Kapitel 1
Willkommen zurück

Ginny Weasley saß in ihrem Sitz im Zugabteil. Sie saß allein im Abteil der Vertrauensschüler, seit ihr Bruder nicht mehr da war. Ron war bei weitem ihr bester Freund. Sie hatte einige andere Freunde, wie Colin Creevey, aber niemanden, an dessen Schulter sie sich ausweinen konnte.

Auf ihrem Schoß lag aufgeschlagen ein kleines, rotes, in Leder gebundenes Buch. Sie hatte es die letzten Monate über in sehr gutem Zustand erhalten. Sie hatte alle 152 Sonette in dem Buch gelesen, aber Sonett XXXVI lag ihr besonders am Herzen.

‚Drac… ähm, Malfoy.'

‚Weasley, du weißt, du solltest nicht …'

‚Ich wollte dir nur gratulieren.'

‚Oh… in Ordnung.'

‚Glaubst du, ich werde dich hiernach wiedersehen?'

Ginny seufzte. Sie erinnerte sich an die Abschlußfeier im letzten Juni, als wäre es gestern gewesen. Er hatte den Kopf geschüttelt. Sie hatte es schon vermutet. Ihre Wege konnten sich nicht überkreuzen, das würde ein Desaster geben. Er war reich, mächtig und ein widerstrebender Diener des dunkelsten Magiers, den dieses Jahrhundert kannte. Sie stammte aus einer gutherzigen Familie der unteren Gesellschaftsschicht, die das Objekt des Spotts seines Vaters gewesen war. Es war nur eine kurze Zeit gewesen, aber sie hatten recht zufriedene Momente geteilt. Aber es war besser, so wie es jetzt war. Wenn sie ihn nicht sah - umso besser. Es war wie in dem alten Sprichwort: „Aus den Augen, aus dem Sinn"…

… Was man kontern könnte mit „Durch die Ferne wächst die Zuneigung". Es war ja nicht, als wären sie verliebt, Himmel nein! Sie hatten, wie Ginny es ausdrückte, ein freundschaftliches Verhältnis. Wenn sie ehrlich sein sollte, wußte sie nicht, wie sie es nennen sollte. „Gegenseitiger Respekt" war zu förmlich. Sie hätte es so genannt, hätte er ihr nicht das Gedicht gegeben.

Gesteh ichs nur: gesondert bleiben wir,
Wie auch unteilbar unsre Herzen schlagen.
So kann ich ohne Hilfe dann von dir
Die Flecken meines eignen Wesens tragen.
In unsern Herzen ist nur ein Gefühl,
In unsern Leben zwistiger Verdruß:
Zwar irrt er nicht der Liebe reines Ziel,
Doch süße Stunden raubt er dem Genuß.
Nicht überall darf ich mich zu dir kehren,
Wo mein beweint Vergehn dir Schmach zu bringen schien,
Noch du mit öffentlicher Gunst mich ehren,
Willst du nicht deinem Namen Ehr entziehn.
Doch, tu es nicht! Ich halte dich so wert,
Daß, wie du selbst, mir auch dein Ruf gehört.

Draco Malfoy hatte vor ihr zugegeben, daß er kein Todesser sein wollte. Sie hatte dieses Wissen zu ihrem Vorteil genutzt. Sie hatte ihn erpreßt, damit er ihr dabei half, ‚Romeo und Julia' zu verstehen. Es hatte sich herausgestellt, daß sie gerne Zeit miteinander verbrachten. Sie hatte normalerweise in der Nähe des Kamins gesessen und gelesen, während er auf seinem Bett gelegen und gelernt hatte. Sie hatten sich im Geheimen in seinem Schulsprecherzimmer getroffen. Einmal waren sie dabei eingeschlafen. Eines Nachts hatte sie das Dunkle Mal auf seinem Arm gefunden. Er hatte erklärt, daß er ein Todesser war, und daß er bei seiner Initiation begeistert gewesen war; doch bald hatte ihn das Gift des grünen Lichts bereuen lassen. Er hatte im Namen des Dunklen Lords gemordet und gefoltert. Aber er konnte nicht fliehen, er würde nicht sein eigenes Leben für das von Fremden riskieren. Er hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen, aus Gründen, die ihr unbekannt waren, und ihr dieses Buch mit Shakespeares Sonetten geschickt. Sonett XXXVI war markiert gewesen. Danach hatten sie sich nicht mehr gesehen, abgesehen von flüchtigen Begegnungen auf dem Flur, hin und wieder. Er hatte Hogwarts verlassen, ohne etwas besonderes zu ihr zu sagen. Er hatte ihr nur Shakespeares Sonett gegeben, um ihr seine Gefühle mitzuteilen. Sie vermißte ihn.

„Verdammt …", seufzte Ginny.

„Verdammt was", ertönte eine Stimme. Sie wandte sich zur Tür um und sah dort ihren Mitschüler aus Gryffindor, und ebenfalls Vertrauensschüler, Colin Creevey stehen.

„Ach, nichts."

„Es geht wieder um das Buch", sagte er und setzte sich ihr gegenüber. „Du hast es letztes Jahr überall mit hingenommen, und du weigerst dich immer noch, mir zu sagen, von wem du es hast."

„Jemand …" Sie lächelte.

„Besonderes, ja, das ist nichts Neues", unterbrach er. „Ehrlich, Ginny, du weigerst dich, mich wissen zu lassen, welcher Abschaum dich hängenlassen hat."

„Colin", warnte Ginny.

Er kannte diesen Tonfall. Er befand sich kurz vor der „Grenze". „Entschuldige, Ginny. Du weißt, wie ich fühle, nicht?"

„Ich weiß."

„Es ist nur … Ich will nicht, daß du deine Zeit verschwendest."

„Colin, es ist nur ein Buch mit Gedichten. Und außerdem, die Chancen, daß ich ihn wiedersehe, stehen 1 zu 1 Milliarde."

Colin lächelte. „So schlecht, hm? Hab ich eine Chance?"

„Colin." Sie benutzte wieder diesen Tonfall.

„Na ja, es war einen Versuch wert …"

ooOOoo

„Die alle?" fragte Colin.

Drei Karten lagen neben ihr auf dem Sitz. Jede Karte enthielt eine Botschaft in identischer Schrift.

Komm nicht zurück nach Hogwarts.

Komm nicht zurück zur Schule.

Zu deiner Sicherheit, kehr nicht nach Hogwarts zurück.

„Ich hab eine Anfang Juli bekommen, dann eine Mitte Juli, und eine, bevor ich nach London aufgebrochen bin."

„Hört sich ernst an. Hast du's deiner Mutter erzählt?"

„Damit sie sich Sorgen macht? Um Himmels Willen, nein! Es ist wahrscheinlich ein Streich. Ich wette, die sind von Denise Cobbs. Die ist immer noch sauer, daß ich Vertrauensschülerin geworden bin, und nicht sie." Ginny schüttelte den Kopf. „Gott weiß, warum sie so eifersüchtig ist."

Colin zuckte mit den Schultern. „Nimm die Botschaften von Slytherins besser nicht auf die leichte Schulter. Da steckt immer irgendwas dahinter."

„Botschaften von Slytherins …", zitierte Ginny leicht belustigt. Die Karten waren bald vergessen, und alles, woran sie denken konnte, waren gewisse stahlgraue Augen.

ooOOoo

„Ravenclaw" bestimmte der Sprechende Hut Agnes Whites Hauszugehörigkeit.

Die Große Halle von Hogwarts war brechend voll. Ginny liebte die Begrüßungsfestmähler. Die Erstkläßler mit ihren weit aufgerissenen Augen erinnerten sie immer an ihre eigenen Gefühle, als sie um ersten Mal hier gewesen war. Der Geräuschpegel in der Halle erhöhte sich, als Agnes ihren Platz einnahm.

Dann erhob sich Direktor Dumbledore, und es kehrte Ruhe ein. „Vor dem Essen habe ich noch ein paar Worte zu sagen."

Ginny begann der Magen zu knurren. „Ach, komm schon, bitte, ein bißchen schnell", murmelte sie. Colin, der neben ihr saß, lachte leise. Die Ansprache bezüglich des Verbotenen Waldes blendete sie vollständig aus. Und dann hörte sie: „Lassen Sie mich Ihnen den diesjährigen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste vorstellen."

„Wer ist denn dieses Jahr dran?" brummelte Colin.

„Er hat letztes Jahr hier seinen Abschluß gemacht. Ich bin sicher, viele von Ihnen erinnern sich an ihn. Er war ein ausgezeichneter Schüler, der als Zweiter seines Jahrgangs graduiert ist. Er hat ein umfangreiches Wissen auf seinem Gebiet, und nach einigen intensiven Studien im Sommer wird er Ihnen viel weitergeben können. Ich bin froh, ihn wieder hier willkommen heißen zu dürfen." Dumbledore zeigte auf einen jungen Mann, der zur Rechten von Professor Snape saß. „Professor Malfoy, wenn Sie sich bitte erheben würden"

Ginnys Kopf schoß in die Höhe. Ein großer, schlanker Mann mit silberblondem, zurückfrisierten Haar stand auf. Laute Anfeuerungsrufe, die die Wände wackeln ließen, kamen vom Slytherin-Tisch, während von den anderen drei Tischen Gemurmel zu hören war.

„Was zum …?" Colin keuchte. „Das glaub ich nicht. Das ist Draco Malfoy."

Etwas flatterte in Ginnys Brust. Etwas schwoll an vor Vorfreude, als sie ihren Blick auf den neuen Lehrer richtete. Aber dieses Gefühl von Leichtigkeit wandelte sich in Verwirrung, als er sich wieder setzte, denn er wandte seinen Blick auf sie. Sein Blick enthielt einen undurchschaubaren Ausdruck.