Kapitel 22 - Träume
"Er kannte dich
nicht?"
Ungläubig schüttelte
Merry den Kopf und sah seinen Freund eindringlich an. Entweder,
Pippin hatte mal wieder zu viel des guten Pfeifenkrauts geraucht und
einen Gondorianer in seinem Rausch für Legolas gehalten, oder
das, was er gerade von seinem Wiedersehen mit ihrem elbischen Freund
berichtet hatte, entsprach tatsächlich der Wahrheit.
"Es stimmt!"
bekräftigte der blonde Hobbit nickend. "Er hat mich
angestarrt als wäre ich ein... ein...", er suchte nach
Worten, "... ein Dienstbote oder so. Er war sowieso völlig
seltsam, Merry. Hochnäsig, arrogant, herablassend... mehr noch
als sonst!"
'Noch mehr?', dachte Merry
amüsiert, doch er ermahnte sich sofort, den nötigen Ernst
der Lage nicht aus den Augen zu verlieren.
"Versteh' einer die
Elben." sagte er statt dessen und lächelte leicht,
versucht, seinem Freund nichts von der Besorgnis zu zeigen, die ihn
nun nach seinem Bericht immer mehr beschlich. "Vielleicht wollte
er dich nur ärgern und lacht sich in diesem Moment kaputt über
dein Gesicht, was du sicher gemacht hast, Pip."
"Nein, das glaube ich
nicht. Da ist was im Busch. So verstellen kann sich selbst ein Elb
nicht, und es passt überhaupt nicht zu Legolas, uns alle und vor
allem Aragorn so zu behandeln. Du hättest ihn sehen sollen,
Merry. Er hat sich benommen wie der König von Mittelerde!"
"Wie der - WAS?"
ertönte plötzlich eine polternde Stimme, gefolgt von
durchdringendem Gelächter, das beides nur einem gehören
konnte: Gimli.
"Wie der König
von Mittelerde", wiederholte Pippin seufzend und sah den Zwerg
mit kläglichem Blick an.
"Na, das wollen wir
doch mal sehen, was dem verrückten Elben einfällt, sich so
aufzuführen!" kam es darauf grollend. "Dieses Mädel
hat ihm wohl endgültig den Kopf verdreht! Überhaupt - was
macht er schon wieder hier? Er sollte in Ithilien sein und das tun,
was man als verlobter Mann eigentlich tut! Äh... vorausgesetzt,
Elben tun sowas auch, aber egal jetzt." Er wandte sich an
Pippin. "Wo ist der Elb jetzt?"
"Keine Ahnung, Gimli.
Ich hab gemacht, dass ich davon komme, als selbst Aragorn ziemlich
ratlos ausgesehen hat..."
"Oh."
'Ja, oh.' dachte Merry
zerknirscht und atmete tief durch, bevor er sagte, "Wir sollten
das im Auge behalten. Und du, Gimli, solltest vielleicht mal mit
Legolas reden. Auf dich hört er. Vielleicht kannst du
rauskriegen, was mit ihm los ist. Denn wenn uns hier keiner sagt, was
das alles zu bedeuten hat, müssen wir uns eben selbst darum
kümmern."
Gimli's Antwort darauf war
ein zustimmendes Brummen, und Merry konnte nur hoffen, dass sie
überhaupt eine Chance hatten, bei dem Durcheinander von Elben,
Zwergen, Menschen, Zauberern und Maiar irgendetwas ausrichten zu
können.
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Als die Mauern der Weißen
Stadt nach einem endlos erscheinenden Ritt vor ihr lagen,
verlangsamte Taina den Galopp ihres Pferdes und brachte es
schließlich zum Stehen. Hatte sie es vor Kurzem noch so eilig
gehabt, nach Minas Tirith und damit zu Legolas zu kommen, so zögerte
sie nun plötzlich.
Was erwartete sie dort?
Ihr Verlobter, der sie verlassen hatte, ohne ihr jemals die Gründe
dafür gesagt zu haben? Hatte er es überhaupt vorgehabt,
oder war er froh gewesen, daß Taina den Zeitpunkt seines
Wegganges nicht bewußt mitbekommen hatte? Oder war er gar nicht
mehr in der Stadt und hatte sich längst wieder seinem gewohnten
Leben zugewendet, dem Kampf gegen vereinzelte Kreaturen, die hier und
da noch immer ihr Unwesen trieben, und den tagelangen Wanderungen
fernab jedweder Zivilisation?
Sie wußte es nicht,
aber sie hatte nicht vor, jetzt wieder umzukehren. Nein, sie würde
sich der Situation und ihm stellen. Sie würde ihre Träume
nicht einfach aufgeben. Sie wollte sein Gesicht sehen, wenn er ihr
sagen mußte, daß er sie verlassen hatte und vor allem,
warum. Sie wollte seine Augen sehen und jedes Aufblitzen der Reue
darin, oder des Schmerzes, und erst wenn sie dort nichts anderes
sehen würde als Zufriedenheit mit seinem Entschluß, würde
sie ihn gehen lassen und die Zeit mit Legolas, dem Prinzen der
Waldelben, der Vergangenheit zuordnen.Doch bis dahin würde
sie alles versuchen.
Also trieb sie ihr Pferd erneut an und führte es ohne weiteres Zögern durch das große Tor der am Fuße des Berges Mindolluin liegenden Regierungsstadt Gondors. Sie passierte die folgenden weiteren Tore, die jeweils abwechselnd nach Südosten und Nordosten blickten, bis sie schließlich zu den Ställen gelangte und ihr Pferd einem sofort herbei eilenden Stallburschen übergab. Dann machte sie sich zu Fuß, vorbei an Bauern, Händlern, Soldaten und eifrig ihrer Wege gehenden alten Frauen, auf den Marsch zur obersten Ebene, um Aragorn aufzusuchen. Denn wenn sich Legolas noch in der Stadt befand, dann ganz sicher an der Seite des Königs.
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'Welch glückliche
Fügung des Schicksals. Einen besseren Zufall hätte es nicht
geben können', dachte sie, während sie der schlanken Frau
weiter folgte, die ihren Fußmarsch zielsicher über die
hell gepflasterte Straße in Richtung Palast fortsetzte.
Jetzt hatte sie fast
alles zusammen, was sie benötigte, um ihren Plan in die Tat
umsetzen zu können. Es fehlte nur noch eines, und das war mit
dem Eintreffen von Taina in greifbare Nähe gerückt.
Entschlossen
beschleunigte sie ihren Schritt und trat hinter sie.
"Ach, junge Frau",
sagte sie mit leiser, gebrechlicher Stimme, "ob Ihr mir wohl
helfen könntet?"
"Natürlich",
kam die freundliche Antwort, und sofort wendete sich die
dunkelhaarige Frau vollständig um und kam auf sie zu. "Wie
kann ich behilflich sein?"
"Ich habe einen
weiten Weg aus meinem Dorf hinter mir und muss den König
sprechen. Nur ist er furchtbar beschäftigt letzthin und empfängt
niemanden mit solch kleinen Belangen wie den meinen..." Sie
machte eine Pause, in der sie seufzte und ihren Blick tief in die
Augen ihres Gegenübers dringen ließ. Dann sagte sie leise,
"Wie ich sehe, seid Ihr auch auf dem Weg zum König.
Vielleicht habt Ihr ja die Güte, mich zu begleiten und mir den
Einlaß zu erleichtern?" Sie lächelte die junge Frau
aufmunternd an und fügte hinzu, "Mit einem Lächeln von
Euch ist das gewiß ein Kinderspiel."
'Sie zögert',
dachte sie mißmutig. Hatte sie vielleicht übertrieben?
Oder war Taina gar mißtrauisch geworden? Sollte sie trotz ihrer
Verärgerung und ihres Schmerzes über die Sache mit Legolas
noch immer in der Lage sein, ihre wahren Motive zu erkennen, oder
möglicherweise ihre Identität aufdecken können?
Doch gerade, als sie
einen weiteren Überzeugungsversuch starten wollte, erschien ein
Lächeln auf dem Gesicht der Frau. "Natürlich helfe ich
Euch", sagte sie freundlich. "Kommt nur mit mir. Wir sind
gleich dort."
"Ich danke Euch."
Damit folgte sie Taina
zum Palast und passierte gemeinsam mit ihr ohne größere
Probleme die Wachen, das letzte Hindernis zur Ausführung ihrer
Pläne.
Nun war sie dicht am
Ziel. Sie war innerhalb der Mauern ihrer noch immer ahnungslosen
Feinde und nichts würde sie jetzt mehr aufhalten. Kein König,
keine selbstgefälligen Elben und ganz sicher keine Sterbliche,
deren Gedanken sich nur um ihre unglückliche Liebe zu einem
Erstgeborenen drehten, der diese niemals erwiedern würde, wie
sie es sich erträumte. Niemals. Und jetzt schon gar nicht mehr.
Sie lächelte.
Sollte sie ihr leidtun? Schließlich konnte sie nichts für
ihre Schwäche und ihr Unvermögen, gegen ihre armseligen
Gefühle anzukommen. Dennoch, einst hatte sie ihre Pläne
durchkreuzt, und das hatte sie ihr nicht verziehen. Sie sollte
sichergehen, daß dies nicht noch einmal vorkommen konnte.
"Habt Dank, meine
Liebe", sagte sie daher freundlich, "ich hoffe, der König
erhört Euer Anliegen und kann Euch helfen, wasimmer es auch sein
mag."
"Danke, aber ich
will eigentlich gar nicht zum König", erwiederte Taina
leise, "ich suche meinen Verlobten, der sicherlich in seiner
Nähe sein wird. Ich muß ..." sie zögerte, "...
einiges mit ihm klären."
'Klären?' Nur mit
Mühe konnte sie ein Lachen unterdrücken. 'Das wird dir auch
nichts bringen, Sterbliche. Dein Verlobter ist nicht mehr der, den du
kennst und wird es auch nie wieder sein.'
"Ich hoffe, Ihr
findet ihn", sagte sie statt dessen gütig lächelnd und
verlangsamte ihren Schritt ein wenig. "Er muß ein
einflußreicher Mann sein, wenn Ihr ihm bis in den Palast des
Königs folgen müsst. Und wohl auch einer, der es wert ist,
daß Ihr das tut?"
Auch Taina verlangsamte
nun ihren Gang und blieb schließlich stehen. "Ja",
sagte sie nachdenklich, "das ist er. Er ist das alles wert, und
darum werde ich um ihn kämpfen. Denn ich liebe ihn."
'Ich liebe ihn', hallte
es in ihrem Kopf wider. Liebe. Welch' menschliche Träumerei.
Welch' vergängliche Schwäche des Geistes. Welch'
Trugschluß! Hat sie nicht den Menschen immer nur Leid gebracht
und Kriege? Morde hatte sie dafür begehen sehen, und ganze
Völker waren wegen ihr zugrunde gegangen. Und selbst die Elben
schienen sich ihrer Magie nicht entziehen zu können. Waren auch
sie schwach genug, ihr zu erliegen und ihren Geist den Wirren der
Gefühlswelt nur allzu willig zu übergeben.
Wie gut, dachte sie,
denn ohne diesen Umstand hätte sie nicht die Möglichkeit
gehabt, das Schicksal von Mittelerde in ihren Händen zu halten.
Hier und jetzt.
Doch hatte sie auch
lernen müssen, daß die Liebe zu weitaus mehr imstande war,
als Menschen und Elben den Kopf zu verdrehen. Sie hatte eine schon
fast beneidenswerte Kraft, die selbst das kleinste Wesen zu einem
Feind werden ließ. Sie selbst hatte es erfahren müssen,
und sie war nicht gewillt, sich von der geheimnisvollen Macht dieses
doch am ehesten menschlichen Gefühls erneut ihre Pläne
durchkreuzen zu lassen.
Diesmal nicht.
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'Denn ich liebe ihn.'
Sie hatte selbst nicht
mehr daran geglaubt, aber in dem Moment, als sie die Worte gegenüber
der alten Frau ausgesprochen hatte, spürte sie, daß es
noch immer so war. Sie liebte Legolas, und sie würde alles in
ihrer Macht stehende tun, um auch seine Liebe zurückzugewinnen.
Koste es, was es wolle! Und wenn sie mit ihm zurück gehen mußte
an den wundervollen Ort, an dem er ihr das Eheversprechen gegeben
hatte und an dem sie für immer Eins geworden waren, um ihn daran
zu erinnern - sie würde es tun. Sie würde ihn an alles
erinnern, was sie verband, denn es war weitaus mehr als das, was sie
trennte. Sie fühlten eine unbändige Liebe füreinander,
die Gewißheit, daß jeder ein Teil des anderen war und sie
alles miteinander teilen würden; Freud, Leid, Glück und
Unglück. Und nichts würde das jemals ändern, solange
sie beide das wollten.
"Ja, die Liebe",
hörte sie nun die alte Frau sagen, während sie ihre Hände
hob und sie leicht auf Taina's Schultern legte. "Ich wünsche
Euch, daß Ihr nie von ihr enttäuscht seid und sie für
immer in Euren Träumen erleben werdet. Denn Träume sind
dazu da, geträumt zu werden. Sind sie erst real, gibt es nichts
mehr zu träumen..."
'Träume', dachte sie
nachdenklich, während sie ein seltsames Gewicht auf ihren
Schultern spüre, das niemals von den schlanken Fingern der alten
Frau herrührend konnte. Es waren doch keine Träume. Es war
das, was sie erlebt hatte. Mit Legolas. Oder hatte sie sich das alles
nur eingebildet? Nein. Niemals.
Sie sah die alte Frau an.
"Was meint Ihr?"
"Nichts",
entgegnete ihr Gegenüber.
Täuschte sie sich,
oder begann das Gesicht vor Ihren Augen zu verschwimmen?
"Ich..." begann
sie verwirrt."
"Es ist alles gut,
Ihr seid nur müde", hörte sie die Frau sagen. "Ihr
solltet schlafen."
Schlafen.
'Ich muß zu
Legolas...'
Das hat Zeit.
"Schlaft jetzt."Ja, schlafen... und
dann...
Sie spürte nicht
mehr, wie sie die Augen schloß und langsam auf die Knie sank.
... und dann ...
"Schlaft. Um Euren Prinzen kümmere ich mich..."
