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Gefangen
"Wie ich sehe, habt Ihr meinem Wunsch entsprochen..."
Die liebliche Stimme der Frau klang wie Musik in den Ohren des Mannes. Er nickte. "Er ist in Gewahrsam."
"Gut." Sie beugte sich zu ihm herab und brachte ihr Gesicht dicht vor das seine. Täuschte er sich, oder nahm es gerade eine dunklere Farbe an als zuvor?
"In Gewahrsam reicht aber nicht." sagte sie ruhig. "Ein Mann wie er kann sich aus jeder Lage befreien; er hat es schon öfter getan. Sein Wille ist stark und auch seine Entschlossenheit solltet Ihr nicht unterschätzen."
Der Mann sah sie unsicher an. "Ihr meint..."
Sie nickte. "Er ist eine Gefahr. Für mich, jedoch noch weit mehr für Euch. Wenn Ihr jemals die Herrschaft über Gondor besitzen wollt, müßt Ihr ihn beseitigen."
Der Mann wußte, was das bedeutete. Er hatte keine Wahl. Und obwohl sich sein Gewissen immer lauter meldete, konnte er nicht anders als den Worten der Frau in dem weißen Gewand zu glauben. Solange der König lebte, würde er nie das Land regieren können. Und seitdem er ihr das erste Mal begegnet war, war das sein sehnlichster Wunsch. Die Herrschaft über Gondor.
"Ihr habt recht." sagte er monoton, während sich das Gesicht der Frau langsam wieder aufhellte. "Ich werde mich darum kümmern. Persönlich."
"Gut." Sie richtete sich auf und musterte ihn eindringlich. "Ihr seid Euch bewußt, daß dies Eure einzige Gelegenheit ist. Wenn Ihr versagt, wird er Euch töten. Und wenn er es nicht tut, werde ich es tun... Doch habt Ihr Erfolg, ist Gondor das Eure."
Der Mann schluckte. "Ich weiß." sagte er kaum hörbar. "Ich weiß."
***
Nur langsam erwachte Aragorn aus der Dunkelheit, die ihn umgeben hatte. Und sofort wußte er, daß etwas nicht stimmte. Er konnte nichts sehen. Sie hatten ihm die Augen verbunden. Als er versuchte, sich zu bewegen, stellte er fest, daß er auch an Händen und Füßen gefesselt war. Ein kurzer Ruck an den Seilen versicherte ihm, daß er sich nicht ohne Hilfe daraus würde befreien können.
Aragorn seufzte. So hatte er sich seinen Besuch bei Faramir nicht vorgestellt. Mühsam setzte er sich auf und versuchte, sich das Geschehen der vergangenen Stunden in's Gedächtnis zurückzurufen.
Kurz nachdem er die Emyn Arnen erreicht hatte, hatten ihn mehrere Männer aus einem Hinterhalt heraus überwältigt. Es waren Menschen gewesen, und er war sicher, daß es sich bei ihnen um Männer aus Gondor handelte. Faramir's Männer. Dann war sein Verdacht also begründet, und der Fürst von Ithilien war der Drahtzieher der Verschwörung im Lande.
Doch woher hatten sie gewußt, daß er kommen würde? Der Hinterhalt war gut geplant gewesen, so, daß selbst ein erfahrener Waldläufer wie er ihn nicht rechtzeitig erkannt hatte. Und sie hatten gewußt, daß er alleine war, denn für mehrere Gefangene waren sie nicht ausgerüstet gewesen. Nein, sie hatten ihn erwartet, und nur ihn.
Aragorn wußte, was das bedeutete. Molari hatte Faramir unter ihrer Kontrolle, und der Fürst setzte nun alles daran, das Volk gegen seinen König aufzuhetzen. Die Maia wollte die Reiche der Menschen zerschlagen, um ungestört ihre Pläne für Mittelerde umsetzen zu können. Und dabei war er ein Hindernis, das es zu beseitigen galt. Nur hatten sie ihn nicht beseitigt, sondern ihn statt dessen gewaltsam an diesen scheinbar entlegenen Ort gebracht. Denn so sehr er sich auch bemühte, er konnte kein Geräusch hören, das ihm irgendetwas über seinen Aufenthaltsort verriet. Alles war still. Er spürte nur, daß er auf nacktem Stein saß und die Seile allmählich unangenehm in das Fleisch seiner Handgelenke einschnitten.
Wieder versuchte er sich zu befreien, doch erneut mußte er feststellen, daß es vergebens war. Die Fesseln waren zu gut verschnürt. Er mußte einen anderen Weg finden, sich dieser Lage zu entziehen.
Sicher hatten sie sein Verschwinden in Minas Tirith längst bemerkt, überlegte er. Gimli würde ihn vermissen, und die Hobbits ebenfalls. Und dann würden sie einen Suchtrupp losschicken. Doch da er niemanden von seinem Vorhaben in Kenntnis gesetzt hatte, würde es Wochen dauern, bis sie ihn hier finden würden. Wochen, die er nicht hatte. Nein, er hatte nicht einmal Tage.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es klang wie das Öffnen einer schweren Holztür. Sofort spannte sich sein Körper an, in Erwartung weiterer Gewaltanwendung. Doch es kam nichts. Die Tür schloß sich wieder, und es wurde still. Zu still. Aragorn versuchte, sich auf seine Ohren zu konzentrieren, darauf, ob es vielleicht doch ein kaum wahrnehmbares Geräusch gab, das ihm weiterhelfen konnte, aber da war nichts. Und dennoch war er sicher, daß er nicht länger allein war.
Was wollt Ihr? fragte er in die Dunkelheit, doch die Stille hielt an. Nichts war zu vernehmen, außer seinem eigenen, schneller werdenden Herzschlag. Ich verlange, Euren Anführer zu sprechen!
Keine Antwort. Nur ein leises Zischen - eindeutig ein Atemzug.
Aragorn verfolgte das Geräusch, das sich ihm langsam näherte. Es war also nur eine Person. Und er ahnte auch, wer.
Ihr werdet Euren Lohn nicht erhalten. sagte er, als das Zischen nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Sie hat Euch durch ihre Macht geblendet, Faramir. Und sie wird sich Eurer entledigen, sobald Ihr Euren Teil der Abmachung erfüllt habt. Er wartete, doch sein unsichtbarer Gegner schien sich durch seine Worte nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.
Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß eine Maia Eure Hilfe benötigt, um mich zu vernichten! stellte er fest, während er erneut vergeblich an seinen Fesseln rüttelte. Sie testet Euch. Sie testet Eure Loyalität. Und sie spielt mit Euch. Und wenn Ihr mich beseitigt habt, wird sie Euch zwingen, Gondor in den Untergang zu führen. So, wie es ihren Plänen entspricht.
Das Geräusch verstummte. Der Mann stand jetzt direkt vor ihm.
Genau das hat sie vor, Faramir. fuhr Aragorn eindringlich fort. Doch liegt das gewiß nicht in Eurem Interesse. Denn Ihr seid wie ich um das Wohl Gondor's bemüht, nicht um sein Verderben!
Er versuchte, eine Reaktion in der Stille herauszuhören, etwas, das ihm bestätigte, daß seine Worte nicht umsonst in der Dunkelheit verklangen, doch es schien ihm, als ob sich sein Gegenüber in Luft aufgelöst hatte. Nichts war mehr zu vernehmen.
Dann, plötzlich, hörte er das Geräusch einer Klinge, die langsam aus ihrer Scheide gezogen wurde. Sein Körper spannte sich an, und sofort überlegte er fieberhaft, in welche Richtung er am besten ausweichen konnte. Doch links und rechts von ihm war Stein; er schien in einer Ecke zu sitzen. Und ehe er sich versah, spürte er die Klinge eines Messers an seinem Hals.
Ihr sprecht weise Worte, König. erklang eine ihm wohlbekannte Stimme, Doch sie werden Euch nicht helfen. Der Druck des kalten Metalls verstärkte sich. Wenn Gondor erst unter meiner Herrschaft ist, wird mir die weiße Frau keine Befehle mehr erteilen können.
Ihr irrt. schnaufte Aragorn, während er sich weiter nach hinten gegen die Wand stemmte. Sie wird Euch weiterhin beeinflussen, ob Ihr es merkt oder nicht. Ihr seid kein Narr, Faramir! Ihr wißt so gut wie ich, daß Ihr nur eine Marionette in ihren Händen seid.
herrschte die Stimme ihn an, und Aragorn spürte einen stechenden Schmerz an seiner Kehle. Wieder versuchte er, der Klinge zu entweichen, doch eine Hand griff in seine Haare und hielt ihn unsanft fest. Ihr habt recht. Ich bin kein Narr. Aber Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, mich mit Euren Worten davon abhalten zu können, Euch zu töten. Denn das ist etwas, das ich tun wollte, seit Ihr in mein Leben getreten seid.
Erneut verstärkte sich der Druck an seinem Hals, und er spürte das Blut, das sich aus der Wunde löste und langsam seinen Hals herunterlief.
begann er, doch eine ruckartige Bewegung seines Kopfes ließ ihn verstummen.
Ihr werdet sterben, Aragorn. zischte der Fürst entschlossen. Nicht heute. Aber bald.
Damit stieß er Aragorn gegen die Wand, stand auf und war wenig später durch die Tür verschwunden.
Aragorn blieb einen Moment reglos liegen, bevor er sich wieder aufrappelte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er mußte hier raus. Denn seine Hoffnung, Faramir von seinem Irrtum überzeugen zu können, schwand mit jeder Sekunde mehr. So, wie es aussah, war er gefangen.
Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sollte Molari nun am Ende doch gewinnen? Es war ihr gelungen, alle zu beseitigen, die ihr im Weg sein könnten. Er war nicht in Minas Tirith, Arwen war in Rivendell; Gondor war also regierungslos. Und die Unruhen schritten voran. Sicher waren auch schon die ersten Aufstände in Minas Tirith spürbar. Und die Weiße Maia hatte freie Hand.
Er stieß einen Fluch aus. Er mußte hier raus. Und zwar so schnell wie möglich.
***
Merry, hast du das gehört?
Der Hobbit drehte sich zu seinem Freund um und sah ihn fragend an. Was meinst du, Pip?
Die Unruhen. sagte Pippin aufgebracht. Sie beginnen. Der Bote kam gerade an und sagte, daß eine Menge Menschen auf dem Weg hierher sind. Sie wollen den König sehen.
kommentierte Merry zerknirscht. Und das jetzt, wo niemand weiß, wo er ist...
Pippin kam näher und warf ihm einen ängstlichen Blick zu. Was machen wir denn jetzt?
Keine Ahnung. Vielleicht können wir sie irgendwie ablenken?
Ablenken? Wie sollen wir das anstellen? Pippin verzog nachdenklich das Gesicht. Sollen wir ihnen ein paar Geschichten aus dem Auenland erzählen?
Nein, das nun nicht gerade. gab Merry zurück. Aber uns sollte schnell etwas einfallen, bevor sie feststellen, daß niemand mehr da ist, der ihr Land führt...Denn dann haben wir es mit Gegnern aus den eigenen Reihen zu tun!
Du hast recht, Merry. Nur was?
Der ältere der beiden Hobbits sah ihn an, dann grinste er. Ich glaube, ich habe eine Idee...
***
Die Stimme klang sehr aufgebracht.
Was ist denn, Isarin? fragte der dunkelhaarige Mann besorgt, während er nach draußen ging, um seiner Frau entgegenzugehen.
fing sie atemlos an, als sie ihn erreicht hatte. Sie ist krank.
Krank? Wieso, was hat sie denn? Er wartete, bis Isarin ein wenig zu Atem gekommen war und dann fortfuhr.
Sie hat überall kleine rote Punkte und Fieber. Das ist die Krankheit, die aus dem Osten gekommen ist, Dirkan!
Er nickte. Aber sie ist doch nicht weiter gefährlich, oder?
Nein, nicht unbedingt. Sie sah ihn ernst an, und er ahnte, daß sie noch nicht fertig war. Er kannte diesen Blick. So sah sie ihn nur an, wenn sie ihm etwas verschwiegen hatte.
bohrte er, während plötzlich ein sehr ungutes Gefühl in ihm aufkam. Was ist los?
Seine Frau wich seinem Blick aus. Du mußt nach Minas Tirith reiten. sagte sie knapp. Du mußt Legolas holen.
Was ist los? wiederholte er, und seine Stimme duldete kein erneutes Ausweichen.
Jetzt sah sie ihn an, und in ihren Augen standen Tränen. begann sie zögernd, Taina ist schwanger.
Sie nickte. Du hast richtig gehört. Und dann kann diese Krankheit sehr gefährlich für sie werden. Und für das Kind.
Woher weißt du das? stotterte er. Ich meine, daß sie...
Daß sie schwanger ist? fragte Isarin. Nun, das war nicht schwer zu erkennen. Weißt du noch, gestern, als sie nicht zum Markt wollte? Da habe ich es mir schon gedacht. Sie war blaß, und sie wollte nicht aufstehen. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Eine Mutter sieht sowas.
Dirkan seufzte. Er wußte nicht, welche Neuigkeit ihn mehr bewegte; die Tatsache, daß seine Tochter den ersehnten Nachwuchs bekommen sollte oder der Umstand, daß dieser schon wieder gefährdet war. Und noch während er seinen Zwispalt mit sich austrug, kam Isarin näher und legte ihre Hände auf seine Schultern.
Du mußt Legolas holen. sagte sie eindringlich. Sie braucht ihn jetzt. Und wenn er nicht bald wieder hier ist, wird er vielleicht weder Taina noch sein Kind zu sehen bekommen...
Dirkan war sich dessen bewußt, daß es sehr ernst um Taina stand. Ich mache mich sofort auf den Weg. sagte er entschlossen. Wenn ich mich beeile, bin ich noch am Abend dort.
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Das nächste Kapitel wird etwas länger dauern... habt Geduld!
