Kapitel 3
Ich hatte dich gewarnt

Es dauerte eine Weile, bis die den Mut hatte, ihn aufzuheben. Er schien zu summen, und ein seltsamer, grüner Nebel ging für ein paar Minuten von ihm aus. Sie wußte genug über Magie, um zu wissen, daß in einem Zauberstab nach einem mächtigen Fluch noch Überreste davon zurückblieben. Sie kannte nur einen Fluch, der etwas Grünes absonderte: Avada Kedavra. Jemand hatte den Todesfluch versucht … an ihr. Und sie erkannte diesen Zauberstab.

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Sie hatte ihn ein paar Tage mit sich herumgetragen. Die Schulglocke ertönte und richtete ihre Gedanken wieder auf den Klassenraum für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Die Schüler standen auf. „Nur eine Minute", sagte Draco. „Morgen werden wir mit der Zeitleiste der Dunklen Künste anfangen: Wer ist wer, was hat er getan, und wie war die Reaktion der Welt. Jetzt raus hier."

Ginny stand auf und packte ihre Sachen zusammen.

„Ms Weasley, bleiben Sie nach dem Unterricht."

Sie erstarrte. Sie blickte zu Colin hinüber, der völlig perplex aussah. „Was hast du getan, Ginny?"

„N… nichts", antwortete sie, obwohl sie eine Ahnung hatte, worum es ging.

„Bist du sicher?" Colin senkte die Stimme. „Wenn der Professor nicht …"

„Es hat geläutet, Mr Creevey", informierte Draco taktvoll.

Colin schluckte, schenkte Ginny einen mitfühlenden Blick und ging. „Wir sehen uns später, Ginny."

Als Ginny sich zum Lehrerpult umdrehte, sah sie, wie Draco auf sie zukam. Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Ich glaube, Sie haben etwas, das mir gehört."

Sie ließ ihre Hand gedankenverloren an ihre Seite fliegen, unter ihrer Robe befühlte sie ihre Zauberstabtasche. „Bitte?"

„Mein Zauberstab, Ms Weasley. Ich denke, Sie haben ihn."

Ginny überraschte sich selbst und stellte sich aufrecht hin. „Ich werde ihn zurückgeben – nachdem ich eine Erklärung gehört habe, weshalb ich ihn gefunden habe", erwiderte sie und sah ihm geradewegs in die Augen.

Er trat nahe an sie heran, so nah, daß er beinahe den angemessenen Höflichkeitsabstand unterschritt – nicht, daß sie damit ein Problem hatte. Sie konnte sein Aftershave riechen, es war eine merkwürdige Mischung aus Regen, Tee und … Sie konnte es nicht identifizieren, aber es war angenehm. Nur er roch so gut. Niemand sonst hatte einen Duft an sich, der irgendwie ihre Knie weich werden ließ. Sie stellte fest, daß sie mehr von ihm riechen wollte, so dämlich der Gedanke auch war.

„Beschämend, den persönlichen Besitz eines Lehrers einzubehalten." Er funkelte sie wütend an. Dann wurde sein Blick weicher, und er nannte sie bei ihrem Namen. „Mein Zauberstab … Virginia."

Ein sonderbares Gefühl durchflutete sie, wie Schmetterlinge in ihrem Körper. Sie griff in ihre Tasche und zog den Zauberstab hervor.

Draco schnappte ihn ihr aus der Hand. Kein Dankeschön oder irgendein Zeichen der Dankbarkeit. „Guten Tag, Ms Weasley."

Zurück zu den Förmlichkeiten. „Warum?" fragte Ginny. Sie hatte gleichzeitig Angst, war neugierig und aufgebracht. Warum war er im Badezimmer der Vertrauensschüler gewesen? „Was du an diesem Abend gemacht?"

„Ich hatte Sie entlassen, Ms Weasley."

„Ist mir egal. Was hast du gemacht?"

„Ich sagte: Guten Tag. Kehren Sie zurück in Ihren Gemeinschaftsraum oder was auch immer. Verschwinden Sie aus meinem Klassenzimmer. Ich sehe Sie dann in der nächsten Stunde." Draco lächelte spöttisch.

Ginny bebte vor Ärger. Sie schwang sich den Tragriemen ihrer Tasche über die Schulter und stürmte aus dem Raum.

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Liebe Gin,

Es ist offiziell: Ich hasse meinen Trainer. Sein Name ist Gemini Vaughns, und man kann absolut nicht mit ihm auskommen. Er ist fordernd, undankbar, alles, das auf „grauenhaft" hinausläuft.

Gerade gestern hat er mich Butterbier holen lassen, und als ich zurückkam, hat er sich beschwert. „Es ist warm. Ich mag es angenehm heiß." Also bin ich zum Pausenraum des Hauptquartiers gegangen und hab es aufgewärmt. Dann hat er es getrunken und sich die Zunge verbrannt. Er hat mich deswegen Runden laufen lassen.

Und was das Faß bei diesem ganzen Fiasko zum Überlaufen bringt ist, daß er Harry verehrt. Und wenn ich sage „verehren", dann meine ich: „Wow, Sie sind der JUNGE DER LEBT! Na ja, kein Junge mehr, eher ein junger Mann. Kann ich ein Autogramm haben? Wie ist es, Sie zu sein? Das ist Ihr Zauberstab? Meiner ist auch aus Stechpalme! Was für ein Zufall! Wow, es ist Harry Potters benutztes Kaugummi". Er hat sogar versucht zu tauschen, damit er Harrys Trainer sein kann.

Aber Arielle läßt das nicht zu. Arielle ist Harrys Trainerin, und sie ist absolut umwerfend schön. Sie ist 24 (hat gleich nach der Schule mit dem Aurorentraining angefangen) und nett, heiß, klug, geduldig, und sie ist extrem alleinstehend. Harry hat eine tolle Zeit beim Lernen (Möcht' ich wetten!), aber Hermine ist nicht sehr glücklich darüber. Harry besteht darauf, daß er nicht an ihr interessiert ist, aber Hermine bleibt dabei, daß „jeder Mann, der sie nicht anziehend findet, entweder homosexuell oder tot" ist. Na ja, damit hat sie nicht ganz Unrecht. Harry versucht, ihr ein sicheres Gefühl zu geben. Anscheinend war Hermine wirklich still bei ihrer Verabredung vor zwei Tagen, nach allem, was Harry mir erzählt hat. Hermine still? Armer Harry …

Wie auch immer, ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten. Ich erwarte Deine Eule.

Alles Liebe,
Ron

P.S.: Fühl Dich frei zu jammern, wenn „Professor Malfoy" ein unglaubliches Frettchen ist.

Er war unglaubliches Frettchen … mit umwerfenden stahlgrauen Augen, seidigen, silberblonden Haaren und wie gemeißelten …

Ginny schüttelte energisch den Kopf. „Stopp", schalt sie sich . Auf diese Weise an Draco zu denken. Letztes Jahr mochte es tolerierbar gewesen sein, aber dieses Jahr … Er war ihr Lehrer! Ein gutaussehender Lehrer, aber nichtsdestotrotz ein Lehrer.

Ein Lehrer, der bewaffnet war und bereit, sie zu verfluchen, während sie ein Bad nahm. Sie rollte sich auf den Bauch. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, es jemandem zu erzählen, aber es klang so einfach, wenn sie es sich vorstellte.

„Er hat versucht, mich hinter meinem nackten Rücken zu verfluchen", murmelte sie in ihr Kissen. Das klang unbezahlbar.

Nun, das war ein Gedanke … Wenn er versucht hatte, sie zu verfluchen, wie kam es dann, daß er es nicht durchgezogen hatte? Dieser Gedanke führte dazu, daß sie in dieser Nacht nicht zum Schlafen kam.

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Colin bemerkte, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, und wenn er versuchte, es aus ihr herauszukriegen, antwortete sie nicht. Er ließ das Thema fallen und begann eine Diskussion über das bevorstehende Quidditch-Probetraining in der nächsten Woche.

Die Anspannung zehrte an ihr. Sie stellte extra sicher, daß sie die letzte in der Klasse war, damit sie eine Möglichkeit hatte, mit ihm zu sprechen. Aber sobald alle anderen gingen, zog er sich in das Hinterzimmer, sein Büro, zurück. Er ging ihr also aus dem Weg. Sie hatte das nicht richtig durchgeplant. Einmal verschloß sie sogar die Tür mit einem Zauber. Draco öffnete einfach die Tür und ging unbeeindruckt hindurch. Sie mußte einen Weg finden, mit ihm zu reden. Seit ihrer letzten Unterhaltung hatte sie keinen vernünftigen Acht-Stunden-Schlaf mehr gehabt.

Spät am Abend wanderte sie in ihrer Funktion als Vertrauensschülerin durch die Flure und hielt die Augen offen nach Leuten, die gegen Regeln verstießen. Dann näherte sie sich dem Raum für Verteidigung gegen die Dunklen Künste und ging direkt darauf zu.

Die Kerzen im Raum brannten noch, daraus schloß sie, daß er noch hier sein mußte. Ginny öffnete die Tür zu seinem Büro und trat ein. Er saß an seinem Schreibtisch aus dunklem Mahagoni. Draco hatte seine Robe nicht an, nur einen dunkelgrauen Rollkragenpullover, eine schwarze Hose und schwarze italienische Lederschuhe. Zu ihrer Überraschung hatte er eine schmale, ovale, silberne Brille auf der Nase. Sie mußte zugeben, die Brille ließ ihn gebildeter aussehen.

Seine Kiefer spannten sich an, als sein Blick auf sie fiel. „Ms Weasley, die Sprechzeit ist vorbei. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, stellen Sie sie vor oder nach dem Unterricht."

„Du weißt sehr genau, daß es nicht darum geht." Ginny schloß die Tür. „Ich will wissen, was du in der Nacht gemacht hast, in der ich deinen Zauberstab gefunden habe."

„Verschwinden Sie", befahl er.

„Nein."

„Ich sagte, Sie sollen gehen."

Ginny stampfte mit dem Fuß auf. Es wurde Zeit, daß die starke Ginny auftauchte. „Das werde ich nicht."

„Na gut", schnappte Draco. Er stand auf und ging auf die Tür zu.

Ginny nahm sich die Freiheit, als menschlicher Türstopper zu fungieren und ihn damit am Öffnen der Tür zu hindern. „Ich will wissen, was passiert ist."

„Geh da weg", forderte er.

„Nein."

„Beweg dich, oder ich werde dich bewegen."

„Das werde ich nicht, Draco", sagte sie und benutzte dabei wie selbstverständlich seinen Vornamen. „Hast du versucht, mich umzu…"

Draco packte ihren Arm fest und schob sie gegen die Tür. Es war keine rohe Gewalt, aber es genug, um sie sicher gegen die glatte Oberfläche der Tür gedrückt zu halten. „Du …", zischte er, „hast nicht auf mich gehört." Er stand über sie gebeugt, sein Gesicht gefährlich nahe an ihrem. Sie konnte nichts tun, außer auf seine schmalen Lippen zu starren. „Ich hatte dich davor gewarnt, nach Hogwarts zurückzukommen."

Plötzlich huschte ihr ein Ausdruck von Erkenntnis übers Gesicht. „Das warst du … Du hast die Warnungen geschickt? Aber warum?"

Eine Zeitlang sprach er nicht, aber als er es schließlich tat, wurde Ginnys Welt auf den Kopf gestellt.

„Der Dunkle Lord hat mich geschickt, um dich zu töten."