Ein Freund

Sonne strahlte ihr ins Gesicht, und der Wind strich ihr ihre Haare aus der Stirn, von vorne ertönte leise Musik. Ihre Augen blieben geschlossen während sie das alles genoss und den Stimmen zuhörte, die sich um sie herum unterhielten. Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und öffnete langsam die Augen. Sie saß gemeinsam mit drei Freunden und ihrem Bruder im Auto und fuhr über eine fast leere Straße. Vor ihnen tauchte eine Kreuzung auf, dahinter die Häuser der Stadt, die von den letzten Sonnenstrahlen erhellt wurden.

Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen und sie musste sich zwingen, wieder Luft zu holen als sie merkte, dass sie sie angehalten hatte. „Rowenna, alles in Ordnung?"Sie hörte die Stimme ihres Bruders kaum, denn wie gelähmt sah sie aus dem Fenster einen Kleinlaster wie in Zeitlupe auf sie zurasen. „Neeeeiiiiiinnnn!!"

Plötzlich war um sie herum nur noch Wasser. Wasser? Sie riss die Augen auf und sah sich um. Natürlich, schoss es ihr durch den Kopf, sie hatte nur geträumt, während sie in der immensen Badewanne eingeschlafen war, deren Wasser mittlerweile nur noch lauwarm war. Fröstelnd erhob sie sich, stieg aus der Wanne und wickelte sich in das Badetuch ein, das über einem geschnitzten Hocker neben ihr gelegen hatte. Obwohl es sie äußerlich rasch wärmte, blieb das unbestimmte Gefühl der Kälte zurück und obwohl sie sich so schnell sie konnte das Baumwollene Nachthemd überstreifte, das sie in ihrem Zimmer fand, und unter die dicke Bettdecke schlüpfte, sie konnte es einfach nicht abschütteln. Es war beinahe noch viel schlimmer, davon zu träumen, als es tatsächlich zu erleben, denn so wusste sie, was passieren würde und hatte keine Möglichkeit es zu verhindern.

Sie schloss die Augen und kuschelte sich tiefer in die weiche Matratze, doch nicht das kleinste Gefühl von Behaglich- oder Müdigkeit wollte sich einstellen. Von draußen kam nur mehr ein matter Schimmer des blassen Mondes und zahlloser Sterne herein und hüllte das Zimmer in ein gespenstisches Zwielicht, das nicht gerade dazu beitrug, dass sie sich wohler fühlte. Erst jetzt bemerkte sie die Tränen, die ihr in Bahnen über ihr Gesicht liefen und den weißen Stoff des Kopfkissens durchnässten. Warum? Warum nur ich? Was habe ich denn getan, dass so etwas Schreckliches geschehen musste? Sie fand keine Antworten auf ihre Fragen, aber sie wusste, dass es welche geben musste. Und sie schwor sich selbst, sie zu finden, bevor sie von einem unruhigen, traumlosen Schlaf übermannt wurde.

Noch immer kochten, schnitten und werkelten an die Hundert Angestellten an dem Festessen für dem morgigen Abend. Legolas saß wie meistens um diese Zeit in dem kleinen Raum neben der Küche im Stroh. Die Bediensteten beachteten ihn gar nicht, während sie hin und her liefen und sich gegenseitig die unterschiedlichsten Dinge zuriefen. Ein Koch versetzte einem kleinen Küchenjunge eine schallende Ohrfeige, weil dieser etwas von der schon fertigen Nachspeise stibitzt hatte und nun die kunstvolle Verzierung fast komplett erneuert werde musste. Legolas war froh über diesen Zufluchtsort, er war hier lieber als auf den größten Festen oder in den feinsten Zimmern im oberen Teil des Schlosses. Schon als kleiner Elb war er immer gerne hergekommen und als er größer wurde hatte er es beibehalten, auch wenn sein Vater lange brauchte um sich damit abzufinden. Ihm war die Vorstellung völlig unwillkommen, dass sein Sohn, der künftige König von Düsterwald, sich am liebsten unten beim Küchengesinde herumtrieb. Doch mit der Zeit hatte er kapitulieren müssen, da er keinen Weg sah, es zu verhindern.

Er dachte über das Gespräch mit seinem Vater nach. Es war ihm äußerst unangenehm gewesen, dass sein Freunde anwesen gewesen waren und sich im Stillen wahrscheinlich über ihn lustig machten. Bis auf Gimli natürlich, der macht es gleich öffentlich. Beim Gedanken an den Zwerg musste er lächeln. Es war zwar nicht immer einfach, mit ihm befreundet zu sein, aber immer wenn sie längere Zeit getrennt waren vermisste er die groben Scherze des anderen schmerzlich. Früher hätte er wie wohl alle anderen niemals geglaubt, dass ein Elb und dein Zwerg je so gute und enge Freunde werden konnten. Jetzt hatten sie sich endlich wieder getroffen, aber es blieb kaum Zeit, um über alte Zeiten zu plaudern, denn schon standen sie vor der nächsten Aufgabe. Doch so oft er sich das gehörte auch durch den Kopf gehen lies, er sah einfach keinen Sinn darin. Warum maß sein Vater der Behauptung einer Dienstmagd so viel Bedeutung bei? Noch dazu, wenn sie behauptete, eine glänzende Sonne aus dem Bauch eines Menschen hervorstehen gesehen zu haben. Wahrscheinlich wollte sie sich nur vor der Arbeit drücken oder Aufmerksamkeit erregen und dachte nicht an die Konsequenzen. Legolas jedenfalls glaubte nicht an diese Geschichte und hatte auch nicht vor, seine Meinung zu ändern.

Er griff nach den Trauben, die er neben sich aufgebaut hatte. Das war sein Vorteil als Prinz: Egal wann er kam, er bekam immer etwas zu essen und auch dann nur das beste. Wenn die Angestellten es auch längst nicht mehr als Besonderheit ansahen, dass der Prinz persönlich herunterkam, so zollten sie ihm dennoch stets den nötigen Respekt. Auch wenn er seit seiner Geburt nie etwas anderes gekannt hatte, so störte ihn doch fast nichts mehr als ständig unterwürfige Angestellte, die es ihm nicht zutrauten, auch nur einen Schritt ohne fremde Hilfe zu machen.

„Darf ich auch eine Traube haben?"Ohne dass er es gemerkt hatte, stand Karîmà plötzlich vor ihm und lächelte schüchtern zu ihm herunter. „Ja natürlich, hier!"Er hielt ihr den Teller entgegen. „Du kannst dich auch gerne ein Weilchen zu mir setzen, wenn du Lust hast und deine Mutter dich gerade nicht braucht." Er wusste nur zu gut, wie streng die Mutter des kleinen Mädchens manchmal sein konnte. Wie oft hatte er schon mit angesehen und vor allem mit angehört, wenn sie herumzeterte wie eine Gewitterziege. Manchmal konnte er gar nicht glauben, dass diese Frau so ein süßes nettes Kind haben konnte, aber dennoch war die Ähnlichkeit der beiden unverkennbar.

„Danke."Karîmà lies sich neben ihm auf den Boden plumpsen und nahm sich dann eine Hand voll Trauben vom Teller, der nun zwischen den Beiden stand. Sie kannte den Prinzen schon fast ihr ganzes Leben lang und sah deshalb nicht ein, warum sie nicht ganz normal mit ihm umgehen sollte, wie sie es mit einem Bruder den sie nicht hatte auch getan hätte. Ihre Mutter regte sich regelmäßig darüber auf und hielt ihr lange Vorträge über den nötigen Respekt vor Mitgliedern der königlichen Familie, doch der Prinz hatte nichts dagegen sondern schien sie so zu mögen wie sie war und warum sollte sie ihn dann plötzlich mit „Eure Hoheit"anreden? Er würde schon sagen, wenn ihm etwas nicht passte.

Schweigend saßen die beiden ein Weilchen nebeneinander und ließen sich die Trauben schmecken, bis Legolas' Hand plötzlich ins Leere griff, als er sich noch etwas von den süßen Beeren nehmen wollte. „Soll ich noch welche holen?", bot sich Karîmà sofort an, als sie es bemerkte.

„KARÎMÀ!!!"

„Oh verdammt! Ähm, ich meinte natürlich, ich muss gehen! Entschuldigung!" Karîmàs Gesicht nahm einen leichten Rotschimmer an und sie hatte es eilig, sich zu verabschieden, vergaß dabei aber nicht, den leeren Teller zum Spülen mitzunehmen. Schon wenige Sekunden später konnte er aus der Küche hören: „Hast du schon wieder den Prinzen belästigt? Du wirst noch Schande über die ganze Familie bringen, du ungezogenes kleines Ding!" Hätte er nicht gewusst, dass alle Zurechtweisungen ergebnislos an dem lustigen kleinen Mädchen abprallten, hätte er sich vielleicht eingeschaltet, aber so lächelte er nur über die nie enden wollenden Bemühungen der Mutter und hing weiter seinen Gedanken nach.

Über was hatte er noch nachgedacht, bevor Karîmà gekommen war? Ach ja, diese ungeheuerliche Geschichte von dem Dienstmädchen... Er fand es müßig, sich noch weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Aber was konnte er denn sonst tun? Er verließ die Küche und trat auf den nur von weinigen Fackeln beleuchteten Flur hinaus. Auf dem Boden entdeckte er etwas Glitzerndes und als er es aufhob bemerkte er, dass es sich um eine goldene Kette handelte, an der ein kleines, mit Edelsteinchen besetztes Herz hing. Er lies es an seiner Hand baumeln währende er überlegte, wem es wohl gehören könnte. Einem Dienstmädchen wohl kaum, die besaßen keinen wertvollen Schmuck und dieses Kettchen sah nicht nach einem wertlosen Spielzeug für kleine Elbenmädchen aus. Er erinnerte sich an das Mädchen, dem er am frühen Abend begegnet war. Er wusste zwar noch immer nicht, um wen es sich handelte, aber es konnte gut sein, dass sie das Schmuckstück hier verloren hatte. Denn sonst kam kaum jemand von der höheren Gesellschaft hier herunter außer gelegentlich seinem Vater, um ihn nach oben zu beordern, auch wenn er meistens einen Diener zu diesem Zweck schickte. Außerdem trug er keine Goldkettchen! Auf dem Weg über die Treppe entschloss er sich, spontan einen Besuch bei den Gästezimmern zu machen. Auf dem Weg konnte er auch kurz bei Gimli vorbeischauen, oder bei den Hobbits. Bei Aragorn und Arwen ließ er das lieber, denn man konnte ja nie wissen, wo er da hereinplatzte...

Rowenna lag wach in ihrem Bett. Zwar fror sie nicht mehr so schlimm wie zuvor, doch wohl fühlte sie sich noch immer nicht. Sie hatte kurz geschlafen, war aber nach gut einer Stunde wieder aufgewacht und schaffte es nicht, erneut einzuschlafen. Zu sehr war sie mit ihrer jetzigen Situation beschäftigt, und auch wenn der Rest des Schlosses in einem schläfrigen Schweigen lag, war sie doch hellwach was daher kam, dass sie erst am Abend aufgestanden und zuvor ganze fünf Tage geschlafen hatte. Sie war noch immer so verwirrt, dass sie nicht wusste, ob sie sich freuen oder wieder in Tränen ausbrechen sollte. Sie hatte einen Autounfall erlebt und war in völliger Ungewissheit über ihre Freunde. Aber sie hatte überlebt – oder aber sie befand sich in einer Welt nach dem Tod. Aber das erschien ihr unwahrscheinlich, denn ihr Herz schlug noch immer und sie litt, verspürte Hunger und Durst, atmete... Tat eben alles, was zum Leben notwendig war, deshalb konnte sie gar nicht tot sein. Oder doch? Diese Frage quälte sie nun schon die ganze Zeit, auch wenn sie genau wusste, dass sie zu keinem Ergebnis kommen würde, dass sie zu keinem Ergebnis kommen konnte. Was wurde nun aus ihr? Hier im Schloss war sie vielleicht vorläufig gut aufgehoben, aber sie wurde nur als vorübergehender Gast betrachtet. Was sollte sie tun, wenn sie hier nicht mehr wohnen konnte? Sie war hier vollkommen fremd, sie kannte niemanden, zu dem sie gehen konnte. Nein, das konnte nicht der Himmel sein. Aber auch nicht die Hölle, oder? Denn sie wurde ja von allen Seiten freundlich behandelt. Diese ganze Grübelei verursachte ihr Kopfschmerzen. Aber sie konnte es auch nicht abstellen.

Es klopfte an der Tür. Wer kam denn um diese Zeit noch? War es Nûemyn? Rowenna war froh über die Ablenkung und wollte schon „Herein"rufen, als ihr wieder einfiel, dass sie den schweren Schlüssel im Schloss der Tür herumgedreht hatte und so erhob sie sich, um zu öffnen.

Endlich hatte er die richtige Tür gefunden. Das war zwar nicht sonderlich schwer gewesen, da alle anderen Gästezimmer von seinen ehemaligen Gefährten mit Beschlag belegt wurden, aber sein Besuch bei Gimli und der anschließende bei den Hobbits, die es sich auf den Betten gemeinsam mit frischem Brot und Braten gemütlich gemacht hatten, hatte doch länger gedauert als ursprünglich gedacht. Er klopfte, und während er darauf wartete, dass geöffnet wurde fiel ihm auf, wie spät es schon war. Vermutlich war sie schon im Bett und hörte sein Klopfen nicht oder noch schlimmer, sie hatte schon geschlafen und er hatte sie aufgeweckt. Seine zweite Vermutung bestätigte sich, als die Tür quietschend aufging und dahinter eine zierliche Gestalt im Nachthemd und mit Ringen unter den Augen auftauchte.

„Bitte entschuldigt die Störung", fing er zögerlich an, „ich hatte nicht gedacht, dass ihr schon schlafen würdet..." Wie sie so da stand bemerkte Rowenna, dass sie doch schläfriger war als sie angenommen hatte. Sie wollte nur noch wieder zurück ins warme Bett unter die weiche Decke und so winkte sie ihr Gegenüber einfach herein und verkroch sich wieder genau dorthin.

Verdutzt blickte Legolas ihr hinterher, als sie einfach so wieder von der Tür verschwand, diese aber sperrangelweit offen stehen ließ. Dann sah er ihr Handzeichen einzutreten und folgte ihm zögernd. Als er im Raum stand, lag die junge Frau schon wieder unter der Bettdecke begraben und sah ihn müde aber nichtsdestotrotz aufmerksam an. Er erinnerte sich wieder an den Grund, weshalb er sie überhaupt aufgesucht hatte. „Ich habe eben eine goldene Kette im Flur vor der Küche gefunden und dachte mir, dass es nur die Eure sein kann. Hier", er reichte ihr die Kette, die er bis gerade fest mit seiner linken Hand umschlossen hatte. „Sie ist sehr schön und es wäre schade, wenn Ihr sie verlieren würdet."

Rowenna streckte den Arm aus und nahm sie ihm ab, obwohl sie genau wusste dass es gar nicht ihre sein konnte, da sie den ganzen Tag keine getragen hatte. Sie betrachtete sie einen Augenblick lang und gab sie ihm dann zurück. „Es tut mir Leid, Euch enttäuschen zu müssen aber Ihr habt Euch vergebens zu mir bemüht. Sie gehört nicht mir." Der Elb machte ein enttäuschtes Gesicht. Eigentlich hätte er jetzt aufstehen und wieder gehen sollen, aber aus einem unerklärlichen Grund blieb er erst genau da stehen wo er war und setzte sich anschließend auf die Bettkante an der Seite.

Warum ist er noch hier? Es ist nicht meine Kette, wegen der er mich zu nachtschlafenden Zeiten aus dem Bett geholt hat und jetzt nistet er sich auch noch in meinem Zimmer ein! Sie richtete sich so weit auf, bis sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt in ihrem Bett saß. „Entschuldigt, aber darf ich fragen wer Ihr seid und was ihr hier noch macht. Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber es ist schon spät und ich würde wirklich gerne weiterschlafen." „Aber wir kennen uns doch schon, erinnert Ihr Euch nicht mehr? Wir sahen uns in der Küche, bis mein Vater, König Thranduil, mich zu sich rief." „Ach ja."Das Erinnern leuchtete in ihren Augen auf. Wahrscheinlich war sie einfach zu müde fürs Nachdenken. „Das hatte ich ganz...Moment!"Was hat er gerade gesagt? Sein Vater, König Thrandingsda? Das heißt ja, er ist der Prinz in diesem Laden hier! Oh, verdammt! Ich hab mal wieder alles versaut! „Ähm..."Ihr Gesicht wurde verdächtig rot. Dass sie an so etwas aber auch nicht gedacht hatte, dabei war es doch eigentlich nahe liegend gewesen, als sein Vater in der Küche aufgetaucht war. Solche prächtigen Kleider konnte sich kein normaler Angestellter leisten! Aber was sollte sie jetzt sagen? Das fing ja alles gut an! Im Moment wollte sie einfach nicht mehr hier sitzen bleiben, wo er sie so aufmerksam musterte, also schlug sie ihre Decke zurück um aufzustehen und sich in den Morgenmantel zu wickeln, den ihr Nûemyn bereitgelegt hatte.

Wieder einmal war es die breite Spitze, diesmal die des Nachthemdes, die sich verfing. Im Schlaf hatte sie sich wohl doch mehr bewegt als sie gedacht hatte und so die Bettdecke herumgedreht, die jetzt mit dem Knöpfen des eigentlich unteren Randes am Kopfende lag. Ihr Hemd schob sich so weit hoch, dass Legolas, der sie noch immer noch betrachtete, einen Blick auf ihr Höschen erhielt, bis knapp über dem Bauchnabel der Stoff wieder begann. Er wollte instinktiv seinen Blick abwenden, wie man es ihm schon als kleinem Elb beigebracht hatte, doch dann...

„Ahh...", stieß er aus, noch bevor sie den rettenden Stoff wieder über ihren Körper geschoben hatte. So schlimm sehe ich aber auch nicht aus, dass er so einen Schock kriegen muss, dachte sie ein wenig beleidigt. Oder war es möglich, dass dieser Prinz noch niemals eine Frau gesehen... Nein, das konnte nun wirklich nicht sein. Seinem Aussehen nach musste er bestimmt schon über 20 sein. Er riss sie aus ihren Gedanken, indem er aufsprang. „Es ist also wahr! Das... Das... Oh mein Gott!" Er schien ganz aus dem Häuschen. „Was ist denn los?", wollte Rowenna wissen, drehte sich mit dem Rücken zu ihm und sah vorsichtshalber noch einmal unter dem Hemd nach.

Ihr Nabelpiercing! Dass sie daran nicht gedacht hatte! Er hatte ihn gesehen und da er so etwas nicht kannte, hatte er sich erschrocken. Ich trete aber auch wirklich von einem Fettnäpfchen in das nächste. Wie soll ich denn jetzt diesem aufgescheuchten Typ hier klar machen, dass ein Piercing nicht gefährlich ist? Ihr Müdigkeitsgefühl verschwand von einem Moment auf den anderen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Legolas einen kurzen Dolch, den er wohl immer bei sich trug, gezogen hatte und damit in der Luft herumfuchtelte.

„Stopp!", reif sie und drehte sich vollends zu ihm um. „Das ist doch nur..." „Bis dahin und nicht weiter! Bleibe stehen und... und..." Weiter kam er nicht, zu verdutzt war er über das plötzliche Lachen, in dass Rowenna ausbrach. Es war aber auch zu komisch: Vor ihr stand ein Wesen, das bis aus seine spitzen Ohren genauso aussah wie ein Mensch und hatte ernsthaft Angst vor einem Piercing! Legolas wusste anscheinend nicht genau, was er als nächstes tun sollte, denn einerseits hatte er es mit eigenen Augen gesehen – eine silberne Sonne, genau wie das Mädchen gesagt hatte – aber andererseits sah dieses junge Menschenmädchen – oder was sie wohl auch immer war – nicht sonderlich gefährlich aus, wie sie so dastand und sich vor lachen krümmte. Zögernd lies er den Dolch sinken, hielt ihn aber dennoch so, dass er ihn im Notfall sofort einsetzen konnte.

Rowenna erholte sich und wurde wieder ernst. Eine Weile stand sie dem Prinzen einfach nur gegenüber und legte sich ihre Worte zurecht, doch trotzdem klang es noch einigermaßen holperig, als sie zu einer Erklärung ansetzte. „Es ist nicht gefährlich. Wirklich nicht!", fügte sie auf seinen zweifelnden Blick noch einmal deutlich hinzu, „Da wo ich herkomme, tragen das viele."Ein leichter Schauer durchlief sie, als sie an ihre Heimat dachte, doch sie schüttelte ihn entschlossen ab. Wehmütig sein konnte sie später noch genug. „Es ist ein einfaches Stück Metall, dass durch die Haut ...ähm... gestoßen wird, um den Körper zu verzieren."Sie fand, das hatte sie sehr plausibel erklärt. Anscheinend leider nicht plausibel genug für ihn. „Warum solltest du dir so etwas antun, nur damit es unter einem Kleid schön aussieht, wo man es sowieso nicht sieht?", hakte er nach, sein Blick blieb unverändert wachsam, während er in seiner Aufregung gar nicht merkte, dass er die förmliche Anrede ganz vergaß. „In meiner W... Heimat tragen die Frauen nicht nur Kleider. Im Sommer tragen wir oft Hosen und Oberteile, die über dem Bauchnabel enden oder bei Bikinis..."Kaum dass sie es ausgesprochen hatte hätte sie es am Liebsten direkt wieder zurückgenommen. Wie erwartet hörte sie keine halbe Sekunde später: „Was ist da...Bikinis? Ist es etwas zum Zaubern? Und außerdem redest du unzusammenhängend. Frauen tragen überall Kleider, selbst in den fernsten Ländern der Welt, das war schon immer so." Beinahe hätte Rowenna wieder lachen müssen, als er einen Bikini als Zauberutensil verdächtigte, doch dann siegte doch die Traurigkeit. „Vielleicht komme ich ja gar nicht von dieser Welt", wisperte sie ohne dass sie es wollte und setzte sich auf den Bettrand. Wieder stürmten Bilder von allen Seiten auf sie ein, die sie mit aller Kraft zurückzudrängen versuchte. Ein kurzes aber kräftiges Kopfschütteln half ihr ein wenig.

Plötzlich spürte sie, wie sich neben ihr das Bett senkte. Verwundert sah sie auf. Legolas hatte sich tatsächlich neben sie gesetzt, obwohl ihm dabei nicht ganz wohl zu sein schien. Aber immerhin schien er sie nicht mehr als gefährlich einzuschätzen. Zum Glück muss ich jetzt wenigstens nicht schon wieder heulen, das würde es echt komplett machen! Kaum dass sie es gedacht hatte, begannen auch schon die ersten Tränen über ihr Gesicht zu kullern. Legolas neben ihr verschränkte unangenehm berührt seine Hände ineinander und schien mit sich selbst zu ringen. Dann rückte er kurz entschlossen ein Stück näher und nahm sie in den Arm, so dass ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte und ihre Tränen in seinem grünen Gewand versickerten. Zuerst war es etwas ungewohnt, doch dann lies sie einfach locker und war erstaunt, wie leicht es ihr fiel. Seine Hand beschrieb ausladende Kreise auf ihrem Rücken, während er mit der anderen ihren Kopf festhielt.

Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder voneinander lösten. Rowennas Tränen waren weitgehend getrocknet, nur noch die roten Augen zeugten davon, dass sie überhaupt je geflossen waren. Verlegen strich sie eine Strähne ihres Haares hinter ihr Ohr, wo sie sich jedoch direkt wieder löste und zurück in ihr Gesicht fiel. „Entschuldigung wenn ich das jetzt so frage, aber was sind sie überhaupt?" Legolas sah sie erstaunt an. „Was ist wer? Wen meint Ihr mit ‚sie'?" Zu spät fiel ihr wieder ein, dass man sich hier nicht mit ‚sie' sondern mit ‚euch' ansprach. Da hatte sie gerade gedacht, sich einigermaßen zurecht zu finden und dann so etwas! Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung, fand aber, dass die Wahrheit besser war als die Beste Ausrede, die ihr eh nicht einfiel und ihr so praktisch gar keine andere Möglichkeit blieb.

„Bei mir... also wo ich herkomme... in meiner Welt", sprach sie schließlich aus, was ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge lag und er sich wahrscheinlich schon längst denken konnte, „spricht man sich so an. Man sagt zu Kindern oder Freunden wie hier ‚du', aber zu Erwachsenen sagt man ‚Sie' anstatt ‚Euch'." „Warum spricht man sich bei Euch an, als würde man über jemand anderen sprechen und sich nicht direkt an jemanden wenden? Was für einen Sinn soll das machen? Aber damit Ihr Euch hier nicht ganz so fremd fühlt, dürft Ihr gerne ‚du' zu mir sagen wenn es Euch gefällt und Ihr mir dieses Privileg auch zugesteht", schlug er großmütig vor. Sie nickte. „Ja, das würde ich gerne tun", sagte sie schüchtern, „das würde mir tatsächlich ein wenig das Gefühl geben, nicht ganz allein zu sein in dieser... anderen Welt."Noch immer fiel es ihr nicht ganz einfach es auszusprechen auch wenn sich ihr Verstand längst damit abgefunden hatte. Ihr Herz suchte noch immer nach einem Ausweg, nach einem Weg zurück in ihre Heimat.

„Ihr... du wolltest also eben erfahren, was ich bin? Das ist leicht zu erklären. Ich bin ein Elb und wie du vielleicht schon erfahren hast, befinden wir uns hier in Düsterwald, in Mittelerde."Ihr verständnisloser Gesichtsausdruck lies ihn innehalten. Er begriff, dass sie ihm nicht folgen konnte, da sie diese Ausdrücke anscheinend noch niemals zuvor gehört hatte. Er überlegte fieberhaft, wie er jemandem, der völlig fremd war auf einer ganzen Welt, erklären konnte wer oder was er war, als er ihre leise Stimme hörte: „Und hier gibt es keine Menschen? Auf der ganzen Welt leben nur...Elben?" „Oh doch, es gibt auch Menschen auf dieser Welt. Ich selbst bin mit einigen sehr gut befreundet. Aragorn, der König von Gondor, ist zufällig gerade auf Besuch im Palast. Sicher findet sich eine Gelegenheit, euch beide bekannt zu machen, wenn du das möchtest."Ihm fiel wieder ein, dass sie ja mit Namen, die ihm schon seit frühester Kindheit ein Begriff waren oder die jeder Bewohner Mittelerdes als ganz selbstverständlich ansah, nichts anfangen konnte und gab es auf, ihr genauere Erklärungen liefern zu wollen. Das hätte vermutlich Stunden oder gar Tage in Anspruch genommen, und diese Zeit stand ihnen leider nicht zur Verfügung. Aber er bemerkte, wie sich ihr Ausdruck ein wenig veränderte. Es war offensichtlich, dass sie froh war, dass sie nicht der einzige Mensch auf einer ganzen Welt war. Allein diese Vorstellung lies ihn erzittern, allein unter tausenden anderer Wesen leben zu müssen. Er begann langsam, sie etwas besser zu verstehen und drückte sie noch einmal kurz an sich, bevor er aufstand, zum Fenster ging und in die Nacht heraus schaute. „Ich will dich nicht weiter quälen indem ich diese Sache vertiefe, aber der halbe Palast redet schon über dich. Ein Dienstmädchen hat von... von deiner silbernen Sonne erzählt und sogar Gandalf, ein mächtiger Zauberer, zeigte sich beunruhigt. Kannst du sie irgendwie entfernen, damit das Geschwätz des Mädchens als bloßer Versuch abgetan wird, um Aufmerksamkeit zu erregen?"

Na ganz toll, jetzt lassen die hier sogar schon einen Zauberer auf mich los. Wahrscheinlich gibt es hier sogar Zwerge wie im Märchen. Sie musste den letzten Satz wohl laut ausgesprochen haben ohne es zu merken, denn Legolas lachte leise. „In der tat gibt es Zwerge. und zufällig ist auch ein Mitglied dieser Gattung gerade zu Besuch im Palast und bewohnt das Zimmer gleich gegenüber auf der anderen Seite des Ganges. Gimli ist sein Name und er ist ein sehr guter Freund von mir." Rowenna wurde rot. Er hält mich bestimmt für total doof, und ich gebe ihm auch immer wieder einen neuen Anlass dazu. „Ah ja... Wie schön", stammelte sie. „Dann werde ich ihn ja vielleicht auch einmal kennen lernen." „Das würde ihn sicher freuen. Aber du darfst seine Worte nicht immer so genau nehmen, manchmal... nun ja, manchmal drückt er sich nicht so gewählt aus, wie es sich in Anwesenheit einer Dame schickt." Oje, musste ich denn unbedingt in einer Welt landen, in der Frauen immer noch verhätschelt und im Haus eingesperrt werden? Das ist ja wie im Mittelalter! Als ob ich nicht auch was drauf hätte! Ihre Stirn legte sich ohne ihr Zutun in Falten, die Legolas allerdings falsch deutete. „Wenn du ihn aufgrund seiner Ausdrucksweisen nicht treffen möchtest, dann ist das deine Entscheidung. Niemand wird dir irgendetwas übel nehmen." Rowenna entschloss sich dazu, einfach auszusprechen, was sie dachte. Außerdem war sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gewohnt und hätte es daher wahrscheinlich auch nicht mehr lange ausgehalten, ständig jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. „Das ist es nicht. Ich bin gewohnt, dass Frauen und Männer die gleichen Arbeiten verrichten oder die gleichen Worte benutzen. Ich bin sicher, ich kenne einige Worte, die deine werten Ohren rötlich färben würden", konnte sie sich einfach nicht verkneifen zu sagen. „Und außerdem trage ich nur sehr selten Kleider, und schon gar nicht solche wie diese hier."Sie wies auf den Stuhl neben dem Schrank, über dem noch das prächtige rote Gewand hing, das sie heute getragen hatte. „Ich trage fast täglich nur Hosen und niemand findet daran etwas Seltsames. Sie sind viel praktischer. Wenn ich mir vorstellen sollte, in einem Kleid zu kämpfen..." „Du kämpfst?" Tatsächlich meinte sie keinen ihm bekannten Kampf. Hier lernte man bestimmt nur mit Schwertern und Säbeln umzugehen, und Kampfsportarten wie Karate, das sie schon seit ihrem fünften Lebensjahr zweimal die Woche besucht hatte, waren wohl gänzlich unbekannt. „Soll ich dir etwas zeigen?" Er sah sie ein bisschen an, als hätte sie den Verstand verloren. „Aber es ist mitten in der Nacht und wir würden außerdem mit dem Schwertergeklirr den halben Palast aufwecken. Und ich fühle mich nicht ganz wohl, gegen dich zu kämpfen. Falls dir etwas passiert..." Wie erwartet kannte er anscheinend nur den Schwerterkampf. Aber sie würde ihm schon beibringen, sich nicht immer nur auf sein Schwert zu verlassen! „Aber nein, kein Kampf mit Schwertern."Wäre er von ihrer Welt gewesen, hätte er jetzt vermutlich gesagt, er verstehe nur Bahnhof, aber in Ermangelung eines vergleichbaren Objektes beschränkte er sich darauf auszusehen wie... nun ja, wie ein verdutzter Elb.

„Stell dich hier hin!" Ein kurzer Protest flackerte in seinen Augen auf, bevor er wirklich in die Mitte des Zimmers trat. Anscheinend war er es nicht gewohnt, sich herumkommandieren zu lassen und schon gar nicht von einer Frau. „Und jetzt?"Er bemühte sich, gelangweilt auszusehen, aber seine Augen blitzten wach und beobachteten jede ihrer Bewegungen. Rowenna trat hinter ihn wo er sie nicht mehr sehen konnte und noch bevor er sich zu ihr umdrehen konnte spürte er einen Schlag und fand sich eine Sekunde später auf dem Boden wieder. „Was..."Sein Versuch aufzustehen scheiterte schon im Ansatz. „He!" Rowenna hielt ihm die Hand hin, um ihm hoch zu helfen. „Na, überrascht?" Das triumphierende Grinsen schlich sich einfach auf ihr Gesicht, ohne dass sie es ändern konnte oder wollte. Vielleicht gefällt es mir hier doch nicht so schlecht. Jedenfalls macht es einen Heidenspaß, diesen Elben niederzustrecken. Er räusperte sich. Erst da merkte sie, dass sie noch immer seine Hand hielt. Schnell lies sie sie los und sagte, um die Spannung, die bis vor ein paar Sekunden noch gar nicht da gewesen war, wieder ein bisschen aufzulockern: „Na, wohl doch nicht so ein begnadeter Kämpfer, was?"Doch die Worte klangen irgendwie längst nicht so ironisch wie beabsichtigt, was wahrscheinlich hauptsächlich daran lag, dass sich sein Gesicht plötzlich genau vor ihrem befand und sie seinen Atem an ihrer Wange spüren konnte.

Seine Augen musterten ihre noch immer wachsam, als hätten sie nie etwas anderes getan und er hob seine linke Hand wie in Zeitlupe zu ihrer Schulter, wo er sie ablegte und durch den seidenen Morgenmantel hindurch ihre Haut erwärmte. Sie sah nur noch seine Augen, seinen Mund, seine Nase...seine Ohren, die ihr plötzlich nicht mehr im Geringsten komisch vorkamen. Und dann schloss sie einfach die Augen, genoss seinen warmen Atem auf ihrer Haut und dann näherten sich seine Lippen... Sie konnte es nicht sehen, spürte nur wie sie die ihren trafen und zu einer Einheit verschmolzen...

Plötzlich jedoch löste er sich von ihr. „Äh... Entschuldige. Das war nicht beabsichtigt. Es war nur..." Sie sah ihn herausfordernd an, immer noch den Geschmack seiner Lippen in ihrem Mund. Doch er sagte nur: „Es ist nun wirklich schon spät und wir sollten alle schlafen... Wir sehen uns dann bestimmt morgen wieder."Aber ihm waren seine zwiespältigen Gefühle hinsichtlich dieses erneuten Treffens deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ein Teil von Rowenna hoffte noch immer, dass er zurückkommen würde, als die Tür schon längst ins Schloss gefallen war. So drehte sie nur noch den Schlüssel herum und schlüpfte wieder in ihr Bett, das inzwischen komplett ausgekühlt war und ihr nur noch klamm und ungemütlich vorkam. Tief in ihre Decke gekuschelt schlief sie schließlich ein.