Kapitel 2
Die Dinge könnten anders sein

Die Gryffindors hatten nicht vor Dienstag Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Eines Morgens kam Pigwidgeon zum Frühstückstisch geflogen.

ICH BIN FREI!

Liebe Ginny,

Vielleicht sollte ich mich wiederholen: ICH BIN FREI! Nach zehn verfluchten Wochen meines Lebens bin ich endlich mit dem Aurorentraining fertig. Harry und ich fangen nächste Woche mit Anfängeraufgaben unter einem anderen Auror an. Es war schmerzhaft, es war anstrengend, ich hab davon Rückenprobleme bekommen, aber Harry und ich haben überlebt. Jetzt können er und ich den Abschaum der Zaubererwelt jagen.

Wo ich gerade bei Abschaum bin, Hermine hat uns letzte Woche erzählt, daß Malfoy in Hogwarts ist. Arbeitet er da? Ist er Lehrer? So sehr ich Dumbledore auch respektiere, er muß komplett verrückt gewesen sein, als er diesen Vollidioten mit den gebleichten Haaren eingestellt hat. Ich hatte gedacht, er würde in die Fußstapfen seines Vaters treten, wenn Du weißt, was ich meine.

Ich hoffe, Dein letztes Schuljahr fängt gut an, und wenn Du Malfoy als Lehrer hast, laß Dir nichts von ihm gefallen. Ruf einfach Deinen wahnsinnig coolen Aurorenbruder (mich), und ich werd mich drum kümmern.

Harry und ich werden nach unserer Grundausbildung versuchen, Dich zu besuchen. Laß Dich nicht unterkriegen, Gin!

Alles Liebe,
Ron

Er brachte sie auf einen interessanten Gedanken. Soweit sie wußte, war Draco ein Todesser. Wie hatte er einen Job in Hogwarts bekommen? Nun ja, er war ziemlich qualifiziert, daran bestand kein Zweifel … aber wußte Dumbledore es?

ooOOoo

Dienstag nachmittag kam schließlich.

„So ein Glück." Colin setzte sich neben ihren Platz in der Mitte des Klassenzimmers. „Malfoy als Lehrer und Unterricht zusammen mit den Slytherins."

ProfessorMalfoy für Sie, Mr Creevey."

Colin wurde blaß und drehte langsam den Kopf in die Richtung ihres Lehrers. „E-entschuldigung, Professor Malfoy."

Draco grinste selbstgefällig. „Fünf Punkte Abzug für Gryffindor", sagte er lässig und ging zur Vorderseite des Raumes. „Klasse", rief er. Alle waren still, die Slytherins aus Respekt, die Gryffindors aus Furcht. „Ich bin Ihr Lehrer für Verteidigung, Draco Malfoy. Ich bin sicher, Sie alle wissen, wer ich bin."

Bildete Ginny es sich ein, oder ruhten seine Augen für einen kurzen Moment auf ihr?

„Ich werde vollkommen ehrlich sein", begann er. „Sie werden nicht Neues lernen. Als ehemaliger Schüler weiß ich, daß in der siebten Klasse der Stoff der vergangenen sechs Jahre wiederholt wird. Die Details der Unverzeihlichen Flüche wurden beispielsweise am Ende der sechsten Klasse gelehrt. Dieses Jahr werden Sie all ihre Fähigkeiten perfektionieren."

Eine Hand hob sich. Draco blickte auf. „Ja, Ms Crane?"

„Professor Malfoy …" Sie lächelte. „Werden Sie uns Hausaufgaben und Tests geben?"

Draco lehnte sich gegen sein Pult. „Es wird gelegentlich Überprüfungen geben, damit Sie bei der Sache bleiben. Aber zum größten Teil ist Verteidigung gegen die Dunklen Künste eine Fähigkeit, nicht etwas, das man in Büchern finden kann. Von diesen Kontrollen abgesehen wird es keine sinnlosen schriftlichen Aufgaben geben. Es gibt allerdings zwei Prüfungen, eine zum Halbjahr und die Abschlußprüfung. Die Halbjahresprüfung wird ein schriftlicher Test sein, der alles umfassen wird, was Sie seit Dezember gelernt haben, und die Abschlußprüfung im Juni wird aus einem Hindernisparcours bestehen, der alles beinhalten wird. Wenn Sie durch eine dieser Prüfungen durchfallen …" Er zuckte mit den Schultern und überkreuzte die Arme. „… dann sind Sie nicht bereit für das, was da draußen wirklich ist."

Ginny schluckte. Er mußte es wissen.

„So …" Er wandte sich um und griff nach einer Liste. Die vertrauten Namen herunterlesend begann er, die Anwesenheit zu überprüfen. Nach ein paar Minuten begann er mit dem Unterricht. „Also, um gleich einzusteigen, lassen Sie uns am Anfang beginnen. Wie definiert man die „Dunklen Künste"?"

Kein Gryffindor wagte es, die Hand zu heben. Der Slytherin Jeremy Doyle meldete sich. Als er aufgerufen wurde, antwortete er: „Die Dunklen Künste sind eine Form der Magie, hinter der eine wirklich böse Absicht steht."

„Erläutern Sie Ihre Antwort genauer", forderte Draco ihn auf.

„Na ja, sagen wir, da wäre dieser wirklich nervige Blödmann …" Jeremy warf einen kurzen Blick auf den Gryffindor Christian Anderson. „… und ich belege ihn mit der Ganzkörperklammer. Meine Absicht ist, mich über ihn lustig zu machen und dafür zu sorgen, daß die Leute ein paar Stunden über ihn lachen, nicht, ihm dauerhaften Schaden zuzufügen."

Draco nickte. „Zehn Punkte für Slytherin."

Colin seufzte etwas, das sich stark nach „parteiisch" anhörte.

„Mr Creevey", schnappte Draco. Colin setzte sich aufrecht hin, als er seinen Namen hörte. „Das hier ist ein Kinderspiel, jeder kann das beantworten, sogar Sie. Können Sie irgendwen nennen, der die Dunklen Künste praktiziert hat?"

„Salazar Slytherin", platzte Colin, ohne nachzudenken, heraus.

Draco hob eine Augenbraue. „Und weshalb nennen Sie ihn?"

„Weil … er als Rache an den anderen Gründern den Basilisken in die Schule gebracht hat, um die Schülerschaft zu reinigen. Und schließlich …" Colin ließ den Satz unbeendet und sah Ginny an. Sie war etwas blaß. Sie kannten die weitere Geschichte, Ginny war in ihrem ersten Jahr in Hogwarts der Mittelpunkt der ganzen Sache gewesen. Die Manifestation eines jungen Tom Riddle – Voldemort in seiner Jugend – hatte sie benutzt, um die Kammer des Schreckens zu öffnen und das Monster freizulassen. Colin Creevey war eines ihrer Opfer gewesen.

„Was ist los, Creevey? Hast du deine Zunge verschluckt?" Die Slytherin Brittany Fledge lachte.

„Ach ja, richtig." Terrance Bean aus Slytherin lachte leise vor sich hin. „Und hat nicht Weasley das Ding losgelassen?"

„Laß sie in Ruhe", rief der Gryffindor Charles Binn.

Ginny erbleichte. Sie wollte nicht an all diese unglücklichen Ereignisse erinnert werden. Sie ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten.

Draco sah zu ihr herüber und wandte sich dann an die Klasse. „Also gut, das reicht."

„Nette Freundin hast du da, Creevey. Sie ist wirklich …"

„Halt die Klappe", verteidigte die Gryffindor Kristy Eggburn.

„Genug." Draco hob die Stimme leicht und verlieh ihr mehr Autorität. Es wurde wieder ruhig. Draco seufzte. Das würde eine lange Stunde werden.

Nach einer Weile ertönte die Schulglocke. Nach und nach verließen alle die Klasse. Viele sprachen über den Lehrer, im Guten wie im Schlechten.

Colin warf all seine Bücher in seine Tasche. Er bemerkte, daß Ginny ganz schön lange zum Packen brauchte. „Kommst du, Ginny?"

Sie nickte. „Ja, aber geh schon vor. Ich muß erst noch was erledigen."

Colin war verwirrt, aber er beließ es dabei. „Ist gut, also dann …" Und er verließ den Raum.

Der Klassenraum war leer. Sie warf sich den Tragriemen ihrer Tasche über die Schulter und näherte sich dem Lehrerpult, wo Draco saß. „Dra- … Mal- … ähm… Professor?"

Draco blickte auf und dann um sich. Er suchte den Raum mit den Augen nach Beobachtern ab. „Vir-… Ms Weasley …"

Sie konnte nicht anders, als seinen vorsichtigen Gesichtsausdruck zu bemerken. „Es ist nicht verboten, dem Lehrer nach dem Unterricht Fragen zu stellen. Niemand wird sich was dabei denken."

Draco schluckte. „Wahrscheinlich. Was für Fragen haben Sie?"

„Wie geht's dir?"

Er stand auf und schlug das Notizbuch vor sich zu. „Haben Sie irgendwelche Fragen, die den Unterricht betreffen?"

Ginny war etwas überrascht von dieser Reaktion. Was hatte sie falsch gemacht? Weshalb dieser kühle Ton „Ähm… werden wir die Bücher aus der ersten Klasse mit zum Unterricht bringen müssen?" Das war das erste, was ihr einfiel.

„Nur wenn Sie wollen." Er legte das Notizbuch in die Schreibtischschublade und zückte seinen Zauberstab. Er war aus schwarzem Ebenholz hergestellt und etwa dreißig Zentimeter lang. Am Griff war eine sich windende Schlange eingraviert. Es mußte eine Spezialanfertigung sein, es sei denn Olivander bot in seinem Laden jetzt ein neues Zauberstabdesign an. Mit dem Zauberstab verschloß er die Schublade. „Sie werden im Unterricht keine Bücher brauchen, Sie können sie für Ihre privaten Studien lesen."

Ginny blieb stehen, ihre Hände ruhten auf seinem Schreibtisch. Ihre Knie begannen sich in Gelee zu verwandeln. Sie wußte, daß er eine Unterhaltung mit ihr zu vermeiden versuchte, sie konnte es fühlen. Dazu kam noch, daß er sie nicht richtig ansah, wenn er mit ihr sprach. „Ich würde … wirklich gerne mit dir sprechen, Draco."

Draco kam mit einem verärgerten Gesichtsausdruck um den Schreibtisch herum. „Ich erwarte, daß Sie mich mit Respekt behandeln, Ms Weasley. Ich bin Ihr Lehrer, und daher sollten Sie mich auch so behandeln, ungeachtet des geringen Altersunterschieds oder … unserer Vergangenheit."

„Der Unterricht ist vorbei."

„Sie sind immer noch in der Schule", stellte er fest.

Sie biß sich auf die Lippe. „Es tut mir leid, Professor. Aber gibt es irgendeine Möglichkeit, daß wir uns unterhalten können, als wäre ich nicht Ihre Schülerin?"

Draco preßte die Lippen fest zusammen. „Ich habe es deutlich gemacht, daß wir nicht …"

„Du hast mich ein Gedicht lesen lassen, du hast es mir nie direkt gesagt." Ginny zog das Gespräch wieder an sich. „Die Dinge könnten anders sein, richtig?"

Er wandte den Blick ab. „Ich muß gehen. Ich habe noch Dinge zu erledigen." Bevor sie etwas sagen konnte, hatte Draco sie in dem Klassenraum allein gelassen.

ooOOoo

„Ginny, wen starrst du die ganze Zeit an?"

Ginny erwachte aus ihrer Trance. „Hm?"

Colin hob eine Braue. „Wen hast du angestarrt?"

„Niemand im besonderen", antwortete Ginny schnell. „Bilde ich mir das ein, oder sind Snapes Haare noch fettiger als sonst?"

„Du bist vielleicht die Schwester von Fred und George Weasley, aber du bist eine schreckliche Lügnerin."

Ginny sah Colin an. „Was meinst du damit?"

„Du kannst lügen, bis Stonehenge einstürzt und zu Staub zerbröckelt, aber deine Augen verraten dich. Du siehst verwirrt aus."

Ginny lächelte. Sie wußte, wieviel sie ihm bedeutete. Sie war erst seit kurzem in der Lage, mit ihm zu reden. Es hatte im Sommer begonnen, gegen Ende der sechsten Klasse. Sie hatte eine Krise gehabt und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ihre Eltern hatten sich große Sorgen gemacht. Als Ron wegen des Aurorentrainings weggegangen war, war es sogar noch schlimmer geworden. Molly hatte den Creeveys eine Eule geschickt und Colin eingeladen. Er war am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr angekommen. Als Ginny um acht Uhr abends ihre Schlafzimmertür geöffnet hatte, war er immer noch da gewesen. In diesem Moment hatte sie erkannt, wie wichtig sie ihm war. Sie hatte nur nicht gewußt, auf welche Art – bis er ihr ein paar Wochen später gestanden hatte, daß er schon eine ganze Weile Gefühle für sie hatte.

„Wenn ich bereit bin, darüber zu reden, dann wirst du der erste sein, der es erfährt", versprach sie.

Er nickte. „In Ordnung. Für den Moment laß ich dich vom Haken."

‚Ich habe Draco angestarrt', schrie eine innere Stimme.

„Also, warum mußtest du nach dem Unterricht noch bleiben", fragte Colin plötzlich.

Ginny harkte mit ihrer Gabel durch ihr Kartoffelpüree. „Oh … ich hatte eine Frage. Ich hab Dra…" Sie unterbrach sich. „… Professor Malfoy gefragt, ob wir die Bücher aus den vergangenen Jahren brauchen werden. Immerhin machen wir dieses Jahr eine komplette Wiederholung."

Colin sah sie merkwürdig an. Hatte er ihren Ausrutscher bemerkt? „Hm…" Er schien ihr nicht zu glauben, aber er fragte nicht weiter.

ooOOoo

Vertrauensschülerin zu sein, hatte auf jeden Fall Vorteile. Man konnte länger aufbleiben und hatte sein eigenes Bad. Sicher, die Schulsprecher hatten ihre eigenen Zimmer, aber sie war vollkommen zufrieden so wie es war.

Es war spät am Abend, als Ginny im Badezimmer der Vertrauensschüler saß. Sie hatte dafür gesorgt, daß es spät war, wenn sie ein Bad nahm.

Sie mußte schon eine ganze Viertelstunde im Wasser sein.

Sonett XXXVI handelte nach ihrem Verständnis von einer Person, der jemand sehr viel bedeutete. Er konnte es jedoch nicht öffentlich bekannt werden lassen. Der Sprecher wollte diese andere Person wissen lassen, daß er, auch wenn er sie vielleicht ignorierte, dennoch starke Gefühle für sie hatte, was auch immer passierte. Bedeutete das also, daß Draco so für sie empfand?

Es ergab Sinn … irgendwie. Er war ein Todesser und ein Anhänger von Du-weißt-schon-wem. Er durfte nicht mit einer muggelliebenden Weasley gesehen werden. In Ordnung … also, wieviel bedeutete sie ihm?

Sie seufzte tief. „Draco …", murmelte sie in die Totenstille hinein.

Hinter ihr war ein leises Klappern zu hören. Sie ließ sich panisch kinntief ins Wasser sinken. Sie drehte sich um, aber hinter ihr war niemand. „Hallo? Wer ist da?" rief sie.

Sie zog schnell ihren Bademantel über, den sie nahebei aufgehängt hatte. Immer noch triefnaß, überblickte sie suchend den Raum. Zu ihrem äußersten Entsetzen sah sie einen Zauberstab auf dem Boden liegen, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo sie gebadet hatte. Ginny starrte auf den schwarzen Zauberstab mit der sich um den Griff windenden Schlange.