Kapitel 12
Man kann es sich nicht aussuchen
Ginnys Lider flatterten, dann öffnete sie die Augen. Auf den ersten Blick schien es, als stehe der Raum in Flammen. Sie holte tief Luft. Ihre Sicht klärte sich, und sie betrachtete die Rosen direkt vor sich. Aber es war nicht nur ein Bouquet. Das Zimmer war ein Garten aus roten Rosen aller Größen. Die Wände waren gesäumt von Blumensträußen.
„Seht, sie ist wach!" rief Ron.
Sie musterte die Menschen um sich herum. „Mum … Dad … Ron … Harry … Wo bin ich?"
„St. Mungos", antwortete Harry.
Molly lächelte gemeinsam mit Arthur. „Laß uns gehen und es den Jungs sagen. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Ginny!" Beide umarmten sie so fest, daß sie ihr beinah die nötige Luftzufuhr abschnitten.
„Tut mir leid." Ginny lächelte, während sie hustete und nach Luft schnappte.
„Es geht dir gut, das ist alles, was zählt", sagte Molly. Sie und ihr Ehemann gingen, um ihre übrigen Söhne zu suchen. Bald war Ginny wieder mit ihren älteren Brüdern vereint und wurde mit Bedenken und Sorgen überschüttet. Sie bestand darauf, daß es ihr gutging, und daß sie schlafen mußte, weil sie so müde war.
„Es muß eine harte Erfahrung gewesen sein", sagte Bill. „Ron hat uns alles darüber erzählt."
Ginny bemerkte, daß ihre Familie aus irgendeinem Grund verstohlene Blicke auf die Karte warf, die in dem Strauß steckte, der ihr am nächsten stand.
Nach einer Weile gelang es ihr, etwas Ruhe zu finden, als alle zum Mittagessen gingen.
Neugierig streckte Ginny die Hand aus und griff nach der Karte in dem Strauß. Darauf stand:
An Virginia,
Gute Besserung.
Draco Malfoy
Das war wahrscheinlich so sentimental wie er werden konnte.
Die Tür öffnete sich, und Ginny blickte auf. Hermine Granger trat durch die Tür, mit einem kleinen Doktor-Teddybären in der Hand. Hermine sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. „Meine Güte … Sieh dir das alles an." Sie wandte sich lächelnd zu Ginny um. „Da ist dir wohl jemand zugetan."
Ginny lief leicht rosa an.
Hermine reichte ihr den Bären, als sie sich neben sie setzte. „Hier."
Ginny lächelte und legte ihn sich auf den Schoß. „Danke."
„Also", begann Hermine und sah sich um. „Du und Malfoy scheint euch schrecklich nahe zu sein. Das hier ist doch von Malfoy, oder?" fragte sie und machte eine Geste auf die opulenten Blumen. „Ron und Harry haben mir erzählt, was passiert ist, daher hab ich angenommen …"
Ginny schüttelte den Kopf. „Hermine, so ist das nicht. Wir mögen uns. Wir sind Freunde. Wir sind nicht …"
„Verliebt?" beendete Hermine den Satz.
Ginny nickte.
„Warum nicht?"
„In Draco? Nicht ausgerechnet in ihn."
„Wieso nicht? Vielleicht sollte ich mich mit ihm anfreunden. Wenn er so seine Freunde behandelt, stell dir vor, wie es sein muß, seine Freundin zu sein."
„Verdammt verwirrend. Außerdem ist Draco weit davon entfernt, mein Typ zu sein."
„Tatsächlich? Was ist dein Typ?" fragte Hermine."
„Jemand der süß ist, verständnisvoll, verantwortungsbewußt, klug … Er muß nicht unglaublich gutaussehend oder reich sein. Aber Draco", verglich Ginny, „ist launisch, unfaßbar voreingenommen, meistens arrogant, rücksichtslos …" Ginny unterbrach sich. „Na ja … vielleicht nicht immer. Ich meine, er hat versucht, mich zu schützen, und er hat mich gerettet. Und als er mich umarmt hat, war es so fest … als bräuchte er mich." Sie sah zu Hermine auf. „Woher wußtest du, daß du Harry liebst?"
„Ehrlich gesagt hab ich geschlafen, als es mir bewußt geworden ist." Hermine erinnerte sich liebevoll daran. „Wir sind nebeneinander auf dem Sofa eingeschlafen. Ich bin am nächsten Morgen früh aufgewacht, und das Erste, was ich gesehen habe, war sein Gesicht, wie er friedlich schlief. Und dann ist mir klargeworden, daß ich gerne sein Frieden wäre. Bei all dem, was ihm passiert, würde es mir so viel bedeuten, wenn ich für ihn Ruhe bedeuten würde."
Ginny nickte. „Als er mich gehalten hat, als würde er mich brauchen, hat etwas in mir geschrieen. Ich hab gedacht, ich würde alles tun, um da zu sein, wenn er mich braucht."
Hermine lächelte leicht. „Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt."
Ein betäubter Ausdruck huschte durch Ginnys Augen, und sie starrte auf den Bären hinunter. „Was ist mit ihm? Was empfindet er?"
„Vielleicht solltest du ihn fragten, wenn er kommt." Hermine wurde unterbrochen, als sich die Tür öffnete.
Eine dünne, gespenstisch bleiche, schöne Frau trat in den Raum. „Guten Tag, Ms Weasley." Sie sah Hermine an, dann wieder Ginny. „Ich hatte gehofft, wir könnte uns unterhalten."
„Oh, ich kann gehen", sagte Hermine und stand auf. „Ich sollte wirklich draußen auf die anderen warten." Sie machte schnell eine aufmunternde Geste mit beiden Daumen und schloß dann sie Tür hinter sich.
„Nun", sagte Narzissa, während sie einen Strauß aus einem Dutzend weißer Rosen auf einen Tisch in der Nähe stellte. „Wie ich sehe, hat mein Sohn keine Zeit verschwendet."
Ginny schluckte nervös. „Sieht so aus." Dies war das erste Mal, daß sie mit der Frau redete. Sie wußte, daß Narzissa Malfoy im selben Jahrgang gewesen war wie ihr Vater, daß sie in Slytherin gewesen war, und daß sie direkt nach Hogwarts Lucius Malfoy geheiratet hatte. Sie war Draco offensichtlich eine sehr gute Mutter. Wann immer Draco von ihr sprach, wurde sein Blick ein wenig weicher, als würde er sich an etwas Schönes erinnern.
„Wie geht es Ihnen?"
„Gut, Mrs Malfoy. Und Ihnen?"
„Sehr gut, danke." Sie blieb neben Ginnys Bett stehen. „Eigentlich bin ich vorbeigekommen, um mit Ihnen über meinen Sohn zu sprechen."
„Ihren … Sohn?" Ginny schluckte.
„Ja." Narzissa nickte. „Ich werde offen mit Ihnen sein, Ms Weasley. Mein Sohn sollte zu einem Ebenbild seines Vaters erzogen werden. Es mag den beiden nicht klargewesen sein, aber ich weiß, mit was für Geschäften sie sich befaßt haben. Es verändert das ganze Leben eines Sechzehnjährigen, wenn er fünf Menschen getötet hat. Ich habe zugesehen, wie sich mein Sohn verändert hat, von einem hitzköpfigen Jungen zu einem stillen, gleichgültigen jungen Mann. Und es tat mir weh. Es war ihm egal, ob er lebte oder tot war. Aber letztes Jahr ist etwas passiert."
Ginny schluckte erneut. „W-wirklich?" Sie spielte dumm.
„Ja."
„Was ist passiert?"
„Sie, offenbar."
Ginny wurde blaß, ihre Sommersprossen stachen flammend hervor. „Ich?"
„Einfach gesagt, mein Sohn hat einen Grund zum Leben gefunden. Er hat jemanden gefunden, den er beschützen und für den er leben kann. Verstehen sie, Ms Weasley?"
ooOOoo
„Wer ist da drinnen?" fragte Harry seine Freundin. Er und Ron waren zurückgekehrt und standen mit Hermine vor der Tür.
„Narzissa Malfoy", erwiderte Hermine. „Sie wollte allein mit Ginny sprechen. Vermutlich um die Hochzeit zu planen." Hermine kicherte.
„Mach darüber keine Witze", stieß Ron wütend zwischen den Zähnen hervor.
„Ich dachte, du hättest kein Problem mit ihr?" fragte Harry.
„Hab ich auch nicht. Es sind die zusätzlichen Probleme, die sie mitbringt: Todesser und Todesser junior."
„Ähm, Ron", unterbrach Hermine."
„Als würde ich tatsächlich das Frettchen als Schwager wollen."
„Ron", warnte Harry.
„Satanische, dunkle Opfer an jedem Malfoy-Feiertag …"
„Ich versichere dir, wir bringen zu Weihnachten keine Blutopfer dar. Vielleicht ein Hasenfuß jedes Ostern. Aber die Tradition könnte sich ändern", sagte er ruhige Stimme hinter ihm.
„Rons Augen weiteten sich, und er holte tief Luft. „Er steht direkt hinter mir, hm?"
Harry und Hermine nickten.
„Schläft Virginia?" fragte Draco.
„Nein, sie redet mit deiner Mutter", informierte Hermine.
Diesmal weiteten sich Dracos Augen. „Was?!"
ooOOoo
„Etwas", antwortete Ginny.
„Er ist nicht sonderlich gut darin, über seine Gefühle zu sprechen oder sie zu zeigen. Er braucht eine sehr verständnisvolle, geduldige Frau in seinem Leben. Oder eine, die keine Angst hat, ihn herumzuschubsen", sagte Narzissa.
War das wirklich der Rat einer Mutter, grübelte Ginny.
Die Tür flog auf und beinahe aus den Angeln. Draco stand in der Tür, mit einem erkennbar falschen, ruhigen Ausdruck im Gesicht. „Mutter …", sagte er.
„Hallo, Schatz", grüßte Narzissa, wobei ihr fast ein unschuldiger Tonfall gelang. Fast.
„Was machst du hier?" fragte Draco lässig.
„Ich unterhalte mich mit Ms Weasley. Wonach sieht es denn aus?" fragte Narzissa. „Ehrlich, bitte sieh davon ab, voreilig fürchterliche falsche Schlüsse zu ziehen."
„Nun, es ist ziemlich unangenehm, wenn meine Mutter sich mit meiner … meiner …"
„Ja?" hakte Narzissa nach.
„Schülerin unterhält", fügte Draco rasch hinzu. „Einer Schülerin. Einer Freundin. Ja."
„Tja …" Narzissa ging zu ihrem Sohn herüber und legte ihm ein Hand auf die Schulter. „Ich bin sicher, ihr zwei habt viel zu besprechen." Sie drehte sich zu Ginny um. „Ms Weasley, ich wünsche Ihnen eine schnelle Genesung."
Ginny nickte. „Danke. Ähm, p-passen Sie auf sich auf."
Narzissa verließ das Zimmer. Draco und Ginny waren allein. Draco wandte sich zu Ginny um, furchtbar still. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, seit er sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Er hatte sie nur abgesetzt und war gegangen.
„Willst du dich nicht setzen?" Sie bot ihm den Stuhl neben ihrem Bett an.
Draco setzte sich zögerlich hin. Stille.
„Die Rosen gefallen mir", sagte sie.
„Das freut mich."
Wieder Stille. Beide sahen sich entgegengesetzte Ecken des Zimmers an.
„Also …", sagten sie beide gleichzeitig.
„Ähm …" Draco sah auf den Boden.
„Ja, also … wie geht's deiner Wange?" fragte Ginny. Sie konnte kaum eine Spur von einer Narbe in seinem Gesicht sehen.
„Gut. Was ist mit deinem Bein?" fragte er.
„Es heilt. So gut wie gesund, schätz ich."
„Gut." Er nickte. „Gut."
Wieder senkte sich Stille über sie. „Also …", sagten sie wieder.
„Du meine Güte, Draco, wir hören uns an wie Idioten!" sagte Ginny verstimmt.
„Na ja, ich würde nicht unbedingt „Idioten" sagen", verbesserte Draco. „Eher wie ein stummes Wiesel."
„Und ein sprachloses Frettchen", ergänzte Ginny.
Draco grinste. „Also, worüber hast du mit meiner Mutter geredet?"
„Deine emotionalen Probleme", scherzte sie. „Sie sagt, du könntest Schwierigkeiten haben, deine Gefühle auszudrücken."
„Na ja, ich bin keine sehr wortreiche Person."
„Du hast mich vor deinem rachsüchtigen Vater geschützt, mir ein liebeserklärendes Gedicht gegeben, versucht, mich in Sicherheit zu bringen, anstatt mich umzubringen, und du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten." Ginny lächelte. „Ich glaube, es bedurfte erst deiner Mutter, damit ich etwas erkennen konnte."
„Und was war das?"
„Ich brauche nicht immer Worte, um zu verstehen, woran du denkst."
Draco wandte den Blick von ihr ab.
„Ist Du-weißt-schon-wer also wirklich tot? Ist es alles vorbei?"
„Sieh es dir selbst an." Er zog einen aufgerollten Tagespropheten aus seiner Tasche.
Ginny runzelte die Stirn. Der Leitartikel handelte vom Tod eines Ministeriumsangestellten. Ein Bild zeigte das Dunkle Mal über seinem Haus. „Aber ich dachte, Harry …"
„Ich weiß. Aber es ergibt Sinn, daß er noch am Leben ist. Ich meine, du bist nicht gestorben", gab Draco zu bedenken. „Er ist wahrscheinlich verschwunden, denn nach dem, was Potter sagt, wurde sein Körper nicht gefunden."
„Glaubst du, der Zauber wirkt immer noch auf mich?"
„Der Heiler sagte, es gebe keine Spur davon."
Ginny seufzte erleichtert. Dann holte sie tief Atem. „Es scheint, ich entkomme Du-weißt-schon-wem nie."
Draco lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Augen auf die Wand ihr gegenüber gerichtet. „Zuerst war es mein Vater, der dir das Tagebuch zugesteckt hat. Vielleicht kannst du etwas Ruhe finden, wenn du dich von der Malfoy-Linie fernhältst."
Ginny legte die Zeitung zur Seite. „Was wirst du jetzt machen? Du kannst schließlich nicht weiterhin Todesser sein."
Draco zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich behalte wahrscheinlich meinen momentanen Job. Wer weiß, vielleicht werde ich ja der erste Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste, der länger als drei Jahre bleibt."
Ginny blickte hinunter auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. „Und wir? Was ist mit uns?"
Draco stand auf, kratzte sich einen Augenblick die Stirn und setzte sich dann langsam direkt neben sie aufs Bett. Eine Welle von Mut überspülte ihn, als seine Finger sich vom Ärmel ihres weißen Nachthemds nach oben bewegten, um zu ihrer Wange zu gleiten. „Ich …", versuchte er zu antworten, während seine Finger mit den Haaren in ihrem Nacken spielten.
Ginny lehnte sich nach vorn, und er konnte ihren Pony an seiner Stirn spüren. Sie hielt die Augen einen Moment geschlossen und öffnete sie dann wieder. Kaffee traf auf Stahl. „Du hast keine Ahnung, oder?"
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte diese Worte schon einmal gehört. ‚Woher kommt dieses Déjà-vu?' „Ich … ich …"
Sie nahm die Hand, die in ihrem Haar versunken war, und nahm sie in ihre eigene. „Bist du bereit zu warten?"
„Was?" Er rückte leicht von ihr ab.
„Im Juni werden sich die Dinge ändern. Im Augenblick sind wir Schülerin und Lehrer, aber nach meinem Abschluß werde ich Virginia Weasley sein – ein Mädchen – und du wirst Draco Malfoy sein – ein Junge." Ginny schluckte, als ihr Tränen in die Augen stiegen. „Würdest du einen Versuch wagen?"
Draco schloß die Augen, dann sah er ihr direkt in die Augen.
