Kapitel 4
Manche Dinge ändern sich nicht
Ginnys Kopf flog herum. „W-was?"
„Du hast mich verstanden, Virginia", sagte er leise. „Ich hatte direkte Anweisungen, herzukommen und dich zu töten."
Alles Blut schien aus ihr zu weichen. „Aber … aber warum?"
„Dein Vater. Erinnerst du dich, was vor fast drei Monaten passiert ist?"
„Die drei Todesser in Townes Haus", sagte sie.
Draco nickte. „Dein Vater hat einen wichtigen Teil der Pläne des Dunklen Lords vereitelt. Er hatte vor, diese Stadt zu übernehmen und sie zu einer seiner Hochburgen im Land zu machen. Aber jemand hat sie dabei erwischt, wie sie Dunkle Objekte zu einem der neuen Häuser transportiert haben. Dein Vater ist von diesem Jemand informiert worden, der niemand anderer war als Ethan Towne. Er dachte, es wäre nur eine Gruppe unbedeutender Dunkler Magier, aber sobald er geplaudert hat, hat er sein Todesurteil unterschrieben."
„Aber wieso ich?" wiederholte sie, während sie versuchte, ihre Stimme wiederzufinden.
„Dein Vater hat dabei geholfen, den Plan des Dunklen Lords zu durchkreuzen. Also hat der Dunkle Lord nicht nur ihn, sondern auch Towne, Crowe und Todd ins Visier genommen. Er hielt es für die ultimative Rache, ihre Letztgeborenen zu töten. Niemand sollte sein eigenes Kind begraben müssen."
„Und er hat dich beauftragt?"
„Ja, dank meines Vaters. Meinte, ich müßte meine Prioritäten klarstellen." Er bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. „Mein Vater hat letztes Jahr von uns erfahren. Pansy hat dich bei mir ein- und ausgehen sehen und es gewagt, meinem Vater eine Eule zu schicken."
Ginny wurde schlecht.
Schließlich ließ Draco sie los. „Deshalb hab ich …" Er machte eine Pause. „… getan, was ich getan habe."
‚Aufgehört, mit mir zu reden', dachte Ginny. „Er hätte dir was angetan?"
„Und dir", fügte er hinzu.
Ihr Magen überschlug sich.
Draco seufzte tief und nahm seine Brille ab. „Warum hast du meine Warnungen nicht beachtet?"
„Ich dachte, das wäre ein Scherz!" rechtfertigte sie sich. „Du erwartest, daß ich solchen Briefen ohne wirklichen Grund glaube? Meine Güte, du hast sie ja nicht unterschrieben!"
„Und riskiert, daß sie konfisziert werden? Ich denke nicht. Tja, das macht alles wesentlich komplizierter."
„Weshalb? Du-weißt-schon-wer ist nicht hier! Solange Dumbledore in der Nähe ist sind wir beide sicher." Sie machte eine Pause. „Richtig?"
„Ich bin nicht der einzige Todesser in Hogwarts. Du hast eine Handvoll neu Initiierter in deinem Jahrgang. Ich bin nicht sicher, ob sie von meinen Anweisungen wissen." Seine Augen schweiften für einen Augenblick von ihr weg, bevor er ihrem Blick wieder begegnete. „Ich wäre nicht überrascht, wenn sie informiert wären."
„Weiß Dumbledore davon? Daß du …" Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Er erriet sie. „Sieht nicht so aus." Er zuckte mit den Schultern. „Noch einmal, ich wär nicht überrascht, wenn er es wüßte."
Ginny war von Paranoia überkommen. Sie beobachtete, wie er sich abwandte und zu seinem Schreibtisch ging. „Also, was wirst du tun?"
„Ich werd mir was einfallen lassen", erwiderte er, während er ihr den Rücken zuwandte und seine Brille auf den Schreibtisch legte.
Stille breitete sich im Raum aus. Es schien, als hätten sie beide Angst, einen Laut von sich zu geben. Ginnys Herz begann, etwas schneller zu schlagen, und schließlich war sie es, die den Mut aufbrachte, etwas zu sagen. „Warum nicht?" Sie sah, wie er leicht den Kopf in ihre Richtung neigte. „Ich war verletzlich. Warum hast du mich nicht einfach getötet wie die anderen?"
Und dann grinste er, etwas, das so typisch für ihn war, daß sie leicht nostalgisch wurde. „Du hast das Sonett gelesen, oder?"
‚Nur ungefähr 57 825 mal', sagte sie zu sich selbst. „Ja, das habe ich."
„Hast du es verstanden? Es war auf Englisch."
Sie wurde rot. „Ich verstehe es vollkommen", verteidigte sie sich. „Der Dichter hat sehr viel für jemanden empfunden, obwohl er es nicht in der Öffentlichkeit zugeben konnte." Ihr Gesicht wurde heiß, als er sie anstarrte.
Sein Blick war fest auf sie gerichtet. „Deshalb", sagte er schlicht.
Ginnys Herz setzte für ein paar Schläge aus. „Aber … aber … das ist Monate her", sagte sie leise.
„Manche Dinge ändern sich nicht", erwiderte er.
Was konnte sie dazu sagen? Was versuchte er ihr zu sagen?
„Du gehst besser", sagte Draco. „Du mußt noch deine letzten Runden drehen und dann zum Turm zurück."
Ginny nickte. Sie hatte komplett vergessen, daß sie noch ihre Pflichten als Vertrauensschülerin beenden mußte. „Stimmt."
„Bis dann, Red …" Draco setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
„Ich weiß. Keine Unterhaltungen", sagte sie. Hatte er sie gerade wieder „Red" genannt? Sie unterdrückte das tröstliche Gefühl, das in ihr hochsprudelte.
Sie verließ sein Büro.
Ginny konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Wirre Gedanken gingen ihr im Kopf herum. Draco Malfoy war geschickt worden, um sie zu töten? Wußte Dumbledore davon? Draco wollte sie nicht töten? Wieso nicht? Sie bedeutete ihm etwas … aber wieviel?
ooOOoo
Es wurde Gewohnheit, daß sie Blickkontakte vermieden. Ginny beteiligte sie nie freiwillig am Unterricht und antwortete nur, wenn sie aufgerufen wurde. Draco nahm sie zwar dran, aber nur zu sehr seltenen Gelegenheiten. Er konnte sie nicht vollständig ignorieren. Sie war eine Schülerin und mußte zum Antworten aufgefordert werden, besonders da sie im Unterricht immer still war. Diese Zeit des Tages war immer schwierig. Niemand bemerkte, daß für ihn ihre Stimme in der Luft weiterschwang, wenn sie eine Antwort gab, auch wenn es nur ein oder zwei Worte waren. Ihre Stimme umgab ihn.
Sie wußten nicht, daß ein Augenpaar sie beobachtete und geistig Notizen machte.
