnte. „Es ist mir egal, was du glaubst oder nicht, Johnny, aber im Moment stecken wir verdammt tief in der Scheiße. Wenn du hier wieder lebend rauskommen willst, dann wirst du das tun, was ich dir sage. Du wirst nichts sagen und wirst dich weiterhin als Alexander MacLeth ausgeben. Denn nur solange Vanquo glaubt, dass du Alex bist, wirst du überleben. Und versuch nie wieder wegzulaufen, sonst hört Vanquo nicht mehr auf mich, sondern erschießt dich das nächste Mal."
„Soll er mich doch erschießen!" erwiderte Johnny und drehte seinen Kopf zur Seite. Er hatte die Augen aufeinander gepresst und zitterte noch stärker. „Dann ist es wenigstens vorbei."
„Verdammt, Johnny!"
„Ich lass mich von niemandem mehr missbrauchen, erst recht nicht von Outridern! Lieber sterbe ich, als noch mal so eine Hölle zu durchleben!" Johnnys riss seine Augen auf, als Jesse ihn plötzlich auf den Rücken drehte und leise, aber bestimmt anfuhr.
„Ich glaube nicht, dass deine Freunde glücklich wären, deine Leiche hier im Wald zu finden." Er zog den junge Texaner auf die Füße und für einen Moment war nicht klar, wer wen fest hielt, denn eine weitere Welle der Agonie schwappte über Jesse hinweg, schien seinen Kopf zerbersten zu wollen. Aber er kämpfte dagegen an und konnte den Schmerz ein weiteres Mal zurückdrängen, ignorieren. Er wusste jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Pein gewann und sein Körper sich ihr beugen musste.
„Saber will dich bestimmt wieder in einem Stück zurück! Also benimm dich wie eine wehrlose Geisel und überlass den Rest mir!" zischte er und nahm die Waffe wieder in die Hand, die er auf der Jagd nach dem flüchtenden Johnny in seinen Hosenbund gesteckt hatte. Er sicherte sie und drückte sie Johnny in den Rücken. Damit würde er Vanquo und den anderen zeigen, dass er die Lage wieder unter Kontrolle hatte. Nicht, dass sich doch noch ein Schuss aus den Blastern der Wrangler löste und all seine Pläne zunichte machte.
„Ich weiß, dass du mir nicht mehr vertraust. Das würde ich auch nicht. Aber versuch, am Leben zu bleiben!" flüsterte er dem Jungen zu, bevor er mit seiner freien Hand dem Geschwaderführer zuwinkte und somit das Zeichen zur Entwarnung gab. Die Outrider bildeten wieder einen Kreis und nachdem sie Vanquo erreicht hatten, setzten sie ihren Weg Richtung Raumschiff fort.
Noch immer waren die Outrider weit in der Überzahl, aber wenigstens besaß Jesse jetzt eine Waffe. Er hoffte nur, dass er seine Kopfschmerzen so lange kontrollieren konnte, bis sich ihnen eine Möglichkeit bot, den Blaster auch wirksam einzusetzen und zu flüchten.
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Entschlossenen Schrittes eilte Saber durch das Schloss seiner Ahnen, dass er erst vor einer Stunde verlassen hatte und das er gehofft hatte, so rasch nicht wieder zu betreten. Das Gespräch, oder besser, der handfeste Streit, der zwischen seinem Vater und ihm entbrannt war, reichte ihn für die nächsten Monate, eigentlich sogar Jahre, obwohl er sich nicht der Illusion hingab, dass sein Vater ihn in Ruhe lassen würde, würde er sich nie mehr melden. Über den Stolz des alten Schotten siegten noch immer die Traditionen und Saber war der einzige Erbe. Zumindest der einzige offizielle...
Saber lief immer zwei Stufen auf einmal nehmen die enge Wendeltreppe empor. Sie führte ihn durch den Boteneingang direkt zu seinen Privatgemächern, wie sein Vater die Zimmer immer genannt hatte. Der junge Mann hatte nie viel Zeit darin verbracht, jedenfalls nicht seit dem Tod seiner Mutter und der Möglichkeit, auf ein Internat im weit entfernten Yuma City zu gehen und dort ein Studium aufzunehmen. Hin und wieder musste er natürlich nach Schottland zurückkehren, schon allein deshalb, weil er seine Heimat und seine Pferde liebte. Jedoch hätte er weitere Konfrontationen mit seinem Vater gerne vermieden. Sinnlose Konfrontationen, bei denen Saber auch nicht nachgegeben würde, egal, welchen Preis er dafür eines Tages zu bezahlen hatte. Einige Dinge waren einfach wichtiger für ihn als der Name der Lancelots oder die Bedeutung eines aussterbenden Adelsgeschlechts. Aber egal, wie oft er das seinem Vater klarzumachen versuchte, er musste an der sturen Art des alten Schotten zwangsweise scheitern.
Der einzige offizielle Erbe... Saber hatte noch nicht so recht gewusst, wie er mit Jesse Blue, wie er mit dessen Amnesie oder wie er mit der Verbindung umgehen sollte, die zwischen ihnen bestand, aber alles möglichen Pläne waren innerhalb der letzten Stunde zunichte gemacht worden. Seitdem sie bemerkt hatten, dass nicht nur Johnny verschwunden, sondern auch Jesse Blue nirgendwo aufzufinden war. Obwohl Saber auf einen Zufall hoffte, darauf, dass sich beide hoffnungslos in den Wäldern verlaufen und Johnnys Handy der Strom ausgegangen war, so ahnte sein Instinkt als Star Sheriff, dass mehr dahinter steckte. Dass April und Fireball von Outridern angegriffen wurden, war kein gutes Omen. Was war, wenn Jesse und Johnny ebenfalls von Outridern überrascht worden waren? Unfähig, sich zu verteidigen? Gefangen genommen? Hilflos? Verängstigt?
Und was war, wenn Jesse sein Gedächtnis wiedererlangt und die Outrider womöglich sogar gerufen hatte? Wenn er sich wieder daran erinnerte, wer er innerhalb der letzten zwei Jahre gewesen war und das ihn Saber zu Unrecht einen guten Freund genannt hatte? Wenn er Johnny als Geisel benutzte, um sich an ihm zu rächen und sein perfides Spiel zu einem perversen Abschluss brachte?
Denn Saber zweifelte nicht daran, dass Jesse mitbekommen hatte, wie wichtig ihm Johnny war, wie viel er ihm bedeutete. Zu offen war Saber dem Patienten gegenüber gewesen. Aber, verdammt! Jesse hatte sein Gedächtnis verloren. Er war ein ganz anderer Mensch gewesen. Und aller Vernunft zum Trotz hatte der junge Schotte ihm vertraut.
Saber erreichte die kleine Tür und stieß sie energisch auf. Er beachtete nicht die teure Inneneinrichtung, schenkte den riesigen Fenstern und dem ausladenden Balkon hinter einer großen Tür keine Beachtung. Nur kurz wandte er seinen Blick zu dem Porträt der jungen Frau zu, die gegenüber der Glasfront über einem massiven Kamin hing und gütig auf ihn herab lächelte. Ihre blonden Haare fielen weich über ihre schmalen Schultern. In ihren Armen hielt sie ein Kleinkind, das sie liebevoll anlachte.
Saber wandte sich vom Bildnis seiner Mutter zu seinem ersten Geburtstag ab und seine Augen flogen durch den Raum und die angrenzenden. Er bemühte sich nicht, leise zu sein. Wozu auch? Immerhin war dies einmal sein Zuhause gewesen. Vor langen Jahren...
„Johnny?" Er rannte beinahe durch die Zimmer, aber jedes Mal, wenn er eine weitere Tür öffnete, war der sich dahinter befindliche Raum leer. „Jesse?"
Saber hatte bereits die Ställe abgesucht, nachdem er den Knecht per Funk dazu bewegt hatte, ihn noch einmal von der Gartenhütte abzuholen. Aber er hatte niemanden auf den weiten Wiesen rund um das Schloss noch bei den Rössern angetroffen. Nicht einmal George. Also war er zu seinen Privatgemächern gelaufen. Wenn er Johnny sonst in seinem Schloss antraf, dann entweder in den Ställen oder hier. Der Junge konnte stundenlang auf dem Balkon die Berge betrachten und darüber die Zeit vergessen. Oder er lieh sich eines von Sabers Büchern aus und schmökerte in sich gekehrt. Aber heute war der Junge nirgendwo zu sehen. Weder er noch Jesse Blue.
Saber glaubte nicht daran, dass es Zufall war, dass sie beide gesucht wurden. Er war fest davon überzeugt, dass sie zusammen entweder durch das Schloss der Lancelots oder durch den Wald stolperten. Je dunkler der Tag außerhalb des Gemäuers wurde, desto mehr hoffte Saber, sie hier zu finden. Er hatte zwar Johnny gesagt, dass er bei seinem Bruder warten sollte, aber seit wann hörte der junge Texaner denn auf Colt? Es hätte Saber gar nicht verwundert, wenn Johnny ihm gefolgt wäre. Deshalb hatte er gehofft, die beiden oder wenigstens Johnny hier zu finden.
„Johnny? Jesse?"
Er stieß die Tür zu der kleinen Bibliothek auf, konnte aber auch hier keinen von den beiden entdecken. Statt dessen hörte er die Schritte jenes Mannes laut die Haupttreppe herauf kommen, den er heute am liebsten nicht noch einmal getroffen hätte. Aber im Moment fand er niemand anderen, den er nach Johnnys eventuellen Auftauchens hätte fragen können, also blieb er äußerlich ruhig in der Mitte des von Bücherregalen gesäumten Raumes stehen und wartete auf die Ankunft seines Vaters.
„Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?" Der alte Schotte erschien in der Bibliothek und stockte, erstaunt, seinen Sohn hier vorzufinden. Er erlangte aber rasch seine kühle Fassade wieder und blickte abschätzig zu dem Star Sheriff hinüber. „Was willst du hier? Ich dachte, du hättest bereits alles gesagt."
„Ist Johnny hier?" fragte Saber ohne Umschweife und ballte unbewusst seine Fäuste, als sein Vater seine Arme vor der Brust verschränkte und nicht so wirkte, als würde er ihm bereitwillig antworten. „Oder war er hier gewesen?"
„Reicht es nicht, dass ich diesen Bengel viel zu oft ertragen muss, bin ich jetzt etwa auch sein Babysitter?" Eine Zornesfalte bildete sich auf der Stirn des alten Mannes im Schottenrock. Saber holte ein Mal tief Luft. Er würde den Streit nicht fortsetzen. Nicht jetzt. Nicht, wenn Johnny in Gefahr schweben könnte. In Gefahr, in die er ihn gebracht hatte. Wenn Johnny etwas zustieß, wenn Jesse ihm etwas antat, der junge Schotte würde es sich niemals verzeihen.
„Ich will hier eine ganz einfache Antwort: War Johnny während der letzten zwei Stunden hier gewesen? Ja oder nein?" formulierte er seine Frage deshalb neu und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme seine Ungeduld verriet. Sein Vater nahm sich jedoch alle Zeit der Welt, löste sich von der Wand, an der er eben noch gelehnt hatte und schlenderte die Reihen der Bücher entlang.
„Was geht es mich an, wenn dir dein kleiner Lustjunge fortgelaufen ist? Ich habe dir ja gleich gesagt, dass er nur dein Geld will. Vermutlich hat er jetzt genug und geht eben." Der alte Schotte zuckte mit den Schultern und griff sich ein Buch aus dem Regal, durch das er scheinbar gelangweilt blätterte. Saber holte erneut tief Luft. Nein, auf diese Diskussion würde er sich nicht einlassen. Nicht schon wieder. Dafür hatte er momentan einfach keine Zeit!
„War. Er. Hier?" fragte er und wirbelte herum, als er keine Antwort erhielt. Dieses Spiel raubte ihm kostbare Minuten. Effektiver wäre es vermutlich, die Wälder rings um das Schloss abzusuchen oder gleich den direkten Weg nehmen, der das alte Anwesen mit der kleinen Gartenhütte verband. Vielleicht wussten ja die anderen inzwischen mehr? Fireball und April sollten mittlerweile im Lager angetroffen sein. Oder hatten sie noch weitere Outrider aufgespürt? Saßen sie hier in den Highlands auf einem faulen Nest?
„Mach doch, was du willst. Ich krieg das auch ohne deine Hilfe raus." Seufzte er und war schon durch die Tür, als er die amüsierte Stimme seines Vaters hinter sich hörte.
„Er ist vor etwa zehn Minuten gegangen. Er war in männlicher Begleitung, mein Sohn." Saber drehte sich um und der Graf grinste triumphierend, als er sah, wie der junge Mann sichtlich erbleichte.
„Einem jungen Mann mit blauen Haaren?" Saber wusste nicht recht, ob er erleichtert sein sollte oder nicht. Es bedeutete, dass Johnny tatsächlich mit Jesse zusammen war und sie höchstwahrscheinlich noch durch die Wälder spazierten, ohne sich bewusst zu sein, dass nach ihnen gesucht wurde. Auch hatte Jesse Blue sein Gedächtnis noch nicht wiedererlangt. Wäre es anders, dann wäre der alte Schotte nicht mehr am Leben - oder zumindest verletzt. Graf Lancelot hatte in dem ersten Outriderkrieg gedient, aber selbst er erwartete keinen so plötzlichen Angriff in seinen eigenen vier Wänden.
Das bedeutete jedoch, dass es in den Wäldern immer noch Outrider gab und sich die beiden noch immer in großer Gefahr befanden.
„So ein kränklicher Mann, der sich sehr seltsam benahm. Aber vielleicht steht dein Lustjunge ja auf so was." Höhnte der Graf, aber Saber beachtete seine bösen Anschuldigungen nicht. Seine Gedanken rasten. Wenn Johnny und Jesse das Schloss erst vor zehn Minuten verlassen hatten, dann konnten sie gar nicht so weit gekommen sein. Dann hatte er sie um Haaresbreite verpasst. Vermutlich hatte er sich in den Stallungen befunden, während sie das Anwesen verließen. Verdammt!
Und was hatte sein Vater gleich gesagt? Kränklich? Also ging es Jesse nicht so gut. Vielleicht waren sie gar nicht so weit gekommen. Vielleicht brauchten sie Hilfe. Vielleicht brauchte Jesse seine Hilfe, so wie vermutlich schon oft in seinem Leben. Saber war entschlossen, sie ihm dieses Mal zu gewähren.
„Du solltest ihn fallen lassen, der will doch nur dein Geld und betrügt dich mit jedem dahergelaufenen Straßenköter." Die schneidende Stimme seines Vaters riss ihn aus seinen Gedanken und bevor Saber so recht wusste, was er tat, war er die drei Schritte zu seinem Vater hinüber getreten und hatte ihm das Buch aus der Hand gerissen.
„Du bist der Allerletzte, der über andere richten kann, Vater." Er spuckte die Anrede förmlich aus, während er den alten Schotten zornig anfunkelte. „Du hast Mutter auch nur des Geldes wegen geheiratet und sie nie geliebt. Betrogen hast du sie. Weißt du, wie weh du ihr damit getan hast? Wie weh du anderen damit getan hast?"
„Richard!" warnte ihn der Graf, aber Saber ignorierte seine Einwände. Der Mann vor ihm war biologisch sein Erzeuger, aber sobald er die einzige Familie, die Saber je besessen hatte, beleidigte, verlor der sonst so kühle Schotte seine Beherrschung.
„Du wagst es, Johnny zu verurteilen, nur weil er kein Geld hat und keinen Titel? Wie kannst du nur, Vater! Wie kannst du nur! Du schwimmst im Überfluss und entstammst einem der ältesten Adelsgeschlechter der Erde. Trotzdem hast du dich durch fremde Betten geschlafen, während deine Frau im Sterben lag!"
„Jetzt reicht es mir aber..." begehrte der alte Schotte auf, aber Saber knallte das Buch vor seine Füße und unterbrach ihn jäh.
„Nein! Mir reicht es! Du ziehst Johnny in den Dreck, obwohl du moralisch gesehen verdammt weit unter ihm stehst! Johnny hat nie seine eigene Familie verraten und ist feige davongelaufen, wenn die Affäre nicht länger vorteilhaft für ihn war!"
„Wie wagst du es, so mit deinem Vater zu sprechen!"
„Wieso? Soll ich dir etwa Respekt entgegen bringen, dass du Mutter so weh getan hast? Dass du Johnny jedes Mal weh tust, wenn er hier ist? Er hat vor zehn Jahren seine Eltern verloren. Glaube mir, er hätte sich liebend gern mit dir vertragen."
„Ich will diesen Perversen nicht!"
„Genauso wenig wie du mich gewollt hattest. Zu sehr wie deine Frau." Saber schüttelte seinen Kopf und öffnete langsam seine Fäuste. „Genauso wenig wie du jemals Jesse hast haben wollen. Und erzähl mir nicht, du hättest nicht von ihm gewusst, du hast doch sonst deine Spitzel überall!"
„Jesse? Der junge Mann von heute?" Nun war der alte Schotte erbleicht und sein kräftiger Bariton schwankte leicht.
„Ja, Jesse Blue. Du hast dich davongemacht. Ich werde mich jedoch der Verantwortung stellen." Saber musterte seinen blassen Vater noch einen Augenblick stumm, bevor er sich umdrehte und zielsicher zur Haupttreppe schritt. Dass der Schotte seinen Namen rief und ihn zum Stehenbleiben aufforderte, interessierte ihn nicht. Er hatte seinen Standpunkt klar gemacht. Wie sein Vater damit umging, war ihm völlig egal. Johnny und Jesses Sicherheit waren nun wichtiger. Viel wichtiger. Wichtiger als es der letzte Graf der Lancelots jemals hätte sein können.
„Richard!"
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er die breite Treppe hinab. Es war ihm gleichgültig, ob das wenig würdevoll aussah, er hatte es eilig. Noch im Laufen zog er seinen Kommunikator und wählte den des Cowboys an. Zumindest konnte er dem Suchtrupp nun eine genauere Richtung geben, wobei sie trotzdem aufpassen mussten. Jesse schien es gesundheitlich nicht besonders gut zu gehen und selbst wenn Johnny von dem Amnesiepatienten keine Gefahr drohte, so waren die Outrider umso bedrohlicher.
Saber trat hinaus in den trüben Nachmittag und fluchte unterdrückt, als die ersten Regentropfen auf ihm hinabprasselten. Kurz musterte er die Gärten vor sich und wunderte sich, wie weit die beiden wohl schon gekommen waren. Dann drückte er den Kommunikator an sein Ohr, während er hinüber zu den Stallungen lief.
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Das Raumschiff war klein. Jesse hätte es beinahe übersehen und wäre gegen Vanquo geprallt, der plötzlich stehen blieb und auf ein braunes Objekt, das inmitten des Mix mit Schlamm und nassem Laub lag. Wie sie alle acht Personen in das Schiff passen sollten, war Jesse ein Rätsel, bis die Wrangler nacheinander salutierten und freiwillig in die Phantomzone zurück kehrten. Der junge Mann hätte sich dafür schlagen können, wenn sein Kopf nicht schon bereits genug geschmerzt hätte. Natürlich! So liefen Missionen, die keine weiteren Probleme bereiteten, immer ab. Ein Sprung zwischen der Welt der Menschen und der Phantomzone kostete Energie und die Outrider mussten damit haushalten. Ein Raumschiff zu bewegen war günstiger, als mehrere, wenn die Wrangler-Einheiten ohne weitere Anstrengungen sowieso in die Phantomzone verschwinden konnten.
Jesse hatte schon auf so vielen Missionen mitgewirkt, warum war ihm dieses kleine, aber trotzdem so wichtige Detail entgangen? Hatte dies auch mit seiner Amnesie zu tun? Kehrte sein Gedächtnis nur schrittweise zurück? Bedeutete das etwa, dass noch weitere Erinnerungen folgen würden? Noch grausamere?
Dann wollte Jesse wieder der Patient sein und brav Doktor Claires Medizin schlucken, und ein stinknormales Leben führen, in dem er keine Kinder sterben sah.
„Nemesis wird hochzufrieden sein." Vanquo stolzierte erhobenen Hauptes durch den Dreck und leise surrte das Gefährt, als das Deck geöffnet wurde und einem kleinen Cockpit Platz machte. Es würde eng werden, aber der Geschwaderführer nahm einen unangenehmen Flug in Kauf, wenn seine Rückkehr vor Nemesis umso würdevoller ausfiel. „Machen wir uns auf den Weg, Jesse Blue."
Jesse blickte kurz zu einem zitternden Johnny, der mit weit aufgerissenen Augen das Schiff vor sich anstarrte, und wieder zurück zu Vanquo. Eine wirkliche Entscheidung musste er nicht treffen, wusste er doch, was zu tun galt. Nie mehr würde er zusehen, wie ein Outrider einen unschuldigen Menschen, einen Teenager umbrachte. Nie wieder! Und genau das würden Vanquo oder Nemesis mit Johnny machen, wenn er erfuhren, dass es sich bei dem verängstigten Jungen nicht um den Erben des MacLeth-Imperiums handelte.
„Weißt du was? Ich schätze mal, wir bleiben hier." Jesse richtete die Waffe nun auf den Geschwaderführer und entsicherte sie. Er würde nie begreifen, wie er den Umgang mit dem Blaster einst hatte vergessen haben können. Die Mechanik erschien ihm jetzt so logisch, so unkompliziert, und dennoch hatte er vor wenigen Tagen nicht einmal mehr gewusst, wie man eine einfache Dusche bediente.
Kurz musterte er den Stahl in seinen Händen und musste zugeben, dass er lieber ein unwissender Idiot geblieben wäre.
„Wie bitte?" Vanquo griff nach seiner eigenen Waffe, verharrte jedoch mitten in der Bewegung, als Jesse warnend seinen Kopf schüttelte.
„Mir sind die Quartiere zu kalt und zu eng, die Hauptzentrale dagegen gleicht einem Dschungel und ihr seid mir alle viel zu durchgeknallt. Ich bleibe hier. Und da ich's nicht verantworten kann, ihn mit dir allein zu Nemesis zu schicken, bleibt der Kleine auch hier!" Er deutete zu Johnny, der dieses Mal nicht protestierte, dass er nicht klein war, so wie er das während der letzten Tage unzählige Male gegenüber seinem Bruder und den anderen Teammitgliedern getan hatte. Jesse wünschte sich, er könnte die Zeit zurück drehen - oder sich wieder vor einen Konvoi legen.
Vanquo blickte den ehemaligen Kadetten verständnislos an, bevor ein grimmiges Grinsen auf seinem Gesicht erschien.
„Ach, so ist das? Du willst die Lorbeeren ganz allein einheimsen? Willst später und unvermittelt bei Nemesis auftauchen und dich als seinen Liebling bestaunen lassen?" erwiderte der Geschwaderführer und lachte hämisch. Es schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, dass Jesse die Outrider vielleicht verraten könnte. Nein, Vanquo glaubte nur an das Böse seiner Rasse und erwartete von ihren Abkömmlingen untereinander nichts anderes. Solange es dem Willen Nemesis diente, konnten seine Untergebenen tun, was sie wollten. Es war ein seltsames Spiel und Jesse fragte sich angewidert, wie er es jemals hatte leiden können. Wie Hyänen, schoss es ihm nun durch den Kopf. Und er war eine von diesen verabscheuungswürdigen Kreaturen gewesen...
„Du hast mich mal wieder durchschaut." Grinste Jesse ebenso hinterhältig zurück und trat einen Schritt näher an den Geschwaderführer heran. „Du wirst jetzt fein in dieses Schiff einsteigen und schön deine Klappe halten. In fünf Stunden komm ich nach und wehe, ich finde nicht alles zu meiner Zufriedenheit vor!"
Fünf Stunden waren nicht viel, aber vielleicht würden sie reichen, um Saber und den anderen alles zu erklären. Um Alex, der sich sicherlich noch um sein verletztes Eichhörnchen sorgte, in Sicherheit zu bringen. Möglichst weit weg.
„Wie willst du nachkommen? Du hast kein Schiff!"
„Unterschätze mich nie, Vanquo. Was glaubst du, wie die Star Sheriffs hergekommen sind?" Es war ein Bluff, da sie ein öffentliches, interstellares Verkehrsmittel benutzt hatten, aber Vanquo konnte doch nicht alles wissen, oder?
„Du bist ein gerissener Bursche." Es schwang beinahe so etwas wie Anerkennung in Vanquos Stimme. „Aber ich werde mich sicherlich nicht vor dir verbeugen!" Er ignorierte den Stahl in Jesses Händen und zog seine eigene Waffe. Darauf war der ehemalige Kadett jedoch vorbereitet gewesen. Auf Menschen zu schießen, das war die eine Sache, auf Outrider eine ganz andere. Denn anders als Menschen starben Outrider nicht, wenn sie erschossen wurden. Sie verloren lediglich ihre Energie und mussten in ihre eigene Welt, die Phantomzone, flüchten, um dort genügend neue Energie zu erhalten, um zurück zu kehren. Manchmal dauerte dies Stunden oder gar Tage, manchmal nur wenige Minuten. Deshalb wusste Jesse, als Vanquo mit einem zornigen Schrei in sich zusammen sackte und sich auflöste, dass sie sich beeilen mussten. Je mehr Abstand wie sie zwischen sich und das Schiff brachten, umso besser. Auf jeden Fall mussten sie vorbereitet sein. Irgendwie.
Jesse behielt deshalb seinen Blaster in geladenem Zustand in der Hand. Sollte Vanquo doch schneller zurück kommen als erwartet, so würde er ihm einen heißen Empfang bereiten.
Der ehemalige Kadett drehte sich um und hielt für einen Moment inne, als seine Kopfschmerzen wieder zunahmen. Kleine Sterne tanzten vor seinen Augen und das Rauschen des Regens wurde immer ferner. Aber er riss sich zusammen. Wenn er jetzt ohnmächtig wurde, dann half das niemandem - und Johnny wäre noch immer in höchster Gefahr.
„Alles okay?" fragte er den Jungen und bemerkte gar nicht, wie rau seine eigene Stimme klang. Der Texaner starrte ihn noch immer schweigend an und trat einen Schritt zurück. Jesse konnte nicht beurteilen, ob es sich dabei um einen weiteren Fluchtversuch handelte oder ob der Junge genauso mit dem Bewusstsein kämpfte wie er. Die wetterfeste Kleidung war an verschiedenen Stellen zerrissen, zeigte Wunden und Blessuren. Sicherlich war Johnny genauso wie er bis auf die Knochen durchweicht und fror mächtig. Das Blut seiner Nase hatte sich auf der Jacke verteilt und Johnny wirkte mit seinem bleichen Gesicht im Kontrast unheimlich. Seine großen Augen starrten noch immer Jesse an und er gab keinen Ton von sich, als er auf dem Laub ausrutschte und hinfiel. Geistesgegenwärtig oder vielleicht aus Reflex, Jesse konnte es nicht beurteilen, rappelte sich der Jugendliche sofort wieder auf, bis er kniete, aber um wieder zurück auf seine Beine zu gelangen, fehlte ihm offensichtlich die Kraft. Jesse wusste nicht, ob er überhaupt noch so viel Kraft in seinem schmerzenden Körper übrig hatte, aber Johnny musste aufstehen. Sie mussten weiter. So schnell wie möglich!
„Alles okay?" wiederholte er seine Frage und schwankte langsam auf den jungen Texaner zu, der wie gelähmt im Schlamm kniete und noch immer nichts erwiderte. „Komm, steh auf. Wir müssen weiter, bevor sie zurück kommen."
Alles, was Johnny tun konnte, war, seinen Kopf zu schütteln. Sein Blick wanderte zwischen Jesse und dem kalten Stahl hin und her und seine Hände fuhren durch das nasse Laub, so als suche er einen Stein oder einen Stock, um sich zu verteidigen. Er fand jedoch nichts. Jesse erkannte es daran, wie die Schultern des Jungen nach unten sackte. Aber sie hatten im Moment keine Zeit, um die Dinge zwischen ihnen richtig zu stellen. Wenn sie erst einmal in Bewegung und weit genug von dem Raumschiff entfernt waren, würde Jesse Johnny erklären, dass er ihn retten wollte und was eben gerade vorgefallen war. Aber dafür hatten sie im Moment einfach nicht die Zeit.
„Komm! Wir haben es eilig! Wir müssen hier weg!" drängte er deshalb ungeduldig und streckte seine freie Hand nach dem Jungen aus, insgeheim hoffend, dass er noch über genügend eigene Kraft besaß, um Johnny auf seine vor Kälte sicherlich steifen Beine zu ziehen. Johnnys Blick raste nun zwischen der Hand und dem Blaster hin und her und er lehnte sich leicht nach hinten. Noch immer sagte er nichts und Jesse wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Irgendwo im Wald knackte ein Ast, erinnerte ihn daran, wie prekär ihre Situation war. Also griff er einfach nach Johnnys rechten Arm und zog daran, um ihn zum Weitergehen zu bewegen.
„Nun komm schon!"
„Lass ihn sofort los!"
Jesse brauchte einige Momente, um zu begreifen, dass es nicht Johnny war, der soeben zu ihm gesprochen hatte.
dbdbdb
„Wo ist der Chef?"
Fireball hatte sofort das Fehlen ihres Anführers gemerkt, als Colt ihnen die Tür zur Gartenhütte öffnete und diese sofort wieder hinter sich fest verschloss und Stellung an einem der Fenster nahm. Leicht lüftete er den Vorhang und spähte mit einem Auge hinaus. Er hatte schon viele Belagerungen erlebt und wusste genau, wie man sich in einer solchen Lage verhielt.
„Irgendwo dort draußen, um nach Johnny und Jesse zu suchen." Sagte er Cowboy und drehte sich kurz zu seinen Freunden um. Alex hatte ihn erst mit tausend von Fragen bombardiert und sich auf schweigend auf die Couch gesetzt, als er begriff, dass sich Johnny in Gefahr befand und er nichts für ihn tun konnte. Zuerst hatte er sofort losstürmen und seinem besten Freund zu Hilfe eilen wollen, aber Colt erinnerte ihn streng daran, dass er das Chaos nur noch vergrößern würde. Damit sich der junge Erbe nicht all zu nutzlos fühlte - Colt kannte und hasste dieses Gefühl nur all zu gut - hatte er ihm das Eichhörnchen in die Arme gedrückt und gesagt, dass er darauf aufpassen sollte. Johnny wäre doch traurig, wenn er zurück käme und es wäre doch noch gestorben. Also passte Alex nun auf das Tier auf, aber Colt wusste genau, dass er an jedem Wort hing, das sie wechselten.
„Also hat Jesse sein Gedächtnis zurück?" April durchstöberte ein Geheimfach in der Wand, von dem offensichtlich nur Saber und sie Kenntnis hatten, und beförderte mehrere Waffen zu Tage. Sie waren ein wenig staubig, schienen aber ihre kurzen Prüfung zu bestehen.
„Keine Ahnung. Aber es kann kein Zufall sein, dass beide vermisst werden." Colt schielte wieder hinaus in die Wildnis, konnte aber keinen unauffälligen Schatten erkennen. „Außerdem befinden sich da draußen vielleicht immer noch Outrider. Selbst ohne Jesse Blue befände sich Johny in Gefahr. Wie viele von diesen Bastarten liefen denn da draußen rum?"
„Fünf." Fireball hockte sich neben April und untersuchte ebenfalls die Waffen. Zwei davon steckte er sich an den Gürtel und ging hinüber zu Colt, um ihm ebenfalls einen weiteren Blaster zu reichen.
„Das gefällt mir alles nicht!" Colt stand auf und ohne viele Worte übernahm Fireball seinen Platz. Eigentlich hätte der Cowboy hier bleiben sollen. Er war der bessere Scharfschütze. Aber Fireball war davon überzeugt, dass es bei ihm ebenfalls kein Outrider schaffen würde, sich der Gartenhütten auf mehr als einhundert Meter zu nähern. Außerdem war Colts kleiner Bruder in Gefahr. Fireball verstand, dass der Texaner da nicht zurück bleiben konnte. Jemand musste bei Alex bleiben, um den jungen Erben zu beschützen. Fireball würde also diese Aufgabe übernehmen und hoffen, dass sie Johnny bald und wohlauf fanden - und dass Jesse sie nicht verraten hatte. Nicht schon wieder...
„Uns genauso wenig." April nieste laut, aber für ihre Erkältung hatten sie im Moment keine Zeit. „So viel zum Kurzurlaub in den Bergen." Seufzte sie laut und öffnete die Tür einen Spalt breit. Ihr Gesicht verzog sich, als sie das Wetter sah, dass innerhalb der letzten Minuten beschlossen hatte, sich von seiner schlimmsten Seite zu zeigen.
„Na prima! Es regnet!"
„Besser kann es ja nicht mehr werden." Colt stülpte sich seinen Cowboyhut über und verließ die Gartenhütte. Er schlich die Stufen hinab und blickte sich um. Als die Luft rein war, deutete er April an, ihm zu folgen. Die genauen Anweisungen Sabers hatte er den anderen Star Sheriffs nicht mitgeteilt, aber sie wussten aus jahrelanger Zusammenarbeit automatisch, was es zu tun galt. Wenn Saber den Wald nach Johnny und Jesse absuchte, so würden sie sich zu ihm gesellen und ebenfalls suchen. Etwas anderes blieb ihnen auch gar nicht übrig.
„Halte die Stellung." Die junge Frau beugte sich kurz über den jungen Japaner und drückte ihn einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Dann war sie auch schon durch die Tür geschlüpft und stand neben Colt, der nun zwei - sicherlich geladene - Waffen hielt.
„Pass auf dich auf." Murmelte Fireball leise und blickte hinaus in den immer stärker werdenden Regen. Von weitem konnte er das Schrillen des Kommunikators hören und beobachtete, wie April ihren unter der Jacke hervorholte. Nach ein paar Sekunden angestrengten Lauschens nickte sie und die beiden stoben Richtung Wald hinfort. Der junge Japaner blickte ihnen schweigend hinterher, bevor er sich auf seine eigene Aufgabe konzentrierte.
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„Lass ihn sofort los! Ich wiederhole mich nicht noch einmal!"
Jesse drehte seinen schmerzenden Kopf zu der fremden Stimme und atmete erleichtert auf, als er keinen anderen Outrider sah, sondern Saber, der auf einer Anhöhe zu ihrer rechten stand. Hinter ihm konnte Jesse ein großes, braunes Objekt ausmachen und er brauchte einige Augenblicke um zu begreifen, dass es sich dabei um ein Pferd handelte.
Sehr gut! So konnte Johnny rasch in Sicherheit gebracht werden, denn der Junge wirkte nicht mehr, als könnte er noch weit laufen. Jesse hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber auch er wusste nicht, wie lange er noch durchgehalten hätte. Nein, er erwartete keine Rettung, nicht er, aber ohne ihn wäre Johnny ebenso verloren gewesen. Gegenüber Vanquo oder einem anderen Outrider sicherlich.
„Phantastisch." Murmelte er erschöpft und blickte zurück zu Johnny, um ihm aufmunternd zuzulächeln, aber es gelang ihm nur eine Grimasse, der er sich selbst nicht einmal bewusst wurde. Johnny schnappte hörbar nach Luft und riss sich von seiner Berührung los, robbte einen Meter fort, wo er gegen einen umgefallenen Baum prallte und bewegungslos verharrte, Jesse weiterhin anstarrte als wäre er ein gefährliches Raubtier und Johnny das Opferlamm, das zu entkommen versuchte, aber keinen Ausweg fand.
„Leg die Waffe nieder!" Saber rutschte mehr auf dem Laub, als dass er die Anhöhe hinunter lief. Seine blonden Haare klebten nass in seiner Stirn und seine eisblauen Augen blitzten zornig. Eisblaue Augen. Genauso wie seine eigenen...
Jesse hätte ihn gerne gefragt, ob er es wusste. Ob es ihm jemals aufgefallen war. Ob sein Vater ihm jemals davon - von ihm - erzählt hatte. Aber der ehemalige Kadett wusste, dass dafür keine Zeit war.
„Der Ort wird gleich voller Outrider wimmeln!" versuchte er, dem Star Sheriff zu erklären und trat auf ihn zu. Im nächsten Moment spürte er die Spitze von Sabers Schwert an seinem Hals. Er hatte gar nicht gesehen, dass der junge Schotte es zog. Zu schnell war die Bewegung gewesen, zu routiniert. Jesse musste neidlos gestehen, dass der junge Mann vor ihm seinen Codenamen zu Recht trug.
„Leg die Waffe nieder! Muss ich dir heute alles zwei Mal sagen, Jesse?"
„Wieso? Die Outrider kommen gleich zurück und da brauch ich sie!" erwiderte Jesse und fuchtelte mit seinem freien Arm durch die Luft. Verdammt, wieso verstand ihn der junge Schotte nicht? Sie hatten für diese Spiele keine Zeit! Wenn sie in Sicherheit waren, würde er Saber seine Waffe mit Freunden überreichen und ihm alles erzählen, was er wusste, aber jetzt mussten sie weg von hier! Vanquo konnte jeden Moment auftauchen - und mit ihm sicherlich einige Duzend Outrider. Der Geschwaderführer würde Jesse nicht umbringen wollen, sondern ihm nur eine Lektion in Sachen Hierarchie erteilen. Aber Johnny würde er fälschlicherweise als Alex mit sich nehmen und Saber erschießen. Jesse durfte dies nicht zulassen!
„Verflucht! Wir müssen hier weg, ist denn das so schwer zu begreifen? Hier wimmelt's gleich von Outridern und bis dahin sollten wir Land gewonnen haben, spoiled boy!" Bevor Jesse sich auf die Zunge hatte beißen können, war der alte Spitzname herausgerutscht. Kein besonders intelligenter Name, wie sich der ehemalige Kadett nun eingestehen musste. Vor zwei Jahren hatte er ihn für perfekt gehalten. Verwöhnter Junge. Während der letzten Tage hatte er aber gelernt, dass Saber alles andere als verwöhnt war. Ja, er besaß Geld, vermutlich mehr, als er jemals in seinem Leben würde ausgeben können, aber neben dem Gold existierte auch noch ein Drache, der in dem Hort hauste und Sabers Leben zur Hölle machen konnte, wenn er das nur wollte.
Jesse hatte Saber immer um seinen Reichtum und seine Familie beneidet. Diesen Nachmittag hatte er jedoch begriffen, dass sein Neid unbegründet gewesen war. Gegenüber diesem Vater hatte der junge Schotte sein Mitleid verdient.
Gegenüber ihrem Vater...
Sabers Augen verengten sich zu Schlitzen, als er den alten Namen hörte, erkannte, was dieser im Zusammenhang mit Jesse Blue bedeutete. Blitzschnell hatte er dem geschwächten jungen Mann den Blaster entrissen und dessen Arm auf den Rücken gedreht. Jesse stöhnte gequält auf und ging auf seine Knie, die ihn nicht länger zu halten vermochten.
„Na? Erinnerst du dich wieder an alles?" sagte er in einer fürchterlich kalten Stimme, die Jesse einen Schauer über den Rücken jagte. Wie anders Saber jetzt wirkte. Komplett ausgewechselt. Das Gegenteil von dem jungen Mann, den Jesse innerhalb der letzten Tage in Yuma City erlebt hatte. „Oder hast du das alles nur vorgespielt und dich dabei halb tot gelacht?"
Jesse kämpfte gegen den stählernen Griff an, wusste aber gleichzeitig, dass er keine Chance gegen den gesunden Star Sheriff hatte. Gegen einen extrem wütenden und extrem besorgten Saber.
„Wir müssen hier weg!" formulierte er seine dringlichsten Gedanken in Worte und fuhr zusammen, als Saber unter sein Kinn griff und ihn zwang, aufzusehen. Lichter explodierten vor seinen Augen und der Schmerz hinter seinen Schläfen ließ ihn leise aufstöhnen. Mit einem Mal wünschte er, dass das alles ein Ende hätte. Dass ein weiterer Konvoi käme und ihn endgültig überfuhr. Diese ewigen Schmerzen waren nicht mehr aushaltbar. Genauso wenig wie Sabers enttäuschtes Gesicht. Ja, der Ausdruck war eindeutig enttäuscht, auch wenn die Augen noch immer so wütend blitzten. Maßlos enttäuscht.
„Ich hätte nie gedacht, dass du Unschuldige in deine persönliche Vendetta mit reinziehst." Saber blickte ihn einen weiteren Moment schweigend an, bevor er seinen Kopf schüttelte und ihn plötzlich los ließ. Jesse verlor sein Gleichgewicht und fiel in den Schlamm vor sich. Sein Körper wollte liegen bleiben, während seine Gedanken ihn anschrieen, gefälligst seinen Hintern hochzukriegen und von hier fortzulaufen oder zumindest fortzuschwanken. Sie saßen in einem Wespennest und die Bewohner würden jeden Moment zurück kommen und über die Fremdlinge gar nicht amüsiert sein.
„Rühr dich nicht von der Stelle. Mit dir beschäftige ich mich später."
Jesse kämpfte sich schwerfällig auf seine Ellenbogen und beobachtete, wie Saber die Outriderwaffe aufhob, sicherte und in seinen Hosenbund steckte. Dann ließ sich der junge Schotte neben dem Teenager nieder und untersuchte diesen rasch nach Schusswunden oder anderen Verletzungen. Johnny sah mit all dem Blut auf seiner Jacke auch zum Fürchten aus. Zum Glück aber fehlte dem Jungen außer ein paar Blessuren und Wunden vom Sturz über den Baumstamm nichts. Jesse konnte die Erleichterung Sabers sehen, bevor er Johnny in seine Arme nahm. Noch immer erwiderte der junge Texaner nichts. Er weinte nicht einmal. Stumm kuschelte er sich näher an seinen Freund und keiner von beiden dachte auch nur im Entferntesten daran, dass Johnny Sabers Kleidung nun ebenfalls vollkommen verdreckte.
Jesse durchfuhr plötzlich der Gedanke, dass Saber ihn am Leben gelassen hatte. Angesichts der Umstände, in denen er sie vorfand, hätte er jedes Recht gehabt, ihn zu erschießen. Jesse hatte eine Waffe in den Händen gehalten und Johnnys Jacke war blutüberströmt, wenn auch nur vom Nasenbluten, aber das hatte Saber ja nicht wissen können. Jesse hatte keine Freundin. Die einzige, mit der er sich jemals getroffen hatte und von denen die Star Sheriffs ihm an jenem Abendbrotstisch in einer anderen Welt, in einem anderen Leben berichtet hatten, hatte er auch nicht aus Liebe gehabt, sondern aus Berechnung. Um an für die Outrider wichtige Daten zu gelangen. Aber wenn er jemals eine richtige Freundin hätte, die er vom ganzen Herzen liebte und er fand diese in Gewalt seines ärgsten Feindes, blutüberströmt und apathisch wirkend, Jesse hätte vermutlich geschossen. Saber aber hatte das nicht getan. Er hatte ihn lediglich in den Dreck gestoßen, sein Schwert lediglich als Drohung eingesetzt, nicht als tödliche Waffe. Dass er ihn nicht nach der Lage der Situation gefragt hatte, war Jesse verständlich. Immerhin war er Jesse Blue, der Verräter, der zu erkennen gab, dass er sich an genau diesen Fakt wieder erinnerte. Wer glaubte ihm schon? Hätte er ihm selbst vor wenigen Monaten noch geglaubt? Bevor jenem schrecklichen Augenblick, der alles veränderte, der alles in Frage stellte? Nein. Er hätte es nicht getan und Saber wäre gut beraten gewesen, ihm ebenfalls zu misstrauen. Das Problem war nur, dass sie noch immer hier weg mussten. Ihr Leben hing davon ab! Denn egal wie stark Saber auch war, egal wie geübt im Umgang mit dem Schwert und anderen Waffen, gegen ein halbes Duzend Outrider hatte er keine Chance - besonders nicht, wenn er gleichzeitig einen vollkommen erschöpften Johnny zu beschützen hatte.
Wir müssen hier weg!Dieser Gedanke beherrschte Jesses ganzes Wesen, aber er hatte keine Kraft mehr, die Worte aus sich heraus zu schreien. Statt dessen konzentrierte er sich und versuchte verzweifelt, seinen Körper dazu zu bringen, sich wenigstens auf die Knie aufzurichten. Um zu Saber zu kriechen und ihm endlich den Ernst seiner Lage zu erklären. Wenn der junge Schotte ihm bis jetzt nicht erschossen hatte, so würde er es auch jetzt nicht tun. Früher hätte Jesse Blue Sabers Verhalten als bekloppten Star Sheriff Stolz bezeichnet, heute wusste er es besser.
Wir müssen hier weg!Saber würde sicherlich erkennen, dass er nicht mehr in der Lage war, sie anzugreifen, schließlich hatte er keine Waffe mehr. Vielleicht würde er ihm zuhören und ihm wenigstens so weit vertrauen, dass er Johnny auf seinem Pferd von hier fort brachte.
Jesses Beine zitterten so heftig, dass er beinahe zurück in den Schlamm gefallen war, aber er konnte das Gleichgewicht gerade noch halten und hockte nun auf allen Vieren wie ein räudiger Köter in dem nassen Laub. Eisiger Regen prasselte noch immer auf ihn herab und es war wohl diese Kälte, die ihn als einziges davon abhielt, in schwarze Bewusstlosigkeit zu gleiten, die ihm jeden Moment auflauerte.
„Richard..." murmelte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber er konnte nicht beurteilen, ob Saber seinen wirklichen Namen nun gehört hatte oder nicht. Das Gefühl, das seinen Körper in Besitz nahm, verdrängte jeden weiteren Gedanken. Es war nichts weiter als ein flüchtiges Kribbeln, das jeder andere als Schwächeerscheinung abgetan hätte, aber nicht er. Nein, nicht Jesse Blue, der zwei Jahre lang mit den Outridern zusammen gelebt und dieses Gefühl womöglich mehr als tausend Mal erlebt hatte. Er hatte sich über die Zeit daran gewöhnt und erkannte es sofort. Das Gefühl, das Menschen immer überkam, wenn Outrider in ihrer unmittelbaren Nähe ein Portal zwischen der Phantomzone und der Welt der Menschen erschufen. Jesse drehte schwerfällig seinen Kopf in Richtung Raumschiff und sah, wie die Luft zu flackern begann. Im nächsten Moment war auch schon Vanquo aufgetaucht und grinste ihn übermütig an. Vermutlich verstand er die Situation ebenso falsch wie Saber vor wenigen Minuten. Jesse Blue, der einzige Mensch in den Reihen der Outrider, war von seiner eigenen Rasse, der er abgeschworen hatte, überwältigt worden. Vanquo, der beste Geschwaderführer Nemesis, würde ihn retten und den Erben zu Nemesis führen, so dass er in der Gunst ihres Anführers stand und gleichzeitig Jesse gezeigt hatte, wer von ihnen beiden der Cleverere war.
Um dieses Ziel zu erreichen, musste er lediglich den Fremden umbringen.
Saber umbringen.
Jesses reagierte instinktiv. Er hörte sich selbst etwas schreien, hörte seine eigene raue Stimme, die brach. Sein Körper schien nicht mehr ihm zu gehören, die Müdigkeit fiel plötzlich von ihm ab. Als Vanquo seine Waffe hob, sprang der ehemalige Kadett auf seine Beine, die er vor Kälte kaum mehr spürte. Für eine Sekunde glaubte er, Ungläubigkeit in dem Gesicht des Outriders zu sehen, aber dieser hatte seine Waffe bereits entsichert und schoss. Obwohl Jesse aus Erfahrung wusste, dass die Blaster der Outrider nur leise Geräusche von sich gaben, wenn sie denn abgefeuert wurden, so erschien ihm das Surren unheimlich laut in seinen Ohren, fast wie ein Knall.
Der Schmerz kehrte explosionsartig in seinen Körper zurück und er wurde nach hinten geschleudert. Einige Schritte konnten ihn seine Beine noch schwankend durch den Wald tragen, bevor sie ihren Dienst versagten und er auf seine Knie fiel.
Ein weiterer Schuss fiel und als er zurück zu Vanquo blickte, konnte er sehen, wie sich dieser auflöste und zurück in die Phantomzone geschickt wurde. Sehr gut. Dieses Mal würde er so rasch keine Energie mehr erhalten, um zurück zu kehren. Dafür würde er jetzt einen ausführlichen Bericht abgeben müssen, warum er zwei Mal hintereinander versagt hatte. Ob trotzdem noch andere Outrider folgten? Hatte er bereits weitere Befehle erteilt, die es zu stoppen nun zu spät war?
Jesse wusste es nicht. Aber er bezweifelte nicht, dass er nie mehr in die Phantomzone zurückkehren könnte. Er hatte sich zwischen den Geschwaderführer und dem Feind gestellt, sein Verrat war offensichtlich. Der ehemalige Kadett gab insgeheim zu, dass er froh darüber war. Er wollte nicht zurück zu Nemesis, zu den Outridern, zu diesen Hyänen, die nur ihr eigenes Wohl im Sinn hatten. Die Kinder umbrachten...
Jesse beobachtete, wie Saber seinen eigenen Blaster senkte und sich zu ihm umdrehte. Die eisblauen Augen, der einzige Beweis für die Verbindung, die zwischen ihnen bestand, blitzten nicht länger zornig, sondern musterten ihn besorgt.
„Jesse?" fragte der Star Sheriff und seine Stimme klang fern, weit weg in Jesses Ohren. Irgendwo schnappte jemand nach Luft, aber der ehemalige Kadett vermochte nicht, seinen Kopf zu drehen, um zu Johnny hinüber zu schauen. Der Schmerz in seinem Kopf erlaubte es nicht. „Wie fühlst du dich?"
Schwang da etwa Besorgnis in Sabers Blick? Besorgnis um ihn? Den Verräter? Nein. Unmöglich! Und trotzdem ging der junge Mann neben ihn in die Hocke und öffnete vorsichtig Jesses zerrissene Jacke. Jene Jacke, die April ihm gekauft hatte. Vor nicht einmal einer Woche. Vor einer halben Ewigkeit. In einem anderen Leben.
„Scheiße!" fluchte der junge Schotte, was so gar nicht seine Art war. Jesse hatte ihn früher für arrogant gehalten, jetzt wusste er einfach, dass es Sabers Charakter und seine Erziehung waren, die ihn immer höflich und distanziert erschienen ließen. Gegenüber Fremden und flüchtig Bekannten. Freunden gegenüber verhielt sich der junge Schotte ganz anders. Und für eine kleine Weile hatte Jesse dazu gehört.
„Was?" brachte er heraus, als Saber einen Kommunikator hervor holte und diesen Johnny zu warf. Bestimmend wies er den Jungen an, sich sofort mit dem der eingeblendeten Nummer in Verbindung zu setzen und ein Fluggerät anzufordern. Jesse verwunderte nicht so sehr die Tatsache, dass es sich dabei um den Privatarzt der Lancelots handelte, schließlich hatte die Familie genug Geld, um eine eigene Klinik zu unterhalten. Den ehemaligen Kadetten verwunderte vielmehr die Tatsache, dass Saber nach einem Doktor verlangte. War Johnny etwa doch verletzt worden? Aber dieser rief doch gerade nach dem Arzt. Das ergab doch überhaupt keine Sinn! Und warum holte Saber gerade Verbandszeug aus seiner Jacke? Wollte er Johnnys Blessuren verbinden? Oder etwa...
Jesse senkte seinen Blick und betrachtete stumm das Blut, das über seinen Oberkörper rann. Ein tiefes Loch klaffte in seiner Brust. Einer viel zu weißen Brust, denn er hatte die letzten zwei Jahre seines Lebens in der Phantomzone verbracht, in eisiger Kälte und erstickender Hitze, aber ohne Sonne. Kein Wunder, dass er sich sofort in den Highlands einen Sonnenbrand zugezogen hatte. Selbst im Herbst.
Noch immer regnete es und das Wasser vermischte sich mit dem Blut und dem Dreck. Jesse beobachtete fasziniert, wie die Flüssigkeit synchron mit seinem Herzschlag aus der Wunde pulsierte und frei über seinen Bauch floss. So sehr schmerzte es gar nicht. Zumindest nicht so hartnäckig wie sein Kopf.
Jesse hob seine rechte Hand und berührte die Wunde.
„Lass das! Da kommt sonst Dreck rein!" fuhr Saber ihn an und schlug seine Hand beiseite, um die Bandagen vorsichtig um seinen Oberkörper zu wickeln. Aber Jesse wusste, dass es bereits zu spät war. Er hatte im Schlamm gebadet und außerdem verlor er zu viel Blut auf einmal. Der Arzt würde zu spät kommen. Aber das machte nichts. Nein. Dann würden die Kopfschmerzen aufhören, dann würde es keine weiteren Erinnerungen mehr geben. Keine weiteren Sünden, die darin bestanden, dass er schweigend daneben stand und tatenlos zusah. Anstelle dagegen anzugehen.
Und alles nur wegen seines falschen Stolzes. Wegen des Neids eines verlorenen Teenagers, der nicht erkannte, dass es dem Objekt seines Hasses genauso ergangen war...
„Wenigstens ist es dieses Mal mein Blut..." flüsterte er und lächelte befreit, als er das Blut an seinen Fingern ansah, die rasch vom Regen reingewaschen wurden. „Mein Blut..."
„Tief durchatmen, Jesse!" herrschte ihn Saber an, als er kraftlos vornüber kippte. Sein Körper kribbelte und er wusste, dass weitere Outrider unterwegs waren. Er hoffte, dass es Saber und Johnny zu dem Pferd schafften und sich in Sicherheit bringen konnten. „Jesse!"
Warme Arme hielten ihn fest und er war dankbar dafür. So musste er wenigstens nicht in der Kälte sterben, in der er die letzten zwei Jahre gelebt hatte.
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„... und wegen der Outrider wollen wir auf Nummer sicher gehen und..." Fireball unterbrach seine Erklärungen dem besorgten, aber dennoch neugierigen Alex gegenüber, als er eine Bewegung nahe ihres Zeltlagers erkannte. Erleichtert stellte er fest, dass es sich dabei um April handelte, die ihre Waffe noch immer in ihrer rechten Hand hielt, die linke aber weit geöffnet von sich streckte, ein Zeichen, dass die Gefahr gebannt war oder zumindest sie momentan nicht unmittelbar bedrohte.
„Was ist geschehen? Wo sind die anderen?" fragte er alarmiert, als er ihr in müdes Gesicht blickte. So sah die junge Franzosin nur aus, wenn sie von einem Kampf gegen die Outrider zurück kam - und so einiges schief gelaufen war. April seufzte leise und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie glaubte zwar nicht, dass es in den Highlands noch irgendwelche Outrider gab, es war immer klüger, auf Nummer sicher zu gehen.
„Johnny ist in Ordnung. Er wird zwar erst einmal ein heißes Bad bei dem Sauwetter nehmen müssen und hier und da wird er wohl ein paar blaue Flecke davon tragen, aber ihm geht's gut." Sagte sie mehr zu Alex gerichtet, der bei ihrem Erscheinen auf die Füße gesprungen war und sie mit offener Angst um seinen besten Freund angestarrt hatte. Der junge Erbe entspannte sich sichtlich, aber Fireball wusste, dass mehr hinter der Geschichte steckte.
„Was genau ist denn passiert?"
„Das werden dir vielleicht Saber und Johnny zu einem späteren Zeitpunkt erklären können, denn so richtig hab ich auch nicht alles verstanden. Es ging ja alles so schnell." Sie strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Automatisch sicherte sie ihre Waffe und legte sie auf den Wohnzimmertisch. Immer in Reichweite. Wie sie das in ihrer Ausbildung gelernt hatte.
„Ungefähr zwanzig Outrider sind aufgetaucht, aber wir waren in der Lage, sie zurück in ihre Phantomzone zu pusten. Danach habe ich die Aufgabe bekommen, ihr verdammtes Raumschiff zu zerstören, damit sie keinen Punkt mehr haben, den sie gezielt zum Auftauchen ansteuern können und bin hier her gekommen, um dir von Saber auszurichten, dass wir hier warten sollen, bis uns jemand abholt."
Fireball bezweifelte nicht, dass es sich bei dem Jemand um ein Mitglied der irdischen Star Sheriffs handelte. Während Yuma City nur eine Kommandozentrale verfügte, hatte man auf der Erde vier errichtet, eine davon stand in Schottland.
„Damit wäre dieser Urlaub also auch ins Wasser gefallen." Kommentierte Fireball wenig glücklich ihre Lage.
„Schaut so aus."
„Toller Geburtstag für Johnny."
„So wie er aussah, mit Sicherheit."
Eine Weile herrschte Schweigen in der Gartenhütte. Lediglich das Eichhörnchen in Alex' Armen gab leise Geräusche von sich und freute sich sichtlich, als ihm der junge Erbe abwesend ein Stück harten Brotes reichte.
„War Jesse Blue bei Johnny?" fragte Fireball schließlich und wunderte sich insgeheim, warum er die Antwort nicht wirklich hören wollte. Wenn sie positiv ausfiel, wenn der ehemalige Kadett Johnny unnötig in Gefahr gebracht hätte, dann würde das beweisen, dass sich Saber, nein, dass sie sich alle in dem jungen Mann geirrt hatten. Alle bis auf Colt.
„Ja. Aber ich kann nicht beurteilen, ob es seine Schuld war oder ob er da gemeinsam mit Johnny reingestolpert ist. Keine Ahnung." April fuhr sich über die müden Augen und zuckte ihre Schultern. „Falls er durchkommt, wird er uns vielleicht mehr verraten."
„Falls er durchkommt?" Diese Formulierung gefiel Fireball nun überhaupt nicht. „War er etwa in den Kampf involviert?" Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. „Colt hat ihn doch nicht niedergeschossen, oder doch?"
„Nein." April schüttelte vehement ihren Kopf. „Laut Saber haben die Outrider auf ihn geschossen. Vielleicht, weil er sie nicht erkannt hat. Ich weiß es leider nicht, Shinji. Colt und ich kamen zu dem Platz, an den uns Saber beordert hatte und fanden ihn und Johnny umzingelt von Outridern vor. Wir haben sie gemeinsam besiegt und als der letzte von ihnen in die Phantomzone flüchtete, hab ich erst gesehen, dass Jesse reglos auf dem Boden lag. Da war so viel Blut..." April schauderte und lehnte ihren Kopf an die Lehne des Stuhles. Müde schloss sie ihre brennenden Augen. „Wenig später war der Arzt da und hat Jesse und Johnny ins Krankenhaus mitgenommen. Saber und Colt sind ihnen gefolgt."
Fireball erwiderte etwas auf Japanisch, das sich verdächtig nach einem Fluch anhörte. Sie konnte ihm nur aus vollstem Herzen zustimmen, auch wenn sie ihn nicht verstanden hatte. Dieser Tag, Johnnys Geburtstag, hatten sie eigentlich in einer großen Feier begehen wollen. Doch er hatte in einer noch größeren Katastrophe geendet.
Nun blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten.
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„Es ist fast Mitternacht, wir sollten auch gehen."
Die Stimme drang nur langsam durch die Dunkelheit, die ihn umhüllte, seine Sinne benebelte. Müde fühlte er sich. So unendlich müde. Dennoch konnte er nicht zurück in die Bewusstlosigkeit. Etwas hielt ihn zurück. Waren es die Schmerzen, die durch seinen bewegungsunfähigen Körper jagten? Oder das nervtötende Piepen zu seiner Rechten? Oder die sanfte Stimme zu seiner Linken? Er wusste es nicht, aber er wusste, dass er nicht tot war. Oder aber die Hölle hatte einen sehr seltsamen Sinn von Humor, denn der Untergrund, auf dem er lag, war angenehm weich. Ihn fror nicht und er fühlte sich seltsam beschützt, so als würde ihm hier nichts geschehen. Als wäre er sicher. Vor was, das konnte er in seinen vernebelten Gedanken nicht so recht zuordnen, aber das Wissen um diesen Frieden - selbst wenn es nur ein Waffenstillstand war - beruhigte ihn ungemein.
„Ich bleibe hier." Diese Stimme war ebenso sanft wie die erste, aber tiefer. Vermutlich gehörte sie zu einem Mann. Er kannte sie, beide, konnte sie im Moment jedoch nicht zuordnen. Er wusste nur instinktiv, dass von ihnen keine Gefahr ausging.
„Die Ärzte haben gesagt, dass er überleben wird. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er das Bewusstsein wieder erlangt."
„Ich bleibe hier."
„Du solltest dir aber eine Pause gönnen. Du bist jetzt seit seiner Einlieferung ununterbrochen auf den Beinen. Selbst Johnny hat sich dazu überreden lassen, in das Hotel zu gehen und sich ein wenig Schlaf zu gönnen."
„Ich bleibe hier." Das Vokabular der tiefen Stimme schien sehr begrenzt zu sein, während die andere, die weibliche, leise seufzte.
„Ich habe vorhin meinen Vater angerufen und ihn über alles in Kenntnis gesetzt. Er hat kurzerhand unseren Urlaub als Mission umdeklariert und sollte kein größeres Unglück nahe des Grenzgebietes geschehen, reicht es, wenn wir Ende der Woche erst wieder in Yuma City auftauchen." Ein Stuhl wurde über harten Boden geschoben und er wäre zusammen gezuckt, wenn er sein Körper mitgespielt hätte, als er das unfreiwillige Quietschen hörte. „Alex' Vater hat einen Bodyguard geschickt."
„Francis?"
„Genau."
„War er sehr aufgebracht?"
„Nein, nicht einmal besorgt. Ich meine, sein Sohn hat sich kurzfristig in großer Gefahr befunden und alles, was er zu sagen hat, ist gut ! Wenn er nicht der reichste Mann Yuma Citys wäre, würde ich ihm mal so ordentlich die Leviten lesen! Alex ist schließlich sein Sohn!"
„Sag mir Bescheid, wenn du die Adoptionspapiere unterschreibst, April, ich würde auch die Patenschaft übernehmen." Die männliche Stimme lachte leise und die noch eben angespannte Atmosphäre löste sich in Wärme und Vertrauen auf.
„Colt hat Johnnys Schule informiert. Es reicht, wenn die beiden Rabauken nächste Woche erst wieder auftauchen. Claire wollte sowieso noch einmal nach den Schnittwunden sehen."
„Erstaunlich, dass sie so rasch hergeflogen ist."
„Für ihre Lieblingspatienten tut sie alles." Etwas knisterte, es klang wie eine Tüte, aber er konnte das Geräusch nicht wirklich zuordnen. „Oder aber für gute Freunde."
„Dafür schulden wir ihr einen Monat lang Abendessen."
„Sie wird das Angebot sicherlich gerne annehmen." Die weibliche Stimme lachte nun ebenfalls leise und erneut erklang das Knistern. „Apropos Essen, ich hab dir was mitgebracht. Sie nannten es schottisches Frühstück..." Zweifel mischten sich in die helle Stimme und das Knistern erstarb langsam. „Aber irgendwie wollte mir der Shop sieben Uhr morgens nichts anderes verkaufen."
„Das ist in Ordnung. Danke, April."
„Du isst es doch auch, oder?"
„Natürlich."
„Ist das eigentlich genießbar?"
„Natürlich."
„Also bei dir im Schloss gab es so was nie."
„Bei meinem Vater gab es vieles nicht." Erneut knisterte es und er war sich sicher, dass das schottische Frühstück, aus was immer es bestand, zurück in den Beutel getan und zur Seite gelegt wurde. „Er hat letzte Nacht übrigens angerufen. Persönlich vorbei kommen schien ihm zu anstrengend zu sein."
„Was hat er gesagt?"
„Keine Ahnung, ich hab aufgelegt."
Ein angenehmes Schweigen entstand, das lediglich von dem regelmäßigen Piepen zu seiner Rechten unterbrochen wurde. Jemand korrigierte die Decke, unter der er lag und egal, was er oder sie tat, die Schmerzen in seinem Körper ließen etwas nach.
„Geh ins Hotel, April. Du schläfst doch schon im Stehen ein." Ein Stuhl wurde fortgeschoben und jemand erhob sich langsam.
„Und du bist nicht müde?"
„Ich komme nach, wenn er aufgewacht ist."
„Versprochen?"
„Versprochen."
„Na gut." Schritte. Sie führten weg von ihm. Vermutlich zu einer Tür, die er nicht sehen konnte, da er nicht genügend Kraft besaß, um seine schweren Lider zu heben. „Er hat sich wirklich vor dich gestellt?" Wenn er seine Augen hätte öffnen können, so hätte er sicherlich eine Frau gesehen, die im Türrahmen stehen blieb und zurück blickte. „Er hat versucht, dich zu beschützen?"
„Ja. So hat's zumindest ausgesehen."
Die weibliche Person holte tief Luft.
„Bis er aufwacht. Johnny wird mich sowieso lynchen, weil ihn Colt ins Hotel geschleift hat und es mir nicht gelungen ist, dich mitzubringen."
„Bis er aufwacht. Versprochen."
Bis wer aufwachte? Bis er aufwachte? Aber er war doch wach! Oder etwa nicht? Befand er sich in einem Zwischenstadium zwischen Schlafen und Wachen? Schließlich konnte er nicht einmal seine Augen öffnen, geschweige denn seinen Körper bewegen. Das verstand man doch normalerweise unter wachem Zustand, oder?
Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal, als die Schmerzen weiterhin abnahmen. Bald erreichten sie ein angenehmes Level und die Dunkelheit um ihn herum wurde wieder dichter. Das regelmäßige Piepen rückte in den Hintergrund und verstummte dann völlig. Er hielt sich nicht länger mit den verwirrenden Gedanken auf, also er los und sich in einem weiteren Traum treiben ließ.
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Eine weiße Decke begrüßte ihn, als er seine Augen endlich öffnen konnte. Wie oft er in die Ebene des Bewusstseins gedriftet war und wie oft wieder hinaus, konnte er nicht beurteilen. Die Schmerzen hatten zu- und wieder abgenommen. Im Moment fühlte er sich seltsam ruhig und er ahnte, dass er sehr starke Medizin erhalten hatte, sonst würde er sicherlich vor Pein aufschreiben. Zumindest verriet ihm das das ungenehme Pochen in seinem Kopf und die Enge um seine Brust, die ihm das Atmen schwer machte. Schwer, aber nicht unmöglich.
Jesse Blue blinzelte, aber die Decke über ihn veränderte sich nicht. Das bedeutete, dass er sich nicht zurück in der Phantomzone befand. Das war gut. Sehr gut! Denn er wollte nie wieder aufwachen und dreckiges Metall anstarren. Die lauten Stimmen der Outrider hören. Die eisige Kälte spüren, wenn er seine Schlafstatt verließ. Outrider liebten die Kälte, ihre Maschinen die Hitze. Es war manchmal unerträglich für ihn als Mensch gewesen.
Langsam drehte Jesse seinen Kopf nach rechts und betrachtete für eine Weile schweigend die leise piependen Apparaturen, die anzeigten, dass noch Leben in ihm steckte. Durch einen durchsichtigen Schlauch tropfte Flüssigkeit in seinen rechten Arm und er wusste, dass er dieses Mal noch einmal davongekommen war. Ja, er hatte damit gerechnet zu sterben. Da war schließlich so viel Blut gewesen. So verdammt viel Blut... Die Erinnerungen kamen nur stückweise zurück und mit ihnen die Erkenntnis, dass ihm das Atmen deshalb so schwer fiel, weil man ihn höchstwahrscheinlich operiert und eng einbandagiert hatte. Also befand er sich in einem menschlichen Krankenhaus.
Natürlich! Er hätte sich an die Stirn geschlagen, hätte er seine Arme zu heben vermocht. Outrider kannten keine medizinischen Einrichtungen und hätten ihn vermutlich zurück gelassen, um in dem Schlamm zu verrecken.
Aber er war nicht verreckt. Weil es nicht die Outrider gewesen waren, die sich nach seiner Verwundung um ihn kümmerten, sondern seine eigene Rasse. Menschen. Sein ärgster Widersacher, um genau zu sein. Richard Lancelot.
Jesse drehte langsam, ganz langsam, seinen Kopf nach links und wusste nicht recht, ob er lachen oder weinen sollte. Plötzlich erinnerte er sich an eines dieser kryptischen Gespräche, das er mit dem jungen Schotten während eines Kampfes in einem Outriderschiff geführt hatte. Jesse hatte ihm vorgeworfen, dass seine Teamkollegen zu spät kamen, um ihn zu retten und Richard hatte nur geantwortet, dass er ihnen vertraute und wusste, dass sie an seinem Krankenbett wachen würden, wenn sie ihn vor Schlimmeren nicht hatten bewahren können. Der ehemalige Kadett hatte das Geschwätz des jungen Adeligen für hochnäsige Eitelkeit abgetan. Damals hatte geglaubt, dass sich der junge Schotte nur hatte wichtig machen wollen. Jetzt aber erkannte er, dass Richard damals einfach von Freundschaft geredet hatte. Einer Freundschaft, die er ihm innerhalb der letzten Woche entgegen gebracht hatte, obwohl er ganz genau wusste, wen er da in seinem Haus beherbergte - selbst wenn Jesse Blue das selbst vergessen hatte.
Richard Lancelot hatte Jesse Blue immer ein Rätsel aufgegeben. Als er ihn das erste Mal sah, hatte er geglaubt, einem zweiten Grafen Lancelot zu begegnen. Er hielt ihn für eingebildet und verwöhnt. Alles, was Jesse jemals verschmäht gewesen war, besaß Richard: Ansehen, Geld, Macht und eine Familie. Jesse hatte ihm all das zerstören wollen, da er es selbst nicht haben konnte. Das Geld konnte er ihm schlecht streitig machen, aber er wollte April für sich gewinnen und sie ihm Richard fortnehmen, da er glaubte, dass die schöne junge Frau niemand anders sein konnte, als Richards Freundin.
Wenn Jesse gekonnt hätte, hätte er leise gelacht, aber seine Brust war ihm zu eng, er brauchte jeden Atemzug zum Leben. Wie falsch er gelegen hätte! Anstelle immer wieder zu planen, April zu entführen, hätte er sich wahrscheinlich besser Johnnys bemächtigt. Wobei ihm das zuwider gewesen wäre. April war ein ausgebildeter Star Sheriff, Johnny dagegen ein wehrloser Teenager. Viele Skrupel hatte Jesse nie besessen, aber niemals hätte er einen Unschuldigen in seinen Rachefeldzug hereingezogen. Zumindest hatte er das versucht, bis zu jenem Tag vor einigen Monaten. In dem Dorf. Damals...
Ja, Richard war immer ein Mysterium für ihn gewesen. Anstelle auf seine zornigen Attacken einzugehen, hatte er immer versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er auf der falschen Seite stand. Dass man den Outridern nicht vertrauen durfte. Mehr als einmal bot der junge Schotte ihm an, ihm zu helfen, zu den Menschen zurück zu kehren. Ja, selbst in den Highlands kümmerte er sich um ihn, nachdem Vanquo ihn angeschossen hatte, obwohl er jedes Recht gehabt hätte, ihn verbluten zu lassen.
Und nun hatte Richard sogar an seinem Krankenbett gewacht. So als sei er ein Freund. Der Freund, der er während der letzten Woche gewesen war. Kein Überläufer. Kein Verräter. Denn Jesse konnte nirgendwo Wachen sehen. Der junge Schotte war die einzige Person neben ihm in dem Krankenzimmer wo auch immer.
Genauso wie vor über einer Woche auch saß der junge Mann in einem extrem unbequem aussehenden Stuhl. Jesse wurde sich der Bedeutung ihrer Unterhaltung erst jetzt bewusst, da seine Vergangenheit nicht länger ein schwarzes Loch in seinem Gedächtnis darstellte. Richard hatte damals nicht das Kavallerieoberkommando gerufen und ihn verhaften lassen. Nein, er hatte sich mit den Ärzten unterhalten und für ihn... gelogen. Ja, anders konnte er es gar nicht nennen, wie sonst hätte er ihn ohne große Fragen aus dem Krankenhaus herausbekommen? Der junge Schotte hatte für ihn gelogen. Für einen Verräter, der nichts anderes als die kleinste Zelle im tiefsten Kerker verdient hatte. Statt dessen erhielt er jedoch ein warm eingerichtetes Zimmer in Richards Haus in Yuma City.
Nein, Jesse Blue würde Richard Lancelot niemals verstehen.
Denn ob er vor einer Woche das Gleiche für den jungen Mann getan hätte, wagte er zu bezweifeln.
Jesse blickte weiterhin auf den jungen Schotten, den irgendwann der Schlaf übermannt hatte. Die Sonne schien hell durch halb vorgezogene Vorhänge eines kleinen Fensters, aber der ehemalige Kadett konnte nicht beurteilen, um welchen Tag es sich handelte. War er einen Tag bewusstlos gewesen? Oder zwei? Hatte Richard während all dieser Zeit an seinem Bett gewacht?
Der junge Schotte hatte den unbequem aussehenden Stuhl näher an das Bett gerückt und seine Arme auf dem Rand von Jesses Matratze verschränkt. In diesen hatte er seinen Kopf gebettet und schien tief und fest zu schlafen. Entweder hatte er wirklich zwei Tage gewacht oder aber er war sich sicher, dass von Jesse keine Gefahr ausging.
Der ehemalige Kadett grinste gequält bei diesem Gedanken. Welche Gefahr sollte er schon darstellen? Es würde ihm nicht gelingen aufzustehen, geschweige denn zu laufen und jemandem anzugreifen. Dankbar sollte er für die schmerzstillende Medizin sein. Und bitte ruhig daliegen. Ja, so oder ähnlich würden es die Ärzte mit Sicherheit formulieren. Jesse hatte für seinen Geschmack zu viele dieser weisen Kittel innerhalb der letzten Tage gesehen, aber dieses Mal würde er ihren Klauen nicht so schnell entkommen. Dieses Mal war er zu schwer verwundet. Und wenn er ehrlich sein sollte, so wollte er dieses Krankenhaus auch gar nicht so schnell wie möglich verlassen, denn dann wüsste er nicht, wo er hinsollte. Selbst wenn Richard ihn nicht verhaften ließ, was er für utopisch hielt, so konnte er schlecht zurück in das gemütlich eingerichtete Zimmer gehen und warten, bis April ihn zum Abendbrot rief. Genauso wenig würde er aber zu den Outridern zurückkehren.
Was blieb ihm also übrig?
Der Schmerz in Jesses Brust nahm wieder zu und seine Kehle fühlte sich so kratzig an, er hätte nichts gegen ein Glas Wasser. Ja, ein Glas kühlen Wassers und eine kräftige Schmerztablette kämen ihn gerade gelegen.
Sollte er Richard wecken? Hatte er sich jemals Gedanken um andere gemacht? Nein. Warum dann jetzt? Weil der junge Schotte so friedlich aussah, wenn er schlief? So ganz anders als sein verbitterter Vater? Ihr verbitterter Vater...
Erneut fragte sich Jesse, wie Richards Mutter ausgesehen hatte. Denn Jesse wusste nun, dass Vater und Sohn Welten trennte. Entweder glich Richard vom Charakter und Aussehen seiner Mutter oder man hatte ihn in der Wiege vertauscht.
Ob Richards Mutter genauso wie seine Mutter gewesen war? Gütig? Liebevoll? Umsichtig? Streng, aber gerecht? Ob er sie genauso vermisste? Waren dies Fragen, die er dem jungen Schotten jemals stellen durfte?
Jesse wusste es nicht, aber er wusste, dass er bald ein Schmerzmittel bräuchte, oder er bekäme wirkliche Schwierigkeiten mit dem Atmen. Es wurde immer schwerer und er wollte nicht röchelnd um Hilfe bitten. Das lag nicht nur unter seiner Würde, sondern wäre auch ziemlich umständlich. Also hob er vorsichtig sein linke Hand, in der eine Kanüle steckte, an die aber kein Schlauch angeschlossen war, und legte sie auf Richards Kopf, weil er nicht wusste, was er anderes hätte tun können. Seiner Kehle vertraute er nicht, dass sie eine hörbare Stimme hervor brachte und Richards Schulter erschien ihm zu weit entfernt. Außerdem hätte er sowieso keine Kraft gehabt, um sie zu schütteln.
Vielleicht war es Instinkt oder die Wachsamkeit eines Star Sheriffs, auf jeden Fall schreckte der junge Schotte hoch. Jesses Hand fiel zurück auf die Matratze und er schnappte nach Luft, als das Atmen immer schwieriger wurde.
„Keine Panik." Obwohl der junge Schotte noch sehr verschlafen wirkte, schien er die Situation sofort zu verstehen. Er schob vorsichtig eine Maske über Jesses Mund und dieser konnte sofort freier atmen. Frische Luft strömte in seine brennende Lunge und langsam beruhigte sich sein Puls wieder.
„Dir ist nur die Sauerstoffmaske runtergerutscht." Richards Stimme war angenehm leise, fast beruhigend. So ganz anders als vor einer Woche, als er nach dem Zusammenprall mit dem Konvoi aufgewacht war. Lag es daran, dass er dieses Mal schwerer verletzt war? Oder bildete er sich das alles nur ein, weil er zu schwach war, um auf Feinheiten zu hören?
„Sieht nicht... so gut... aus... was?" brachte er nach mehreren Anläufen hervor und erschrak, wie kratzig sich seine eigene Stimme anhörte. Wie fremd.
„Im Moment ist es etwas unangenehm, aber Claire ist sich sicher, dass du wieder ganz gesund wirst. Du hattest großes Glück gehabt, Jesse, die Kugel hat deine Lunge nur knapp verfehlt." Schwang da echte Sorge in Richards Stimme?
„... Glück...?"
„Ja. Claire hat dich bereits zum zweiten Mal zum Wunder erklärt. Aber keine Bange, trotz ihrer Verrücktheiten ist sie die kompetenteste Ärztin, die ich kenne. Sie hat mich selbst schon unzählige Male wieder zusammen geflickt."
Einige Male davon, weil Jesse den jungen Schotten angeschossen hatte. Verbittert dachte der ehemalige Kadett daran, während er ein müdes Lächeln ob des Scherzes versuchte. Es mochte ihm nicht recht gelingen.
„... und Johnny...?" Obwohl sich Jesse sicher war, dass Richard nicht hier sitzen würde, sollte dem Teenager etwas zugestoßen sein, wollte er es von dem Schotten dennoch persönlich hören, dass er dieses Mal nicht versagt hatte. Dass er nicht hilflos daneben gestanden und zugesehen hatte, wie ein weiterer unbeteiligter Mensch starb.
„Ihm geht's gut. Bis auf ein paar Schürfwunden ist ihm nichts geschehen." Richard lehnte sich kurz über das Bett und überprüfte den Schlauch mit einem fachmännischen Blick, der verriet, dass er diese Krankenwache schon zu oft in seinem Leben gehalten hatte. „Er hat mir erzählt, was im Wald vorgefallen ist, auch wenn er nicht alles davon versteht." Der junge Mann setzte sich zurück in seinen Stuhl und fuhr sich über die noch müden Augen. Lange schien er noch nicht geschlafen zu haben.
„Dass du Alex und ihn vom Konvoi fortgezerrt hast, begreif ich langsam, Jesse. Vanquo wollte Alex haben, demnach hattet ihr irgendeinen Auftrag, den Erben zu entführen. Tot hätte er Nemesis natürlich nichts gebracht, also hast du dich davor geworfen, um eure Mission nicht zu vereiteln."
Nein, er hatte sich davor geworfen, um die beiden zu retten. Die Mission hatte er sowieso vereiteln wollen, wenn nicht unbedingt so schmerzhaft. Aber das konnte Jesse Richard nicht sagen, dafür fehlte ihm einfach die Kraft.
„Aber wieso hast du dich dann Vanquo in den Weg gestellt? Das ist mir etwas unlogisch. Du hattest dein Gedächtnis wieder und mit einer kurzen Erklärung hätte dich Nemesis schon wieder aufgenommen. Warum hast du dann die Kugel abgefasst, die für uns bestimmt gewesen war? Es kann dir doch vollkommen egal sein, ob Johnny oder ich sterben." Richards Stimme war noch immer so angenehm ruhig, beinahe tröstend. Auch wenn der Inhalt seiner Worte ernst war, so bedachte er noch immer Jesses Verletzungen und den Umstand, dass sich der ehemalige Kadett hundeelend fühlte.
„... Johnny... unschuldig..." Jesse musste husten und stöhnte leise auf, als der Schmerz in seiner Brust explodierte. „Ich... bin ein Arschloch..." brachte er hervor und presste automatisch seine Hand auf seinen Oberkörper, was die Schmerzen natürlich nicht linderte. Tränen brannten in seinen Augen, als er zu den jungen Schotten über sich sah, der erneut den Schlauch und die anderen Apparaturen überprüfte. „... aber ich bin kein... kein Mörder..."
Richard verharrte mitten in seiner Bewegung und blickte zu der schwachen Gestalt im Bett. Er hatte mit jeder Antwort von Keine Ahnung. bis Verpiss dich! gerechnet, jedoch nicht mit den Worten, die Jesse soeben mehr röchelte als sagte.
„Genug geredet. Ich hole jetzt den Chefarzt und Claire." Der junge Schotte dachte nicht weiter nach, als er seine rechte Hand hob und die Tränen des Schmerzes und der Erschöpfung von Jesses eingefallenem Gesicht wischte. „Du bleibst hier ruhig liegen und atmest weiter."
„... klingt... gut..."
Jesse schloss erschöpft seine Augen, als Richard den Raum verlassen hatte. Ja, er war am Leben. Und was immer die Zukunft bringen mochte, es schien, als müsste er sich ihr nicht vollkommen allein stellen.
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Im Vergleich zu der Gartenhütte und ihrem Haus in Yuma City war das Appartement in dem kleinen Hotel alles andere als geräumig. Aber es besaß mehrere Schlafzimmer, in denen kaum mehr Platz war als für das typisch breite englische Bett, und ein Wohnzimmer irgendwo am anderen Ende. Saber würde sich mit den Räumlichkeiten später vertraut machen und war froh, den anderen nicht über den Weg zu laufen. Natürlich wollte er mit Fireball und besonders Colt reden, aber das musste Zeit haben, bis er seinem Körper wenigstens ein paar Stunden Schlaf gegönnt hatte. Er konnte ihre Stimmen hinter einer Tür hören. Ihr fröhliches Lachen. Vermutlich spielten sie gerade eines von Fireballs komplizierten Spielen, das nur er wirklich verstand. Oder aber Colt hatte sie alle zu einer Runde Skat überredet und führte soeben seine herausragenden Fähigkeiten vor - nur, um am Ende dann doch wieder von April um Haaresbreite geschlagen zu werden. Die junge Französin konnte einfach besser bluffen als er, egal, wie viel Mühe er sich auch gab.
Saber gähnte unterdrückt und suchte sich ein Schlafzimmer aus, das noch relativ unbenutzt wirkte. Es lag keine Waffe auf dem Nachttisch und auch sonst war der Fußboden frei von Kleidung oder anderen Gegenständen. Die Tür glitt geräuschlos hinter dem jungen Schotten ins Schloss und er zog lediglich seine Schuhe und seine Jacke aus, bevor er unter die warme Decke schlüpfte. Geduscht hatte er sich vor etwa einem Tag im Krankenhaus, als Claire erklärte, dass Jesse überm Berg sei. Eigentlich sehnte sich ja sein Körper erneut nach heißem Wasser, aber noch mehr sehnte er sich nach Schlaf, also setzte er den Besuch des Badezimmers für später auf seine Zutun-Liste.
Natürlich hatte er April versprochen, sofort nach Jesses Aufwachen ins Hotel zu kommen, aber dann hatte er doch noch die Untersuchung der Ärzte abgewartet und sich lange mit Claire unterhalten. Erst als Jesse aufgrund seiner Medikamente wieder einschlief, hatte er sich an sein Versprechen erinnert und sich ein Taxi gerufen. Er hatte sich nicht mehr in der Lage gefühlt, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen und konnte sich außerdem nicht mehr an Aprils Wegbeschreibung erinnern.
Er vermochte nicht zu beurteilen, ob er bereits geschlafen hatte oder nicht, aber er wurde allein durch die Anwesenheit einer Person aus seinen Träumen gerissen. Egal, wie leise sich derjenige auch verhielt, Saber bemerkte es immer und konnte nicht eher wieder einschlafen, bis er nicht wusste, wer bei ihm war.
Müde öffnete seine Augen und erkannte im Dämmerlicht Johnny, der am Bettrand saß und ihn anblickte.
„Entschuldige. Ich hab' dich nicht wecken wollen."
„Nicht weiter schlimm." Flüsterte Saber schlaftrunken und lüftete leicht seine Decke. „Komm her, Kleiner."
Johnny protestierte dieses Mal nicht, dass er ihn nicht klein nennen sollte, sondern schlüpfte neben ihn in das warme Bett, kuschelte sich an den jungen Schotten, der bereits wieder seine Augen geschlossen und einen Arm müde um Johnnys Hüften gelegt hatte.
„Colt und Fireball spielen Skat?" fragte der Anführer des Ramrodteams müde.
„Ja, und April gewinnt jedes Mal." Johnny lehnte seinen Kopf gegen Sabers Schulter und lauschte dem gleichmäßigen Herzschlag, so wie er das in vielen Nächten getan hatte, seitdem Saber ihn aus Texas geholt hatte.
„Wie geht es Jesse?"
„Besser. Claire sagte, dass er es überleben wird."
Eine Weile herrschte Schweigen und Saber wäre beinahe wieder eingeschlafen, als er die leise Stimme Johnnys kaum hörbar vernahm.
„Warum ist Jesse dir so wichtig? Ich mein... wieso..." Der Junge suchte hörbar nach Worten und Saber wusste auch ohne seine schweren Augen zu öffnen, dass Johnny errötete. Leicht drückte er den Teenager und gab ihn einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Für mich gibt's niemanden außer dir." Liebevoll wuschelte er durch sicherlich ohnehin schon wirre Haare. „Jesse gehört zu meiner Familie. Ich erklär's dir näher, wenn ich ein wenig geschlafen habe, okay?"
„Okay."
Erneutes Schweigen, das Saber zum wiederholten Male an den Rande des erholsamen Schlafes brachte.
„Endlich eine positive Nachricht nach dem Schock mit deinem Vater." Flüsterte Johnny und Saber lächelte verschlafen, bevor ihm endlich der Eintritt ins Traumland gestattet war.
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„Warum muss immer mein Magen darunter leiden? Gibt es denn nirgendwo auf der Welt so etwas wie einen gemeinsamen kulturellen Geschmack, was das Essen angeht?" Colt schaute traurig in das große Behältnis, das April in die Mitte des runden Tisches gestellt hatte. Es war mittlerweile spät am Abend und sie alle hatten Hunger und sich in der Küche versammelt. Alle außer Johnny, der Alex im Nachbarappartement besuchte, das sein Bodyguard kurzerhand angemietet hatte. Solange der junge Texaner noch in den Highlands verweilte, würde der junge Erbe auch nicht zurückkehren. Der starke Mann mittleren Alters hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es nichts brachte, sich mit Alex zu streiten, der Teenager gewann jedes Mal.
April war das auch ganz recht so, denn dem Blick ihres besten Freundes nach zu urteilen, wollte er etwas ernstes mit ihnen besprechen. Etwas, das sie als Star Sheriffs betraf. In Johnnys Gegenwart konnte das Saber meist nicht - oder aber er hatte dem jungen Texaner bereits alles erzählt und deshalb ging Johnny so bereitwillig nach nebenan, um Alex und dem Eichhörnchen Gesellschaft zu leisten.
„Dir kann man es aber auch nie recht machen!" entrüstete sich Fireball und füllte sich seinen Teller mit einem seltsamen Eintopf, den er noch nie gegessen hatte. Aber sein Magen knurrte seit einer geraumen Weile und es war ihm egal, was er aß, Hauptsache, es war genießbar, warm und sprang ihm nicht flüchtend vom Teller.
„Das ist doch kein Essen!" jammerte Colt munter weiter und betrachtete das Häufchen Elend auf seinem Löffel entsetzt.
„Es gibt auch andere Mahlzeiten als Rindersteak, Kuhhirte!"
„Das hier ist keine Mahlzeit, Matchbox, das solltest selbst du erkennen."
„Dann lass es eben bleiben und lass mich in Ruhe essen!" Fireball steckte sich demonstrativ einen besonders gefüllten Löffel in den Mund und hustete, als er sich prompt verschluckte. April verdrehte nur ihre Augen, als Colt hämisch grinste, und klopfte dem jungen Japaner auf den Rücken. Dann reichte sie ihm ein Glas Wasser und widmete sich selbst dem Essen zu. Natürlich war es keine Haut Cotûre, aber sie befanden sich in Schottland und sie akzeptierte, was immer ihr vorgesetzt wurde. Wenn Saber es für gut befand, konnte es nicht vergiftet sein, oder?
Skeptisch blickte sie auf ihren eigenen Teller und probierte eines von den undefinierbaren Stücken, die in der Soße schwammen. Es sah fürchterlich aus, schmeckte aber recht angenehm. So wie andere Mahlzeiten auf der Insel auch.
Eine Weile aßen sie in gefräßiger Stille, wie April das Schweigen zu Beginn eines jeden Essens nannte, die lediglich von Colts undefinierbarem Brummen sporadisch unterbrochen wurde, wenn er ein neues Fleischstück aus der Soße zog und für ungenießbar erklärte.
„Ich will mit euch über Jesse Blue reden." Verkündete Saber, als er glaubte, die Aufmerksamkeit der anderen von ihrem Irish Stew auf sich lenken zu können. Sein Abendbrot selbst war unangetastet.
„Obwohl er nicht länger unter Amnesie leidet, willst du ihn trotzdem nicht dem Kavallerieoberkommando übergeben." Schlussfolgerte Fireball und schenkte sich ein weiteres Glas Wasser aus.
„Korrekt."
„Wieso? Jesse erinnert sich wieder an alles, also weiß er auch ganz genau, warum er im Knast landet!" brauste Colt wie erwartet auf und schob sich mit einem Menno seinen Cowboyhut tief ins Gesicht, als Fireball und April ihn warnend anstarrten. Sie wollten sich in Ruhe mit Saber über das Problem unterhalten.
„Er hat sich verändert."
„Und Schweine können fliegen!" grummelte der Texaner nun etwas leiser, aber nicht weniger entrüstet.
„Jesse hat sich am Samstag vor Johnny und mich gestellt und die Kugel abgefangen, die für uns bestimmt gewesen war. Ohne ihn wäre jetzt mit Sicherheit einer von uns beiden tot." Entgegnete Saber ruhig, obwohl sich April sicher war, dass es in seinem Inneren stürmischer was als das seine gefasste Miene verriet.
„Ein Anfall von Wahnsinn?"
„Oder ein Anfall von Reue?"
Daraufhin sagte Colt gar nichts mehr, sondern stopfte sich den Löffel wütend in den Mund, nur um zu erkennen, dass sein Abendbrot noch immer ekelig schmeckte.
„Glaubst du wirklich, dass er sich verändert hat?" Fireball war ebenfalls skeptisch, aber kompromissbereiter als der Cowboy. Vermutlich, weil er Sabers wahre Beweggründe ahnte.
„Eine andere Erklärung finde ich für die Vorkommnisse von Johnnys Geburtstag nicht." Saber holte unbewusst tief Luft und legte den Löffel beiseite, den er bis jetzt noch in seiner rechten Hand gehalten, aber nichts gegessen hatte.
„Ich will Jesse eine zweite Chance geben."
„Indem du ihn wieder in die Gesellschaft der Menschen einführst?" meldete sich dieses Mal April zu Wort.
„Ja. Seine Akte hab ich bereits manipuliert. In Yuma City wird ihn niemand mehr als Verbrecher ansehen. Keiner weiß von seinen Taten außer uns. Dem Oberkommando eine hübsche Geschichte von wegen Gefangenschaft aufzutischen, um sein Verschwinden vor zwei Jahren zu erklären, ist auch kein Problem, die glauben sowieso alles, wenn es nur schön bunt verpackt ist."
„Heißt das, du willst einen Schwerverbrecher einfach so frei lassen?" begehrte nun Colt wieder auf und ballte seine Fäuste, als Fireball ihn erneut warnend anblickte.
„Ich will ihm wieder einen Platz im Leben geben. Aber das schafft er nicht allein, also werde ich ihm helfen."
Daraufhin herrschte Ruhe. April nickte, während Fireball nachdenklich seine Stirn runzelte. Colts Stuhl fiel krachend zu Boden, als dieser aufsprang und mit seinen Fäusten auf den Tisch schlug.
„Das kannst du vergessen! Der Typ betritt nicht noch einmal unser Zuhause! Den lass ich auf keine zwei Meter mehr an Johnny ran - und du solltest Verstand genug besitzen, um meinen kleinen Bruder nie mehr in solche Gefahr zu bringen!"
„Colt..."
„Lass mich ausreden, Matchbox! Es kann doch nicht abgehen, dass der Typ, gegen den wir die letzten Jahre gekämpft haben, auf einmal bei uns zum Abendessen eingeladen wird! Wer weiß, was der anstellt, wenn wir ihm das erste Mal unbewaffnet begegnen, weil wir nächsten Sommer vielleicht mit ihm zusammen ins Schwimmbad gehen!"
Fireball seufzte leise, aber ihm war anzusehen, dass ihm diese Vorstellung auch Unbehagen bereitete.
„Jesse hat Fehler gemacht, aber es waren teilweise nicht nur die seinen. Es waren..."
„Warum unterbrechen mich hier ständig alle? Das ist doch kein vernünftiges Gespräch, wenn ich meine Meinung nicht kundtun kann!" Colt blickte in die Runde und schüttelte ungläubig seinen Kopf. „Natürlich! Meine Meinung interessiert nicht! Ihr habt euch sowieso mal wieder alle gegen mich verschworen. Wenn Saber sagt, wir sollen von der Klippe springen, dann tun wir das auch ungefragt, was?" Er fuhr sich durch die kurzen Haare und schob damit seinen Cowboyhut auf den Rücken. „Was soll das werden, Saber? Wie hast du dir das vorgestellt? Willst du irgendwo im neuen Grenzgebiet umherfliegen, nicht wissend, ob Jesse Johnny oder Alex gerade etwas antut? Vielleicht bist du so herzlos, vielleicht kannst du das, aber ich kann das nicht. Wissend, dass dieser Schwerverbrecher in derselben Stadt ist wie mein Johnny!"
Saber musterte ihn schweigend, bevor er einen Chip aus seinem Anzug holte. Die Kleidung hatte April ihm bereit gelegt, während er vor einer Stunde eine ausgiebige Dusche genoss. Viel Schlaf hatte er nicht wirklich gefunden, aber er fühlte sich ein wenig erholter und frischer als noch vor sechs Stunden.
„So können wir nicht arbeiten und erst recht nicht kämpfen. Nicht mit Ramrod und nicht gegen die Outrider." Saber legte den Chip neben seinen noch unberührten Teller und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Dann werde ich als Star Sheriff zurück treten."
April verschluckte sich an ihrem Wasser, Fireballs Stirnfalte vertiefte sich ungläubig, während Colt ihn mit weit aufgerissenen Augen verwirrt anstarrte. Hatte er sich gerade verhört? Hatte Saber, der seinen Beruf so oft über alles andere gestellt hatte, gerade davon gesprochen, diesen aufzugeben? Ganz einfach so?
„Shinji kann die Führung von Ramrod übernehmen und ich bin mir sicher, dass unter den Kadetten ein ausgezeichnet ausgebildeter Ersatz gefunden werden kann. Ich selbst kann einen Bürojob annehmen und hätte damit mehr Zeit für Jesse und natürlich auch für Johnny. Ihn würde es bestimmt freuen, wenn er nach der Schule nicht ständig in ein leeres Haus zurück kommt."
Nun sackte auch noch Colts Kinnlade nach unten, als er erkannte, dass es der junge Schotte verdammt ernst meinte. Wenn er sich jetzt sträubte, würde Saber den Chip wirklich einreichen und seine berufliche Karriere aufgeben. Ganz einfach so. Wegen Jesse... und teilweise natürlich auch wegen Johnny. Letzteres konnte Colt ja noch verstehen, aber wegen dem Verräter so ein großes Opfer begehen? Warum?
„Warum?" gab er seinen schwirrenden Gedanken schließlich Form. „Warum willst du so viel opfern wegen diesem... diesem... diesem Idioten...?" Er kannte tausend Schimpfwörter, aber vor Schreck fiel ihm momentan kein passenderes ein.
„Wenn Johnny Mist bauen würde, würdest du doch auch alles tun, um ihm zu helfen, oder?" Natürlich würde das Colt. Um die Ranch ihrer Eltern und somit Johnnys Zukunft zu retten, hatte er bei den Kopfgeldjägern angeheuert und mehr als einmal Kopf und Kragen für ein paar lausige Kröten riskiert, die letzten Endes die Ratenzahlungen doch nicht hatten abdecken können.
„Was hat das jetzt damit zu tun?"
„Jesse Blue ist mein kleiner Bruder, Colt." Es war das erste Mal, dass Saber es laut sagte und es klang selbst in seinen Ohren unglaubwürdig, aber gleichzeitig so seltsam vertraut. „Er steckt in der Klemme und es ist meine Pflicht, ihm da rauszuhelfen."
„Dein was?" Colts Gedanken rasten durcheinander und er klammerte sich an den einzigen Inhalt von Sabers Rede, den er noch verstand. „Glaubst du, Jesse würde dir aus der Misere helfen?"
„Er hat sich vor zwei Tagen in das Lauffeuer eines Outriders gestellt, um mich zu retten." Saber verschränkte seine Arme vor der Brust und sein Blick huschte zu April und Fireball, die weniger erstaunt dreinblickten, schließlich wussten sie von diesem Geheimnis schon länger, wenn auch nur um ein paar Tage.
„Erst dein Vater, dann Jesse... gibt's noch was, was du uns nie gesagt hast? Vielleicht noch eine böse Stiefmutter oder so was?" Colt schüttelte abermals seinen Kopf.
„Ich weiß es auch erst seit einem Jahr."
„Na klasse!" Colt blickte erst zu April, die Saber sowieso unterstützen würde, dann zu Fireball, der nachdenklich in sein Abendbrot starrte, als fände er dort Antworten zu all den Fragen, die sicherlich auch den jungen Japaner bewegten. Der Cowboy hob seine Augen zur Zimmerdecke, aber wie üblich hatte der da oben auch keine Lösung parat. Schließlich drängelte sich Colt an April vorbei und schnappte sich den Chip, bevor die anderen hatten danach greifen können.
„Du willst unser Matchbox zum Anführer machen? Verschone mich!" Er grinste auffordernd zu Fireball hinüber, der seinen Kopf hob und fragend seine Augenbraue in die Höhe zog. Besonders begeistert schien der junge Japaner aber auch nicht von der Aussicht zu sein, Sabers Aufgabe zu übernehmen. „Du weißt ja sicherlich, was das bedeutet, oder? Reis zum Frühstück, Reis zum Mittagessen und Reis zum Abendbrot. Mit Fisch und dieser seltsamen Soße. Mit Stäbchen!" Colt ballte seine rechte Hand und sie alle hörten das Knirschen des Chips zwischen seinen Fingern. „Ich will doch nicht verhungern!" Mit diesen Worten warf er die Überreste neben Sabers Teller und kehrte zu seinem eigenen Platz zurück. Er richtete seinen Stuhl auf, setzte sich darauf und ergriff seinen Löffel.
„So, und jetzt erklärst du das noch mal ganz von vorn, wie du zu dieser Verwandtschaft mit Jesse Blue kommst - ausgerechnet!"
Saber wusste, dass es noch ein weiter Weg war, bis Colt ihm in dieser Entscheidung wirklich unterstützen würde, aber es war ein Friedensangebot, ein Anfang. Der junge Schotte lächelte dankbar, bevor er seinen eigenen Löffel ergriff und in seinen Ausführungen begann.
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Claire hatte Saber erzählt, dass Jesse noch mindestens zwei Wochen strenge Bettruhe einhalten musste, aber der ehemalige Kadett wirkte schon wesentlich gesünder - oder zumindest lebendiger - als der junge Schotte ihn am nächsten Tag besuchen kam. Die Ärzte hatten die Sauerstoffmaske für nicht länger notwendig befunden und es piepten weniger Geräte im Rhythmus von Jesses Herzen. Der junge Mann hatte sich ein wenig aufgerichtet und weiche Kissen stützten seinen Rücken. Er wurde zwar noch immer hauptsächlich über den Tropf ernährt, versuchte sich aber bereits an einem Glas heißen Tees. Claire hatte seiner Bitte nachgegeben, ihm aber ein Gefäß gebracht, das er nicht umstoßen konnte. Verbrennungen brauchte er sich keine zuziehen, das Loch in seiner Brust reichte ihr vollkommen.
Nachdem April ihren Vater erneut angerufen hatte, beschlossen sie, dass es nun an der Zeit war, ihren wohlverdienten Urlaub nachzuholen. Zu dem See in den Bergen wollte keiner von ihnen zurück kehren, nicht bei dem anhaltenden Regen. Aber das hieß ja nicht, dass sie hier keinen Spaß haben konnten. Im Moment müssten sich alle - sogar Alex' Bodyguard - im Schwimmbad aufhalten und Saber hoffte, dass sich seine Teammitglieder ihres Alters entsprechend benahmen. Noch zu gut konnte er sich an den Ausflug ans Meer in Japan erinnern, wo sie dann die Polizei beinahe wegen Ruhestörung verhaftet hätte. Erwachsen hin oder her, Fireball und besonders Colt konnten sich ziemlich kindisch benehmen, wenn sie einen Kubikmeter Wasser zu Gesicht bekamen. April schlug sich dann meist auf die Seite des jungen Japaners und die heftigsten Wasserschlachten der Menschheitsgeschichten entbrannten zwischen ihnen.
Saber würde am Nachmittag zu ihnen stoßen und dann würden sie endlich in den Zeitreisefilm gehen, den Johnny schon seit Wochen hatte ansehen wollen. Solange Fireball und Colt keine Popcornschlacht veranstalteten, war das auch schön und gut.
Der junge Schotte schüttelte seinen Kopf und fragte sich, ob er der Anführer eines Star Sheriff Teams war oder ob er in Wirklichkeit einen Job in einem Kindergarten bekommen hatte. Andererseits, wer ständig in Ramrod Patrouille flog und gegen Outrider kämpfte, immer um sein eigenes Leben bangend, musste wahrscheinlich irgendwann die angestaute Anspannung herauslassen. Wenn es nur Johnny und Alex, besonders Alex, nicht immer so anstecken würde...
Jesse blickte von der schweren Aufgabe, seinen Tee umzurühren, auf, als Saber die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Erstaunt hob er seine Augenbrauen, denn er schien nicht mit Besuch gerechnet zu haben. Saber konnte sich bildhaft vorstellen, wie der ehemalige Kadett erst blicken würde, wenn das restliche Ramrodteam nach ihm sehen kam. Colt hatte nach Sabers Geschichtsstunde über die Lancelots so etwas angedeutet, und Johnny wollte sich sowieso bei seinem erneuten Lebensretter bedanken. Viel lieber wäre er mitgekommen, aber Saber konnte ihn davon überzeugen, dass Jesse nicht so viel Besuch empfangen durfte, solange es ihm nicht besser ging. Denn obwohl der ehemalige Kadett wirklich schon viel gesünder wirkte, so war er trotz alledem noch schwach und müde. Saber kannte das aus eigener Erfahrung, war er in seiner Laufbahn als Star Sheriff bereits mehr als einmal angeschossen worden.
„Hallo, Jesse." Sagte er, als der junge Mann ihn weiterhin schweigend ansah. Saber rückte einen Stuhl näher an das Bett und setzte sich darauf. Blumen hatte er keine mitgebracht. Auf der chirurgischen Station waren Pflanzen jeglicher Art aus Hygienegründen nicht erlaubt und auch sonst hätten sie vermutlich fehl am Platz gewirkt.
„Claire sagte, dass es dir schon viel besser geht. Wenn du es jetzt noch schaffst, ihre geschätzte Genesungszeit von zwei Wochen zu unterbieten, wirst du auf ewig ihr Lieblingspatient sein." Versuchte Saber, die Atmosphäre ein bisschen aufzulockern. Jesse ging nicht darauf ein. Sein Blick huschte zwischen ihm und der geschlossenen Tür hin und her und er runzelte leicht seine Stirn.
„Du bist allein gekommen?" verlieh der ehemalige Kadett seinen Gedanken Ausdruck. „Wo sind die Männer in Uniform, die mich verhören wollen?"
„Ich habe das Kavallerieoberkommando nicht von dir in Kenntnis gesetzt, wenn es das ist, was du meinst." Erwiderte Saber ruhig und lehnte sich in dem Stuhl zurück. „Um ehrlich zu sein, sie wissen nicht einmal mehr, wer du bist. In deiner Akte wird stehen, dass du vor zwei Jahren in Gefangenschaft der Outrider geraten bist und es uns letztes Wochenende gelang, dich zu befreien."
Jesses Kinnlade sackte nach unten und er hielt inne, den ohnehin schon längst aufgelösten Zucker unter seinen Tee zu rühren.
„Was?" brachte er recht unintelligent hervor und fragte sich, ob sein Kopf doch schlimmer verletzt worden war, als er angenommen hatte. Zwar konnte Claire die Schmerzen hinter seinen Schläfen mit guter Medizin dämpfen, aber vielleicht war ja sein Gehörgang beschädigt worden oder er halluzinierte nun doch. Immerhin hatte er letzte Woche eine Amnesie überstanden, obwohl angeblich nur zwanzig Prozent auf vollständige Genesung bestanden hatten. Oder träumte er all das? Würde er jeden Moment in seiner dunklen Schlafstatt in der Phantomzone erwachen und sich darüber wundern, woher der plötzliche Wunsch nach Sonnenlicht und warmen Tee kam?
„Du wurdest nie in einem offiziellen Bericht erwähnt und keiner der damals Anwesenden kann sich mehr daran erinnern, was wirklich vor zwei Jahren geschehen ist. Keiner hat jemals mit dir gekämpft außer wir, Jesse, und wir können schweigen."
„Was?" Jesse ärgerte sich selbst darüber, dass ihm nichts Gescheiteres als dieses Fragewort einfiel, aber seine ganze Welt schien plötzlich nur noch aus einem großen WAS zu bestehen.
„Ich habe deine Akte ein wenig manipuliert. Du kannst sie gerne einsehen, falls du möchtest."
„Warum?" Ah, nun war noch ein zweites Fragewort in seine Gedanken getreten. Ein Fortschritt, wobei die Welt um ihn herum davon auch nicht logischer wurde.
„Zu den Outridern kannst du nicht mehr zurückkehren. Ich schätze mal, dass du das auch nicht möchtest, sonst hättest du Vanquo - so heißt dieser Outrider doch, oder? - nicht an der Nase herumgeführt und dich vor seine geladene Waffe gestellt."
„..."
„Ich habe es dir schon mehrmals angeboten, Jesse. Wenn du wirklich in die Welt der Menschen zurückkehren möchtest, helfe ich dir gerne dabei." Saber musterte ihn ernst. „Aber du musst es auch ernst meinen, Jesse. Ich bin nicht gewillt, mein Team wegen dir in Gefahr zu bringen oder mich für dumm verkaufen zu lassen!"
Es lag eine unbestimmte Drohung in Sabers Stimme. Keine Todesdrohung, es war unter der Würde des Schotten, ihn eine geladene Waffe an den Kopf zu halten. Dennoch ahnte Jesse, dass er gut daran tat, den Star Sheriff nicht noch einmal zu verraten. Aber dafür hatte er auch keinen Grund mehr. Nein, wirklich nicht.
„Geht das denn so einfach?" erwiderte der ehemalige Kadett und war froh, endlich wieder einen zusammenhängenden Satz zustande zu bringen.
„War es denn vorher so einfach, die Seite zu wechseln?"
„Zu den Outridern? Oh, das war mehr als simple." Jesse rührte erneut in seinem Tee, der rasch erkaltete. „Ich hatte nichts, was mich in dieser Welt gehalten hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es scheißegal wäre, wo ich stünde und bei den Outridern war vieles leichter. Einfach schießen, nicht nachdenken." Er zuckte ansatzweise seine Schultern und verzog sein Gesicht, als daraufhin seine Brust zu schmerzen begann. „Ich habe dich gehasst, Richard. Und ich wollte es dir heimzahlen. Das ging nur mit Hilfe der Outrider, weil sie dich als Mensch auch hassen. Alle anderen hätten den Nachkommen des alten Lancelot doch nicht einmal anzufassen getraut." Jesse wagte nicht aufzusehen, aber er hörte, wie sich der junge Schotte auf seinem Stuhl bewegte.
„Warum hast du deine Meinung geändert? Ich glaube kaum, dass deine Abneigung mir gegenüber über Nacht verschwunden ist." Es klang keine Wut in Sabers Stimme, keine Anklage, nur ehrliches Interesse.
„Nein, dafür wurde mir schlagartig klar, was die Outrider wirklich sind. Feige Mörder ohne Skrupel. Ich bin alles, was Colt mich jemals genannt hat, zu Recht! Aber ich bin kein Mörder!"
„Wann?"
„Sagt dir das Lanca-Massaker etwas?" Nun hob Jesse seinen Kopf und sah, wie der junge Schotte sichtlich erbleichte. Diese Antwort genügte dem ehemaligen Kadetten. Saber war offensichtlich selbst dort gewesen, hatte die entstellten Leichen gesehen.
„Mir wurde gesagt, dass wir lediglich die Energiereserven und Vorräten klauen sollten. Das Übliche eben. Also bin ich mitgekommen."
„Du warst in Lanca?" flüsterte Saber ungläubig. „Aber wir konnten keine Spur von dir entdecken. Normalerweise war es uns möglich, deinen Blaster ausfindig zu machen, dort aber nicht."
„Weil ich nicht geschossen habe. Ich plünderte wie vereinbart das Wirtshaus und als ich dann mit einem Sack voll Essen heraus kam, stand das halbe Dorf bereits in Flammen. Und ich konnte nichts tun. Ich stand dort wie versteinert da und dachte eigentlich gar nichts mehr." Jesse legte den Löffel beiseite und faltete seine Hände auf dem kleinen Tablett. „Da war so ein kleiner Junge, der schwer verletzt war. Ich wollte ihn ins Krankenhaus bringen, aber bevor ich irgendetwas tun konnte, kam Nemesis und erschoss ihn. Das war der Moment, als ich wusste, dass ich von den Outridern fort musste."
Saber schwieg einen Augenblick, das soeben Gehörte war nur schwer zu verdauen.
„Das Massaker fand vor vier Monaten statt."
„Ich wollte diesen Bastards so richtig weh tun, also hab ich abgewartet, bevor ein besonders großer Coup anstand, um diesen dann an das Kavallerieoberkommando zu verraten."
„Dieser Coup war Alexander MacLeth, richtig?" So langsam konnte sich der junge Schotte die Einzelheiten zusammen reimen.
„Richtig. Nemesis wollte ihn entführen, um seine Familie auf wichtige Daten zu erpressen. Die Codes der Schutzschilder standen ganz oben auf seiner Erpresserliste. Also brüstete ich mich mit meinen Menschenkenntnissen und wurde geschickt, um Alex zu entführen."
„Wobei dich dann der Konvoi erwischte."
„Tja, ein kleines Missgeschickt, das so nicht eingeplant gewesen war, das gebe ich zu. Kann jedem Mal passieren." Er grinste gequält.
„Wie hätte dein Plan sonst ausgesehen?"
„Alex zum Kavallerieoberkommando zu schleifen und nach Kommandeur Eagle zu verlangen, um ihn alles zu berichten. Ihr hättet mir von vornherein nicht geglaubt und Eagle erschien mir während meiner Ausbildung immer so gütig und geduldig. Ich dachte, wenn mir einer zuhört bevor ich weggesperrt werde, wäre er es."
„Ich hätte dir auch zugehört." Sagte Saber ruhig und erntete einen noch ungläubigeren Blick von dem Patienten. Jesse erinnerte sich an all ihre Zusammentreffen während der letzten zwei Jahre und sah wieder zurück auf seine inzwischen kalten Tee. Vermutlich hätte das der Anführer des Ramrodteams wirklich gemacht, aber Jesse hatte kein Risiko eingehen wollen. Außerdem hatte er den jungen Schotten damals noch verabscheut, es wäre kein anständiges Gespräch zustande gekommen, sondern lediglich Beleidigungen und Beschimpfungen, die ihn nicht weiter gebracht hätten.
„Warum?" Jesse holte tief Luft und ignorierte das unangenehme Ziehen unter dem dicken Verband. „Warum all das? Obwohl ich ein absolutes Arschloch war, hast du mich auf dem Schlachtfeld höflich behandelt. Nach dem Unfall wusste ich nicht mehr, wer ich war noch, wo ich hin sollte und du hast mich einfach aufgenommen. Du hast dich sogar mit deinen Freunden gestritten wegen mir. Ich begreif das ehrlich gesagt nicht! Liegt es daran, dass du ein verlorenes Schaf ohne Kampf nicht aufgibst aus deiner Herde von Star Sheriffs? Oder ist es das Pflichtgefühl einen Anführers? Oder einfach nur Mitleid?" Es deutete auf das Krankenzimmer um sich herum und auf die missliche Lage, in der er sich befand. „Hast du irgendein Krankenschwesternsyndrom, von dem ich nichts wusste?"
Saber lächelte leicht, als er sich daran erinnerte, wie er Jesse vor über einer Woche im Krankenhaus von Yuma City behandelt hatte, bevor er erfuhr, dass der junge Mann sich an ihn nicht erinnern konnte und ihn nicht beleidigen würde. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst und er griff in die Innentasche seines Anzuges.
„Es ist weder das eine noch das andere." Er legte ein Stück Papier vor Jesse auf das Tablett und erst als er es in seine Hand nahm, erkannte Jesse, dass es sich dabei um ein Photo handelte. Ein sehr altes Photo, das einen kleinen Jungen von vielleicht fünf oder sechs Jahren zeigte, der ein Baby stolz in seinen Armen hielt. Die Kinder konnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch blickten sie mit denselben eisblauen Augen neugierig in die Kamera.
„Das ist..." Jesse drehte das Photo hin und her, aber es veränderte sich nicht.
„Das sind wir, als wir noch klein waren, Jesse. Ich habe davon leider erst vor einem Jahr erfahren."
„Also waren es doch Erinnerungen..." Jesse legte das Photo behutsam zurück auf das Tablett, als habe er Angst, er könnte es in seinen zitternden Fingern zerstören. „In den Highlands hatte ich manchmal das Gefühl, Kinder zu sehen. Dabei waren wir das."
„Es gibt auch Bilder von uns in Kanada. Es sieht so aus, als hätten sich unsere Mütter besucht. Der Kontakt brach vermutlich ab, als meine Mutter zu krank zum Reisen wurde und starb. Und ich hab das alles vergessen."
„Wir waren ja auch noch ganz klein." Jesse fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Er lehnte sich zurück in sein Kissen und schloss seine Augen. „Und was jetzt? Musst du dich jetzt etwa mit mir beschäftigen, nur weil dein Vater für ein paar Monate Gefallen an meiner Mutter fand?"
„Ich muss gar nichts, Jesse. Ich möchte. Dass man die verlorenen Jahre nicht aufholen kann, weiß ich, aber ich würde trotzdem gerne in freundschaftlichem Kontakt zu dir stehen, Jesse. Welche Fehler unsere Eltern auch gemacht haben, wir sind dafür nicht verantwortlich noch müssen wir uns an irgendwelche Traditionen halten. Du bist mein kleiner Bruder."
Es klang seltsam. Als Jugendlicher hatte er diesen Satz immer hören wollen, seitdem seine Mutter ihm über seine Herkunft aufgeklärt hatte. Vielleicht wäre er nicht zu den Outridern übergelaufen, wenn der junge Schotte ihn mit eben jenem Satz begrüßt hätte anstelle ihn wie einen Fremden zu behandeln.
Jesse dachte an die letzte Woche zurück, erinnerte sich an lustige Abendbrote, an Computerspiele mit Alex, an Einkaufstouren mit einer aufgeregten April und einem genervten Fireball, an eine schokoladenspendablen Colt, an einen erwartungsvoll lächelnden Johnny. Er würde die angenehmen Gespräche missen, die er mit Richard geführt hatte. Ihm wurde bewusst, dass er dieses ganz normale Leben im Kreise dieses chaotischen Teams genossen hatte und allein die Möglichkeit, wenigstens ein kleiner Teil dieser Gemeinschaft zu sein, und wenn auch nur als ein Bekannter des Schotten, klang mehr als verlockend. Nach den Erlebnissen in der Phantomzone klang es wie das Paradies.
„Ich kann dir leider weder einen Titel noch viel Geld anbieten. Zumindest nicht vor Vaters Tod, falls ich bis dahin nicht schon enterbt wurde."
„Wegen Johnny?" fragte Jesse, der sich wunderte, wo dieses Gespräch noch hinführte. Schon als Teenager hatte er die Hoffnung auf Anerkennung seitens des Grafen begraben. Seit jenem Gespräch vor fünf Jahren.
„Hauptsächlich wohl wegen mir selbst." Jesse konnte förmlich das Schulterzucken des jungen Schotten hören. Sabers Stuhl kratzte über den Boden und Jesse spürte, wie das Tablett mit dem kalten Tee von seinem Schoß genommen und fortgestellt wurde.
„Mit Adel und grenzenlosem Reichtum kann ich dir leider nicht dienen, Jesse, aber ich könnte dir eine Familie anbieten."
Jesse öffnete seine müden Augen und blickte erstaunt auf die Hand, die Saber ihn entgegen streckte.
„Eine Familie?"
„Nun ja, keine besonders aufregende..."
„Du meinst die Chaoten, die es nie schaffen, ihre Socken fortzuräumen, denen es nie gelingt, pünktlich zum Essen zu erscheinen, die sich mit Schokolade voll stopfen, während des Videospieles auf dem Sofa herumspringen, fremde Sprachen hassen, Mikrowellen auseinander nehmen, drei Stunden von schnellen Autos sprechen und sich elf Stunden durch diversen Boutiquen wühlen, um dann doch den Pullover aus Shop Nummer eins zu kaufen?" Jesse musste auf einmal befreit lächeln. „Wo soll ich unterschreiben?"
„Ich hatte zwar eher mich gemeint, aber um diese Chaoten wirst du wohl nicht drum herum kommen."
Jesse betrachtete die ihm noch immer entgegen gestreckte Hand.
„Also noch einmal von vorn beginnen? Ohne Outrider und so?"
„Genau."
Jesse nickte, dann ergriff er Sabers Hand und schüttelte sie mit all der Kraft, die ihm seine Verletzung gelassen hatte.
„Hallo. Ich bin Jesse Blue."
„Richard Lancelot. Angenehm, dich kennen zu lernen."
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