Kapitel 11
Hab ich was verpaßt?

„Nein … nein", murmelte Draco unaufhörlich. Voldemort war tot. Und Ginny …

Plötzlich lösten sich seine Atemwege, und kalte Luft füllte seine Lunge.

Harry trat an Dracos Seite und zog ihn am Arm hoch. „Alles in Ordnung bei dir, Malfoy? Was ist mit Gin …?"

Draco stieß ihn von sich und schlug ihm ins Gesicht. In einem benommenen Wutanfall fiel Draco zu Boden. Harry fiel ebenfalls durch die Wucht des Schlags. „Du Idiot!" fauchte Draco. „Hab ich dich gebeten, dich einzumischen?"

Harry wischte sich das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe ab. „Was zum Teufel ist dein Problem?"

„Du hast ihn umgebracht!"

„Und wo ist das Problem?"

„Du hast sie getötet!" brüllte Draco. Er holte tief Luft. In einem Sturm von Erinnerungen gingen ihm Bilder von Ginny durch den Kopf: Er konnte sich sehen, wie er auf seinem Schulsprecherbett lag, die Augen geschlossen, und Ginny las ihm einen Text vor. Er sah, wie sie sich vor seinem Kamin sitzend damit abmühte, Victor Hugo zu lesen. Er beobachtete, wie Ginny im Korridor an ihm vorbeiging, ihm Blicke zuwarf, während er seinen Unterricht abhielt, wie sie ihm zu Weihnachten den Schal gab. Seine Brust fühlte sich hohl an, als wäre nichts darinnen.

„Was meinst …?" fragte Harry.

„Der Dunkle Lord hat einen Unicorpus-Zauber auf sie angewandt", antwortete Draco. Sein Blick verschwamm.

Harrys Blick huschte zu Ginny, die hinter dem sitzenden Draco lag. „Nein. Ich hatte keine Ahnung" gestand er bedauernd.

„Natürlich nicht", höhnte Draco. Zorn und Schmerz waren in seinem Blick erkennbar. „Es macht keinen Unterschied", würgte Draco erstickt hervor. „Sie ist tot." Er konnte den Schmerz nicht unterdrücken. Es war, als würde er innerlich auseinandergerissen.

Harry stand langsam auf. „Nein. Ron … verdammt." Er ging zur Tür und verließ den Raum.

Draco lehnte den Kopf gegen seine Faust, wobei er Blut über sein Gesicht verschmierte. Es war ihm egal, daß seine Stirn mit Blutspuren übersät war. Im Moment war ihm alles egal. Er ignorierte die Tatsache, daß er allein war in einem Raum mit elf bewußtlosen Menschen.

Er konnte sie in Gedanken vor sich sehen. In Ginnys feuerrotes Haar mischten sich goldene Strähnen, Draco konnte es im Sonnenlicht sehen. Sie hatte exakt 22 Sommersprossen, elf auf der Nase, fünf auf der rechten Seite und sechs auf der linken. Wenn sie aufrichtig lächelte, lächelten ihre Augen mit, und wenn sie lachte, hatten ihre Augen die Form von Regenbögen. Draco erinnerte sich an die fünf Brauntöne, aus denen ihre Augenfarbe bestand: Kaffee, Schokolade, Haselnuß, Gelbbraun und goldene Sprenkel. Wenn er die Augen schloß, konnte er sehen, wie sie ihn anlächelte. Und dann fühlte er keinen Schmerz mehr. ‚Fühlt sich so der Tod an?', überlegte er. Er fühlte sich vollkommen taub vom Kopf bis zu den Zehen, verloren, dunkel … allein.

„Draco …?" ertönte hinter ihm ein leises Murmeln.

Ihm stockte der Atem. Halluzinationen waren ein Zeichen von Wahnsinn. Er mußte es sich einbilden, daß er ihren heiseren Atem hinter sich hören konnte.

„Draco?" Da war es wieder, und zögernd drehte er sich um.

Ginny setzte sich mit ausgestreckten Beinen aufrecht hin. Ihr linkes Bein war voller Blutergüsse, und sie zuckte zusammen, als sie ihr Gewicht zum Sitzen auf die rechte Seite verlagerte. Sie lächelte ihn matt an. „Hast du gewonnen? Geht's dir gut?"

‚Aber wie …?' Draco wurde sich bewußt, daß sein Herz wieder schlug. Sie konnte unmöglich am Leben sein! War sie ein Engel, der sich zum letzten Mal verabschiedete? Zögerlich und vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte ihre Haarspitzen. Er konnte die Strähnen an seinen Fingerkuppen spüren. „Oh Gott …", preßte er hervor. „Virginia …"

„Was i…?" Sie keuchte, als Draco sie in eine feste Umarmung zog. Seine Arme umklammerten sie, während seine Hände sich in ihren Haaren verloren, ihre Brust gegen seine gepreßt und seine Nase in ihrem Nacken vergraben. „Draco …"

Draco versuchte, alles aufzunehmen: das Gefühl ihrer Haare zwischen seinen Fingern, ihre Wärme an seinem Körper und den Honigduft ihrer Haut. Gierig und selbstsüchtig hielt er sie an sich gedrückt. „Ich dachte, du wärst tot.", murmelte er und vergrub sein Gesicht tiefer an ihrer Schulter.

„Nein, ich weigere mich zu glauben …" Ron warf die Tür auf, gefolgt von einem bestürzten Harry. Beide erstarrten, als sie sahen, wie Draco Ginny umarmte. Ron kochte vor Wut. „Nur einen …!"

„Warte!" Harry umfaßte mit einer Hand Rons Arm und hielt ihm die andere vor den Mund.

Ginny legte ihren Kopf an Dracos Schulter. „Es geht mir gut", versicherte sie ihm und schlang ihre Arme um ihn. „Es geht mir gut."

Die beiden umarmten sich weiter, ohne ihre Zuschauer wahrzunehmen. Harry ließ seine Arme schlaff sinken, als ihm etwas klarwurde.

„Hab … Hab ich was verpaßt?" grummelte Ron, während er weiterhin beobachtete, wie seine kleine Schwester den Idioten umarmte.

„Das haben wir, glaub ich, alle", flüsterte Harry.