Kapitel 6
Wieviel du mir bedeutest
Sie organisierte ihren Stundenplan neu: Schule, schnelle Mahlzeiten, Hausaufgaben und daran arbeiten, bis sie schläfrig wurde.
Colin, der glücklicherweise dieselben Fächer belegte wie sie, weckte sie auf, wenn sie während des Unterrichts einschlief. Sie hatte es ihm rechtzeitig gesagt, denn sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, daß Gryffindor Punkte verlor.
„Was genau machst du, daß du zu wenig schläfst?" fragte Colin.
Sie schüttelte nur den Kopf. „Gar nichts."
„Du verheimlichst mir was, Ginny." Er runzelte die Stirn. „Ziemlich unfair …"
„Bitte, Colin, reite nicht drauf rum", grummelte sie, während sie über ihrem Buch für Geschichte der Zauberei saß.
Colin seufzte nur. „Gibt es irgendeinen Weg, dich dazu zu bringen, dich mir anzuvertrauen? Ich meine wirklich anvertrauen? Mir zu erzählen, was du denkst oder worüber du dir Sorgen machst?"
„Colin, bitte versteh das", flehte Ginny. „Ich kann mich nicht einfach jemandem anvertrauen, nicht, wenn ich nicht soweit bin. Ich hab dir doch gesagt, wenn ich bereit bin …"
„… werde ich der erste sein, dem du es erzählst", beendete Colin den Satz. „Und ich warte immer noch auf dich."
Ginny schlug ihr Buch zu. „Wir sehen uns später." Sie nahm das Buch und ging zu ihrem Schlafsaal. Sie warf sich aufs Bett und warf das Buch auf den Boden, dann zog sie eine braune Papiertüte aus ihrer Truhe und machte sich an die Arbeit.
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Die Probe-UTZs waren vorbei. Sie hatte ihre letzte Prüfung am Freitag gehabt. Nach ganzen zwei Wochen mit vier Stunden Schlaf pro Nacht war Ginny fertig.
Sie hatte es in einer kleinen Schachtel verpackt und mit braunem Papier umwickelt. Sie hielt es eng an sich gedrückt, ihr Herz schlug doppelt so schnell wie gewöhnlich. Sie kam zum Klassenraum für Verteidigung gegen die Dunklen Künste und ging direkt auf das Lehrerbüro zu. Nach einem tiefen Atemzug klopfte sie.
„Herein", ertönte seine Stimme. Die Tür öffnete sich langsam, und Draco blickte auf und sah Ginny. Er sah sie durch seine Brille hindurch an. Er saß auf dem schwarzen Sofa, das in der Nähe seines Schreibtischs an der Wand stand. „Ja?"
Sie reichte ihm unbeholfen das Päckchen. „Hier. Das ist für dich. Frohe Weihnachten."
Lange Zeit betrachtete er es, ohne ein Wort zu sagen. Für Ginny sah es so aus, als wollte er es an die Wand werfen. „Das kann ich nicht annehmen."
„Keine Sorge", unterbrach Ginny. „Es ist keine Karte dabei oder so was. Niemand wird wissen, daß es von mir ist."
Zögerlich entfernte er sorgfältig das Papier und legte es auf das Sofa. Er öffnete die Schachtel und starrte erneut. Langsam nahm er den Inhalt heraus und begutachtete ihn. Es war ein waldgrüner Schal mit kurzen Fransen an den Enden. An der rechten Seite eines der Enden waren seine Initialen in Gold eingestickt.
„Ich … Ich hab ihn selbst gemacht", gab sie verlegen zu. „Er ist mit einen Wärmezauber belegt. Da du niemanden hast, mit dem du die Ferien verbringen kannst …"
„Ich kann das nicht annehmen", sagte er und strich mit den Fingern über das Garn. „Ich hab nichts für dich."
„Das hatte ich nicht erwartet", erwiderte Ginny, „also mach dir keine Gedanken."
Er sah zu ihr auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie fühlte sich berauscht. Ihr Herz schlug schnell und drängte sie, ihm zu erzählen, wie es seit letztem Jahr gewesen war. Sie wollte ihm sagen, wie sie es vermißte, sich mit ihm zu treffen und mit ihm zu reden, daß sie sich fühlte wie ein dummes Mädchen, das von Amors Pfeil getroffen war und wie sie sich heimlich auf jede Stunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste freute, seit sie ihn bei dem Festmahl zu Schulbeginn gesehen hatte. Obwohl er sie über die Natur seines Auftrags aufgeklärt hatte, wollte sie dennoch mit ihm zusammensein.
‚Der Dichter hat sehr viel für jemanden empfunden, obwohl er es nicht in der Öffentlichkeit zugeben konnte.'
‚Deswegen.'
‚Aber … aber … das ist Monate her.'
‚Manche Dinge ändern sich nicht.'
Sie wollte ihn verstehen. „Draco … wie …"
Draco blickte wieder zu ihr auf.
„Wieviel bedeute ich dir?"
Draco faltete mit gesenktem Kopf den Schal zusammen. „Genug, um dich nicht tot sehen zu wollen."
„Das könnte alles mögliche bedeuten."
Er sah sie weiterhin nicht an. „Dann interpretier's, wie du willst."
Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa. „Warst du jemals verliebt?" fragte sie unvermittelt.
In sein Gesicht wäre Schock geschrieben gewesen. Aber dank anspruchsvollem emotionalen Trainings verbarg Draco seine Reaktion hinter seinen stahlgrauen Augen. „Also, das ist ein gestörtes neues Thema."
„Antworte mir einfach."
„Warum stellst du so viele Fragen?"
„Ich will verstehen."
„Was gibt's da zu verstehen? Ich werde einen Weg finden, um dich zu retten."
„Aber warum?"
„Nenn es meine gute Natur, wenn du eine Bezeichnung brauchst."
„Zweifelhaft. Was sind deine Motive? Mitleid? Angst? Warum machst du dir die Mühe, dich darum zu kümmern?"
„Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon mal?"
Ginny legte die Stirn in Falten. „Du hast mir ein Gedicht geschickt."
Draco grinste. „Wir hatten dieses Gespräch tatsächlich schon mal. So was Seltsames, dieses Déjà-vu …"
„Hör auf rumzualbern, Draco. Wenn ich dir wichtig bin, dann würde ich gerne wissen wie wichtig!" Sie kochte vor Wut.
„Warum zur Hölle sollte das eine Rolle spielen!"
„Weil ich darin vielleicht etwas Trost finden würde!" rief sie und überraschte damit sogar sich selbst. Sie ballte die Hände im Schoß zu Fäusten, bis ihre Knöchel weiß wurden.
Er war leicht erschüttert von ihrem plötzlichen Ausbruch. „Was für Trost?"
„Irgendeinen!" platzte sie heraus. „Wenn du so leiden würdest wie ich …"
„Leiden?" Würde er wirklich irgend etwas zugeben?
„Ja, du Klotz! Monatelang hab ich mir Sorgen um dich gemacht. Und ich hasse das! Ich hasse es, wieviel du mir bedeutest." Sie biß sich auf die Lippe und stand auf.
Sie war bereit zu gehen, aber Draco hielt sie am Arm fest. „Und was bedeute ich dir?" fragte er leise.
Sie sah auf ihre Füße hinunter. „Ich bin gern mit dir zusammen.", murmelte sie, aber es war laut genug, daß er es hören konnte. „Und ich habe es vermißt, mich mit dir treffen zu können. Es war ein Teil von mir." Sie schüttelte den Kopf. „Na ja, egal …"
„Und warum?" fragte er. Er hielt noch immer ihren Arm fest. Sie biß sich auf die Lippe, bis sie weiß wurde, und er seufzte. „Manchmal bereue ich es, daß ich mich dir jemals anvertraut hab in Snapes Zutatenschrank."
„Aber wenn du das nicht hättest …"
„Weil ich mit dir geredet habe, warst du mir gegenüber unvorsichtig. Du hättest nie einen Handel mit mir abgeschlossen oder mich erpreßt, wenn du Angst vor mir gehabt hättest. Das war mein Fehler."
„Unter normalen Umständen hätten wir beide nie miteinander gesprochen."
„Vielleicht wäre es so besser gewesen", fuhr er leise fort. „Wir würden das alles hier nicht durchmachen."
Ginny lächelte. „Draco, bitte", spöttelte sie. „Was mußt du meinetwegen durchmachen?"
„Das Gedicht, Red", erinnerte er. „Ich hätte schwören können, daß ich dir das schon dreimal gesagt hab. Wenn du wissen willst, wie die Dinge liegen, lies es. Da steht alles drin."
„Wirklich?"
„Was zum Teufel willst du von mir!" Draco packte ihre Arme. „Willst du, daß ich alles noch mal verkünde? Jahrelang habe ich mich nur um mein eigenes Glück und mein eigenes Wohl gesorgt. Und dann tue ich das Undenkbare: Ich mache mir Gedanken um deine Sicherheit. Bis letztes Jahr habe ich dich keines Blickes gewürdigt. Jetzt tue ich, was ich kann, damit es dir gutgeht." Sein Gesicht näherte sich ihr. „Jetzt sieh dir an, wieviel du mir bedeutest."
Ginny schob ihn energisch von sich. Er stolperte rückwärts, und sie fiel auf sein Sofa. Nach einigen zornigen Atemzügen setzte sie sich auf die Kante des Sofas und vergrub das Gesicht in den Händen. Er kniete sich vor ihr auf den Boden. „Das ist so schwer. Ich weiß nicht, was ich tun soll", murmelte sie.
„Ich auch nicht", gestand Draco, während er ihr gedankenverloren den Pony aus dem Gesicht strich. „Ist das nicht großartig?" fragte er sarkastisch.
Ginny blickte zu ihm auf, gerade als seine Finger mit dem Ende einer ihrer Haarsträhnen spielten. „Draco …"
„Das ist das letzte Mal, daß wir das diskutieren", sagte er. „Das muß es."
Ginny berührte vorsichtig seinen Unterarm, an der Stelle, wo das Dunkle Mal eingebrannt war. „Hat es wehgetan?"
Draco lächelte zynisch. „So sehr, daß ich nicht schreien konnte."
Sie nickte. „Was wird also mit mir passieren? Was wird mit dir passieren?"
Er zuckte die Schultern. „Nichts. Dafür werde ich sorgen."
„Du wirst mich schützen?"
Er grinste wieder. „Ich bin nicht dein persönlicher Leibwächter. Aber … ja, das werde ich."
Ginny legte ihre Arme in einer losen Umarmung um seinen Hals. Er schluckte und atmete dann tief ein, als ihr Haar ihn an der Nase kitzelte. Ein Duft nach Honig umgab sie. Sie ließ ihn rasch wieder los. „Tut mir leid", entschuldigte sie sich.
Draco erstarrte, die Augen auf den Boden gerichtet. „Ist schon gut." Seine Arme und seine Brust schmerzten seltsam sehnsüchtig.
Sie stand ungeschickt auf, gleichzeitig mit ihm. „Tja, ich gehe wohl besser. Du weißt schon, ich muß packen."
„Ja." Er bewegte sich nicht, aber er wandte den Blick von ihr ab. Als sie die Tür öffnete, sagte er: „Fröhliche Weihnachten, Red."
Sie lächelte ihn an. „Fröhliche Weihnachten, Draco", erwiderte sie und schloß die Tür hinter sich.
Ein Hauch von seinem Geruch blieb an ihrer Robe haften, und ihr Duft blieb ebenso bei ihm.
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Weihnachten war etwas Besonderes. Alle waren zu Hause, einschließlich Harry und Hermine. Die beiden verbrachten den Weihnachtsabend im Fuchsbau, dann den ersten Weihnachtstag bei den Grangers. Bill hatte seine Frau Fleur mitgebracht, und Percy seine Verlobte, Penelope. Die Ferien im Fuchsbau waren warm und einladend, etwas, das Ginny wirklich brauchte.
Ihr Leben war in Gefahr, sobald sie zur Schule zurückkehrte. Draco Malfoy war dafür verantwortlich. Er war ein Todesser, der verdeckt in Hogwarts arbeitete, um sie zu töten. Es war keine Aufgabe, von der er begeistert gewesen war. Die emotionalen Komplikationen zwischen ihnen führten dazu, daß Draco versuchte, sie vor diesem Wahnsinn zu retten. Aber konnte er dem Dunklen Lord entkommen?
„Bist du sicher, daß du zurechtkommst?" fragte Molly ihre Tochter, als sie am Bahnsteig Neundreiviertel standen. Es war der Tag nach Neujahr, und sie war auf dem Weg zurück zur Schule.
„Mum, ich hab das schon sechsmal gemacht." Sie verdrehte die Augen. „Es ist ziemlich einfach, in den Zug einzusteigen."
„Entschuldige, Liebes." Molly lächelte. „Ich kann mir einfach nicht helfen. Bald wird mein jüngstes Kind erwachsen sein. Du kannst nicht ändern, daß eine Mutter ihr jüngstes Kind liebevoll betrachtet."
‚Er hielt es für die ultimative Rache, ihre Letztgeborenen zu töten. Niemand sollte sein eigenes Kind begraben müssen.'
Ginny schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Du hast recht." Sie lächelte. „Aber ehrlich, ich komm schon zurecht. Colin hat gesagt, er würde mich hier treffen."
Molly seufzte. „Na gut, ich denke, das ist in Ordnung. Wann wollte er dich treffen?"
„Um zwanzig vor elf, er müßte jeden Moment hier sein."
„Ja, und der Zug fährt bald ab", überlegte Molly laut. „Ich gehe besser. Ich muß das Haus aufräumen, nach dem, was Fred und George damit angestellt haben. Haben es in die Luft gesprengt mit ihrem Feuerwerk. Bist du sicher, daß du zurechtkommst?"
„Ganz sicher." Ginny lächelte.
Molly umarmte ihre Tochter zum Abschied und ging. Ginny stand bei ihrem Gepäckwagen und hielt Ausschau nach Colin, der gleich durch den Eingang zum Bahnsteig kommen mußte.
Plötzlich sah sie nur noch Dunkelheit.
