bDer letzte Tag des Jahres/b

Severus erinnerte sich genau an jenen Abend. Am Vorabend der letzten Schlacht hatten Auroren Malfoy Manor angegriffen. Der alte Landsitz der Malfoys war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Narcissa Malfoy war gestorben, bei den sinnlosen Versuchen, ihr Hab und Gut zu retten. Lucius war die Flucht aus Askaban wenige Wochen vor dem Fall des Dunklen Lords zusammen mit den Lestrange Brüdern gelungen und so hatten sie die Reihen der Todesser verstärken können. Das nützte ihnen jedoch heute auch nichts mehr. Die Lestranges und viele andere mehr waren tot.

Severus zwang sich, an ihre aktuellen Probleme zu denken.

„Was haben wir?", fragte er und ging zu Lucius hinüber, der noch immer in dem hohen Vorratsschrank wühlte.

„Was ist das?", wollte der blonde Magier wissen und hielt Severus eine bunt bedruckte Schachtel entgegen.

„Cornflakes", sagte Severus und riss die Packung auf.

Lucius nahm eine Handvoll und schob sie sich in den Mund, um mit verbissenen Gesichtsausdruck darauf herum zu kauen.

„Das isst man in Milch aufgeweicht", erklärte Severus und reichte Lucius eine Milchflasche.

„Ich mag kein Nugat", sagte Lucius kauend mit gespielt beleidigter Miene.

„Brot wäre nicht schlecht", sagte er wieder ernst werdend. Severus nickte und suchte weiter.

Vor wenigen Tagen hatte Draco einen Tagespropheten ergattern können und zu ihrem großen Entsetzen hatte die Schlagzeile gelautet, dass es dem Ministerium gelungen war, einen neuen Zauber zu entwickeln, der Magiespuren aufdeckte. Nun mussten sie extrem vorsichtig sein und sich gut überlegen, wo und wann sie Magie gebrauchten und ganz sicher war es ein Aufrufezauber nicht wert, entdeckt zu werden.

Während sich Lucius weitere Schränke vornahm und ihren Rucksack füllte, entdeckte Severus eine kleine Hausbar. Anerkennend zog er eine Augenbraue hoch. Eine Flasche Single Malt Whisky stand da und bettelte förmlich darum, mitgenommen zu werden.

„Es ist erbärmlich", schnaufte Lucius, als sie einen kleinen Hügel hinauf gingen.

Im Wald gut versteckt hatten sie eine kleine Holzhütte gefunden. Während sich Severus und Lucius auf die Suche nach Essbarem begaben, sollte Draco sich von den Anstrengungen der letzten Wochen erholen. Eine Armee von Hippogreifen, befehligt von keinem anderen als Rubeus Hagrid, hatte in der letzten Schlacht dem Orden einen deutlichen Vorteil gebracht. Eines dieser Viecher hatte Draco tief am Rücken verletzt. Und Lucius' Sohn war deutlich aus anderem Holz geschnitzt als dieser selbst.

„Was genau meinst du?", fragte Severus.

„Arthur Weasley", knurrte Lucius.

„Der hat jetzt ein Büro mit richtigem Fenster", erwiderte Severus.

„Stell dir mal vor, dieser Bastard könnte mich jetzt sehen." Lucius schüttelte sich ob dieser Vorstellung.

„Besser wir treffen auf keinen", erwiderte Severus und starrte auf die Spuren vor ihnen im Schnee.

„Verdammt", knurrten er und Lucius im Chor.

Mit gezogenen Zauberstäben gingen sie vorsichtig weiter. Erleichtert stellten sie wenig später fest, dass sich die Fußspuren von der Hütte entfernten.

„Vielleicht sind das irgendwelche Muggel gewesen, die auf der Jagd waren", vermutete Severus.

Lucius nickte.

„Vielleicht. Die Frage ist eher, was sie jagen."

Draco schien sehr erleichtert zu sein, als er sie erblickte.

„Da waren lauter Muggel. Die sind hier ganz in der Nähe rumgelaufen."

„Bist du dir sicher, dass es Muggel waren?", fragte Severus und brach für jeden ein Stück aus dem Brot heraus.

„Der Art sich zu kleiden nach, ja", erwiderte Draco und verschlang seinen Anteil.

„Besser wir verschwinden von hier", meinte Severus.

„Und wo sollen wir hin?", fragte Lucius. „Wir können nicht weit weg. Jede große Anstrengung wird Dracos Wunden wieder aufreißen lassen."

„Schaffst du es, nach London zu apparieren?", wollte Severus wissen und wandte sich an Draco.

Dieser starrte ihn erschrocken an.

„London?", fragte er.

Severus nickte. „Genau ins Nest der Schlangen. Mitten in London werden sie uns nie vermuten."

„Die alten Todesserverstecke sind mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr sicher", entgegnete Lucius.

„Alles was wir brauchen ist ein sicherer Apparierplatz in London", sagte Severus.

„Die Nocturngasse können wir bestimmt vergessen. Dort wimmelt es sicherlich nur so von Auroren", meinte Lucius.

„Was ist mit dem Haus von meiner Großmutter?", fragte Draco.

„Dort kann man nicht rein apparieren", sagte Severus. „Aber genau da will ich mit euch hin."

„In das Haus von Harry Potter." Lucius spuckte den Namen förmlich aus.

Severus begann zu grinsen. „Genau dort hin."

„Da gab es doch diese Lagerhallen unten am Fluss, in denen wir uns mit Avery und Nott früher immer getroffen haben", überlegte Lucius. „Dorthin könnten wir doch apparieren, oder?"

Severus nickte.

Sie warteten bis zur Dämmerung und apparierten dann in ein Industriegebiet im Süden Londons. Severus führte sie in einen kleinen Schuppen, dessen Schloss er mit einem Schwenk seines Zauberstabes öffnete. Es waren noch immer ziemlich viele Muggel unterwegs. Severus wunderte sich einwenig. Am Morgen hatte er in dem Muggelhaus auf einem Kalender gesehen, dass heute der letzte Tag des Jahres war. Doch anscheinend kannten die Muggel keine arbeitsfreien Feiertage mehr. Durch ein Fenster konnte er erste Leuchtraketen und Feuerwerk sehen. Sein Vater war ein Muggel gewesen und Severus erinnerte sich mit leichtem Grauen daran, dass dieser jedes Jahr eine riesige Freude daran gehabt hatte, Feuerwerk abzuschießen. Angewiderte wandte er sich ab.

„Wir warten bis es richtig dunkel ist", sagte er leise zu den beiden Malfoys.

So richtig dunkel wurde es in London nie, doch Severus gelang es, Lucius und Draco ungesehen bis zum Grimmauldplatz zu geleiten. Wie erwartet, konnte er das alte Haus der Familie Black sehen, sobald er an der steinernen Treppe angelangt war. Der Fideliuszauber hatte in dem Moment seine Macht verloren, in dem der Geheimniswahrer, Albus Dumbledore, gestorben war. Niemand im Orden schien sich die Mühe gemacht zu haben, das Haus erneut zu verstecken. Severus grinste böse.

„Potter, du lässt ganz schön nach", dachte er.

Zusammen mit Lucius begann Severus die Schließflüche zu knacken, welche die Haustür verschlossen. Modergeruch schlug ihnen entgegen. Der Orden musste dieses Haus tatsächlich seit dem Ableben von Sirius Black nicht mehr benutzt haben.

„Draco, mach einwenig Licht", befahl Lucius und sah noch einmal wachsam auf die Straße, ehe er die Tür hinter sich schloss.

„Ich wusste, dass Sie wieder hier her kommen. Verräter am reinen Blut!", schrie eine keifende Stimme.

„Mrs. Black", erklärte Severus und trat mit erhobenen Zauberstab vor. „Lumos."

„Guten Abend", sagte Lucius ruhig ehe Mrs. Black erneut mit schreien anfangen konnte.

„Lucius Malfoy!", erwiderte das Portrait und Mrs. Black setzte sich offensichtlich perplex auf den Stuhl, den ihr der Maler ihres Portraits höflicherweise gemalt hatte.

„Das glaube ich nicht. Nicht der Mann meiner Nichte. Nicht Lucius Malfoy auch noch." Sie schüttelte energisch den Kopf.

„Kein Orden", sagte Severus während er die Gaslaternen im Korridor entzündete.

„Von diesem Abschaum hat sich schon länger keiner mehr blicken lassen. Abgesehen von dem Dieb, der wertvolle Familienerbstücke hier raus geschleppt hat", wetterte Mrs. Black wieder los.

„Ich weiß", erwiderte Severus und ignorierte ihre zornigen Blicke. „Wir gehören zur anderen Seite."

„Wissen Sie, was passiert ist?", fragte Lucius.

Mrs. Black sah ihn sauer an. „Seit mein verdorbenes Balg meinen Hauselfen an diesen Potterbengel vererbt hat, gibt es niemand mehr, der uns hier mit Neuigkeiten beschert!"

„Der Dunkle Lord wurde besiegt", erklärte Severus.

„Nein! Niemals!", rief Mrs. Black. „Das kann nicht sein."

„Er wurde von genau diesem Potterbengel besiegt, Madame", sagte Lucius.

„Wir sind auf der Flucht vor den Auroren und müssen hier unterkommen", erklärte Severus. Den ganzen Tag, seit seiner Entscheidung, sich hier zu verstecken, hatte ihm davor gegraut, dieser alten Hexe die Geschichte ihrer Flucht erklären zu müssen.

„Mein Sohn wurde im Kampf schwer verwundet und braucht unbedingt Ruhe an einem sicheren Ort", sagte Lucius und trat näher.

Mrs. Black sah zweifelnd von ihm zu Severus.

„Und der da?", fragte sie Malfoy und deutete auf Severus.

„Der hat immer auf unserer Seite gestanden und quasi den Orden bespitzelt", sagte Lucius.

Severus zuckte innerlich zusammen. Wie sehr er das Wort „bespitzeln" hasste.

„Und du selber, Lucius?", forschte Mrs. Black eine winzige Spur versöhnlicher.

„Ich war stets dem Dunklen Lord treu ergeben, Madame", erwiderte Lucius und kreuzte hinter seinem Rücken die Finger, so dass es nur Severus sehen konnte.

Der hatte Mühe, ernst zu bleiben. Lucius war in erster Linie stets sich selbst verbunden, um sein eigenes Wohlergehen bemüht und tat das, was ihm den größten Vorteil einbrachte. Nur wenige hatten das Privileg, ihn auch von einer anderen, der loyalen Seite kennen zu lernen.

Mrs. Black nickte.

„Nun gut", sagte sie. „Ihr könnt hier bleiben. Dieser Orden hat das Haus seit dem Tod von dieser Missgeburt nicht mehr genutzt. Hier solltet ihr also sicher sein."

„Danke", antwortete Severus.

Lucius nickte ihr zu und folgte dann Severus hinunter in die Küche.

Severus und Lucius packten die Reste ihres Raubzuges auf den Tisch, während Draco einige Kerzen und ein Feuer im Kamin entzündete.

„Mein Rücken fühlt sich schon viel besser an", erzählte Draco während des Essens.

Lucius nickte. „Gut."

„Dann können wir dieses Land verlassen und kommen erst wieder, wenn die Zauberer hier sich ihrer Wurzeln besinnen und aufhören, Schlammblüter als vollwertige Zauberer anzusehen", ereiferte sich Draco weiter.

Wieder nickte Lucius gelangweilt. Severus sah von Lucius zu seinem Sohn, der nicht zu bemerken schien, wie aussichtslos diese Pläne waren.

„Es wird ein neuer Meister kommen, und dann werden wir seine ersten und treuesten Anhänger sein", meinte Draco mit stolz erhobener Brust.

„Es ist gut, Draco", sagte Lucius und legte sein Messer auf den Tisch.

„Aber Vater -", begann Draco.

„Geh ins Bett Draco", seufzte Lucius müde. Er schüttelte den Kopf, als er seinem Sohn nachsah, der irritiert das Zimmer verließ.

„Klingt ganz nach Belatrix", sagte Severus.

„Selig sind die geistig Armen", erwiderte Lucius sarkastisch, griff nach der Flasche Whiskey und öffnete sie mit einem Schwenker seines Zauberstabes.

„Das ich noch erleben darf, wie du ein wahres Wort über deinen Sohn sprichst", grinste Severus.

„Er ist in erster Linie Narcissas Sohn", erwiderte Lucius und trank direkt aus der Flasche.

„Wir kommen hier nicht mehr weg", meinte Lucius düster und trank einen weiteren Schluck.

Severus nickte.

„Wir hätten schon vor Wochen das Land verlassen sollen."

„Draco hält uns mit seiner Wunde auf. Ohne ihn wären wir viel flexibler", sagte Severus leise.

Lucius nickte. „Ich weiß. Aber was hätte ich machen sollen. Ich konnte ihn doch nicht verletzt zurück lassen. Irgendwie ist er ja doch auch mein Sohn."

Severus starrte schweigend ins Feuer.

„Wir haben verloren, Severus. Wir haben verspielt. Einmal in unserem Leben haben wir uns für eine Seite festgelegt und dabei haben wir auf das falsche Pferd gesetzt. Wir haben uns falsch entschieden." Lucius trank einen tiefen Schluck aus der Flasche.

Severus zuckte unmerklich zusammen. Er wusste, dass er sich für die richtige Seite entschieden hatte. Nur war keiner mehr da, der dies bezeugen konnte. Den einzigen, der Severus' Unschuld, wenn man es denn so nennen wollte, bestätigen konnte, den hatte er umgebracht. Dabei hatte er nichts anderes getan, als seine eigene Haut zu retten. Dieser verfluchte Unbrechbare Eid hätte ihn umgebracht. Abgesehen davon war Albus Dumbledore ohnehin dem Tode geweiht gewesen. Lange hatte Severus diese Tatsache verleugnet und weit von sich geschoben, aber an jenem Abend auf dem Astronomieturm war ihm die volle Wahrheit schlagartig bewusst geworden.

Lucius begann plötzlich in seinem Umhang zu kramen und zog schließlich eine kleine Schatulle hervor. Aus dieser entnahm er eine längliche Pastille und hielt sie hoch.

„Ich gehe nie mehr zurück nach Askaban", sagte er entschlossen.

Severus sah erstaunt auf.

„Gift?", fragte er. „Du willst Gift nehmen?"

Lucius nickte. „Du nicht?"

„Nein, so werde ich mich nicht davon schleichen. Mich selbst zu töten, hieße doch, einzugestehen, alles falsch gemacht zu haben."

„Hast du nicht alles falsch gemacht?", fragte Lucius erstaunt. „Schließlich hast du den alten Mann ja doch umgebracht."

Severus runzelte die Stirn. Lucius hatte den wunden Punkt getroffen.

„Das hat mir mein Leben gerettet", erwiderte Severus etwas unwirsch.

Lucius nickte und sah sich um.

„Schönes Leben, vielen Dank", sagte er schließlich bitter.

„Ich werde jedenfalls mich nicht einfach ergeben, sondern meine Haut so teuer wie möglich verkaufen", knurrte Severus und griff nach der schon fast leeren Flasche.

„Ja", murmelte Lucius. „Ja, es ist wohl besser so zu sterben." Er steckte die Pastille wieder in die Schatulle und verstaute sie wieder in seinem Umhang.

„Mit uns werden viele Ministeriumszauberer sterben müssen", sagte er mit festerer Stimme. Severus nickte zustimmend.

Von draußen konnte man mit einem Male sehr viele Feuerwerksknaller hören. Lucius schreckte hoch, doch Severus hob die Flasche.

„Na dann, auf ein Neues Jahr, Lucius", prostete er Lucius zu und trank einen großen Schluck.

„Was auch immer es bringen mag", erwiderte Lucius.

„Was auch immer es bringen mag", wiederholte Severus.