Kapitel 6
Ziellos lief Rowenna durch die dunklen Gänge. Warum musste dieser Palast
nur so groß sein? Sie hatte das Gefühl, als hätte sie gerade zum vierten
Mal dieselbe Stelle passiert und doch kam ihr nichts bekannt vor. Alles sah
auf seine Art gleich und auch verschieden aus, und sie kam nicht daran
vorbei sich einzugestehen, dass sie sich verlaufen hatte.
In Gedanken versuchte sie, ein Bild ihres Zimmers heraufzubeschwören und
suchte fieberhaft nach einem Anhaltspunkt. Irgendetwas auffälliges,
vielleicht eine Statue in der Nähe der Tür oder ein besonderes Bild. Aber
ihr fiel nichts ein, so sehr sie ihren Kopf auch anstrengte. Alles, an das
sie sich erinnern konnte, war das große Bett und der wunderschöne Ausblick,
den man vom Fenster in den Garten hatte.
Langsam wurde sie nervös und ein Gefühl der Einsamkeit breitete sich in ihr aus. Überall waren nur diese kalten, grauen Wände und auch die Fackeln und Behänge konnten dies nicht kaschieren. Durch die wenigen Fenster, an denen sie vorbeikam, sah sie, dass sich die Sonne endgültig hinter die Berge zurückgezogen hatte. Ein kühler Hauch wehte in den Gängen und sie schlang die Arme um ihren Körper, um sich so ein wenig besser warmzuhalten.
Ich will doch einfach nur in mein Zimmer. Ist das denn so viel verlangt? Oder nach Hause. Ich muss unbedingt zu Sarah! Oh Gott, wie kann ich sie nur vergessen haben, egal, was auch geschehen ist. Vielleicht ist sie schon tot! Ich muss zu ihr! Ich muss...
Es war wieder der Nebel. Wenn sie den Mund öffnete, drang er in sie ein und kühlte sie aus. Sie konnte es so deutlich spüren, es war auf seine Weise kälter als Eis. Und wärmer als Feuer. Vielleicht verbrannte es sie, vielleicht existierte es gar nicht wirklich sondern war nur ein Produkt ihrer Fantasie. Das träge Grau um sie herum schien zu pulsieren, es drängte sich an ihren Körper und wich dann wieder von ihr. Es durchdrang ihre Kleidung und benetzte ihre Haut.
Unter ihren Füßen war kein Boden. Sie konnte sie bewegen, ohne dass sich ihr Körper hob oder senkte. Sie schwebte einfach auf einer Stelle und starrte in den Nebel. Ihre Gedanken setzten einen Augenblick aus. Plötzlich wurde ihr kalt. Von allen Seiten schwebte die Kälte materienlos auf sie zu, sie hüllte sie ein. Das Grau verdunkelte sich immer mehr und musste schließlich einem tiefen Schwarz weichen.
Viel zu spät erfasste sie die Panik. Schon schlossen sich die letzten Zwischenräume, durch die noch ein wenig Licht zu ihr durchgedrungen war. Nicht nur ihr Körper wurde erschreckend schnell kalt, auch auf ihrem Herzen fühlte sie eisige Klauen, die nach ihr griffen und riesige Furchen hinterließen. Sie durchschwemmten die junge Frau mit Angst und Hoffnungslosigkeit, bis sie das Leben als fast zu grausam fand um es ertragen zu können. Alle ihre Energie wurde mit einem Mal aus ihr herausgesaugt.
Nein! Du musst kämpfen!
Es waren nicht ihre Gedanken, und doch formten sie sich in ihrem Kopf. Sie schaffte ein wenig Klarheit, doch wieder fühlte sie die Kälte auf ihrer Seele.
Nein! Ich will das nicht!
Diesmal war ihr Verstand es, der die Worte formte und solange vor ihrem geistigen Auge auftauchen ließ, bis sie es begriffen hatte. Sie wollte es nicht, also würde sie es beenden! Sie dachte an Sonnenschein auf ihrer Haut, der so ganz anders war als das, was sie jetzt spürte. Es war nicht viel, aber es reichte, um ihren Lebensgeist zurückkehren zu lassen. Das Schwarz wich von ihr zurück, als hätte es sich an ihr verbrannt. Es riss an einigen Stellen ein und ließ weiße Strahlen durch, anderswo verschwand es einfach, als wäre es niemals dagewesen. Dann endlich begannen sich Bilder um sie herum zu formen. Gierig sogen ihre Augen die Farben auf, als hätten sie jahrelang nur grau gesehen. Es dauerte eine Weile, bis sie genauere Umrisse erkennen konnte. Dann endlich spürte sie festen Boden unter ihren Füßen. Sie bewegte ihre Finger und war froh, sich wieder normal zu fühlen.
Es war der Geruch, der ihr zuerst auffiel. Anfangs konnte sie ihn nicht genau einordnen, wusste nur, dass sie ihn kannte und...hasste. Als sie sich umsah, konnte sie auch erkennen, wo sie war. Überall war weiß – weiße Türen, Wände, ein weißes Bett... und ein Piepsen, das unangenehm in ihren Ohren schellte.
Ein Krankenzimmer. Was mache ich hier?
Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Freundin Sarah unter all den Schläuchen wiedererkante. Sie sah so verändert aus, gar nicht die Sarah, die Rowenna vor Augen hatte. Ihr Gesicht war ausgemergelt und fast genauso weiß wie die Wand oder das Bettlaken. Das Piepsen hallte in Rowennas Kopf wider wie in einer riesigen, leeren Kirche, es störte ihre Gedanken und verwirrte sie. Es schien anzuschwellen und wieder abzuklingen, alles in einem schrecklich einschläfernden, monotonen Rhythmus, doch die junge Frau wusste genau, dass es sich nur um Einbildung handeln konnte. Sie hörte eine Weile einfach zu, stand da und ließ die Atmosphäre auf sich wirken, starr und unbeweglich. Sie konnte nicht anders, konnte sich nicht entziehen. Es hielt sie fest. Piep, piep, piep... und dann... ...nichts mehr. Sie brauchte eine Weile bis sie begriff, dass da kein Piepsen mehr war. Die Stille umfing sie wie zuvor das Geräusch. Langsam begannen ihre Gedanken, sich wieder zu bewegen, als hätte der Blutfluss in ihrem Kopf bis gerade innegehalten und vergessen, sie mit dem lebensnotwenigen Sauerstoff zu versorgen.
Mit einemmal war ihr Gehirn wieder frei, und sie realisierte die Situation. Sie stand hier in einen Krankenhauszimmer, im Bett vor ihr lag ihre beste Freundin, und das Piepsen hatte aufgehört. Die Erkenntnis erreichte sie wie ein plötzlicher Donnerschlag, lautlos, aber mit einer Wucht, die sie umzuwerfen drohte.
Sie sah kaum, wie Ärzte an ihr vorbeistürmten und sie beiseite stießen. Sie hatte schon einmal jemanden von den Toten wiedergeholt und sie konnte es vielleicht wieder schaffen – das war ihr einziger Gedanke. Krampfhaft versuchte sie sich zu konzentrieren, doch alles, was sie erreichte war, dass sie sich einbildete, wieder das Piepsen zu hören. Als sie merkte, dass alle Anstrengung vergeblich war, machte sich Panik in ihr breit. Warum funktionierte es nicht? Doch sie konnte ihre Gedanken nicht von der Realität in diese andere Welt bewegen, konnte ihre Ohren nicht davon abhalten zu hören und ihrer Nase nicht verbieten, den beißenden Geruch der Desinfektionsmittel wahrzunehmen.
Sie fühlte sich einfach nur verloren und in ihren Grundfesten erschüttert. Ohr war klar gewesen, dass ihr Leben nie wieder so sein konnte wie früher, doch jetzt sah sie es zum ersten Mal mit ihren eigenen Augen. Sah, wie einer der wichtigsten Bestandteile ihres Lebens verschwand. Noch war sie nicht bereit loszulassen und aufzugeben. Ihre Augen, dass es vorbei war, doch sie nahm es nicht wahr.
Die Ärzte schienen sie nicht zu sehen. Die Rufe nach Geräten und Mitteln waren verstummt und der Raum leerte sich. Später würde jemand kommen und den leblosen Körper wegschaffen, um Platz für den nächsten Patienten zu machen, ein ständiges Kommen und Gehen. Wie viele Seelen hatten wohl hier schon ihren Körper verlassen? Es konnten dutzende sein oder hunderte. Vielleicht war Sarah auch die erste, aber das war nicht von Bedeutung. Mit Sicherheit waren es zu viele, zu viele würden noch folgen.
Keine Tränen liefen Rowennas Wangen herunter, ihre Augen waren nicht einmal feucht. Noch war es für sie ein Alptraum, ein sehr realer zwar, aber dennoch nicht mehr als ein Traum, aus dem sie erwachen würde. Sie würde feststellen, dass sie in ihrem Zimmer im Palast lag und nichts geschehen war. Oder habe ich das auch alles geträumt? Gibt es diese Welt wirklich? Es muss so sein! Doch wenn des die Wirklichkeit ist, was ist dann der Traum? Benommen versuchte sie, einige Schritte zu gehen nur um festzustellen, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen. Schon nach einem Meter knickten ihre Knie einfach ein. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Sturz mit ihren Händen abzufangen. Ihre Reflexe setzten einfach aus und ließen zu, dass sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Schwärze umfing sie, schloss sie ein und verschlang alles Leuchtende, Schöne. Die Kälte, die ihr mittlerweile schon so oft begegnet war, griff wieder nach ihr, sie brachte ein unangenehmes Gefühl der Übelkeit mit sich und löschte jeden Gedanken. Rowenna war nicht mehr stark genug, sich dagegen zu wehren. Es war ihr egal, was mit ihr geschah, alles war ihr egal.
Licht, viel zu grell. Schnell schloss Rowenna wieder die Augen oder versuchte es auch nur, da sie nun feststellen musste, dass sie sie gar nicht geöffnet hatte. Dementsprechend verblasste das Licht auch nicht, sondern blendete sie noch immer. Langsam regte sich etwas in ihr. Licht? War das nicht etwas schönes, gutes? Hatte sie es nicht einmal geliebt und die Dunkelheit verabscheut? Sie zwang sich, in das Licht zu schauen. War es nicht vielmehr warm und leuchtend als grell und unangenehm? Es umfing sie wie ein herrlicher Sommertag. Plötzlich kamen ihre Erinnerungen zurück, Erinnerungen an Sonne, Blumen, den Geschmack frischer Erdbeeren.
Sie wollte nicht zurück in die Dunkelheit, nie mehr. Sie wollte wieder leben und aus diesem seltsamen Schwebezustand erwachen. Sie wollte den Boden fühlen, die Luft einatmen. Das Licht schien sich zu formen, bis schließlich eine Person heraustrat oder vielleicht eher schwebte. Sie näherte sich langsam, doch Rowenna erkannte sie schon nach wenigen Sekunden.
Legolas stand in der Bibliothek, wo sich auch die anderen ehemaligen Gefährten und viele sonstige Palastbewohner eingefunden hatten. Jeder starrte ihn an und wollte sich ständig versichern, dass es dem Prinzen auch wirklich gut ging. Wäre er in einer anderen Verfassung gewesen, hätte er darüber gelächelt und jede einzelne Frage beantwortet ohne eine Miene zu verziehen. Doch ein unangenehmes Gefühl der Sorge beschlich ihn. Er wusste nicht, was es war, das ihn so beunruhigte. Ihm war aufgefallen, dass Rowenna nicht anwesend war, aber er hielt es nicht für sonderlich bedeutend. Wahrscheinlich saß sie in ihrem Zimmer oder schlief sogar schon. Schließlich war es schon später Abend und die meisten waren nur noch wach, weil sie nichts verpassen wollten.
Hier und da gähnte einer mehr oder weniger unterdrückt. Die Luft war durch die vielen Menschen und Elben im Raum nicht gerade verbessert worden und Legolas ging zum Fenster, um es zu öffnen. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen und ließ ihn endlich wieder tief durchatmen. Nach dem stickigen Dunst war das hier die reinste Erholung.
„Mein Sohn! Willst du dich nicht ein wenig zu mir gesellen?", rief Thranduil hinter ihm. Seufzend atmete Legolas noch einmal tief durch, schloss dann das Fenster wieder und setzte sich neben seinen Vater auf das große Sofa.
„... war? Hörst du mir überhaupt zu, mein Sohn?" Der Angesprochene schreckte hoch. „Natürlich, Vater. Ich glaube, ich fühle mich nicht besonders gut. Ein wenig frische Luft und anschließender Schlaf würden mir recht gut tun. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich zurückziehe, nicht wahr? Es war wirklich ein anstrengender Tag!" Er war froh, dass sein Vater nicht bemerkte, dass dies nur eine Ausrede war. Er war viel zu aufgebracht, um schlafen zu können, doch er fühlte sich wirklich seltsam und wollte am liebsten allein sein und vor allem aus diesem Zimmer heraus. „Das verstehe ich. Leg dich nur hin, wir können uns auch morgen weiter unterhalten."
Legolas nickte dankbar und verschwand bemüht unauffällig durch die schwere Tür, die er zu seinem Leidwesen lautlos zu schließen nicht imstande war. Er hoffte, dass niemand so schnell seine Abwesenheit bemerken und ihm folgen würde, denn er wollte auf dem schnellsten Weg ins Freie.
Umso überraschter war er, als er sich selbst wenige Minuten später vor einer Zimmertür wieder fand, und es war nicht die seine. Was mache ich denn jetzt vor Rowennas Zimmer? Ich sollte sie wirklich allein lassen, sie schläft bestimmt schon! Trotz seiner Gedanken öffnete er vorsichtig die Tür und steckte den Kopf hindurch. Kein Licht leuchtete in inneren, doch soweit er es in fahlen Schimmer der Fackel des Ganges erkennen konnte, war das Bett noch unberührt.
Obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte, ging er hinein. Er schloss die Tür hinter sich, sodass er sich in fast völliger Dunkelheit befand. Nur durch das Fenster strömte ein fahler Schein des Mondes herein. Aber da war noch etwas... ein blauer Schimmer. Er ging weder vom Fenster, noch von einer Kerze oder ähnlichem aus. Er ging darauf zu und erkannte dank seiner empfindlichen Augen, dass es die Kette war, die er ihr eines Nachts gebracht hatte weil er angenommen hatte, es wäre ihre. An ihr hing ein Tropfenförmiger Anhänger, der in einem hellen Licht strahlte.
Er nahm ihn in seine Hand.
Die Welt um ihn herum verschwand. Nicht, dass er im Dunkeln besonders viel wahrgenommen hätte, noch dazu, weil es absolut still gewesen war, aber trotzdem verschwand das bisschen, das noch da gewesen war. Er schwebte, ein Gefühl, das er in diesem Maße noch nie gespürt hatte. Und dann sah er sie. Sie schwebte wie er, doch ihre Augen waren halb geschlossen und sie schien völlig abwesend zu sein, fast schon unheimlich starr.
Dann endlich leuchtete das Erkennen in ihren Augen auf, als sie ihn sah. Er wusste nicht, wo er war, er wusste nicht, was er hier sollte, doch ohne nachzudenken tat sein Körper einfach das Richtige. Er bewegte sich auf Rowenna zu, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie das vonstatten ging, denn seine Beine bewegten sich nicht. Er berührte sie, doch sie fühlte sich so unwirklich an, als würde sie im jeden Augenblick zwischen den Fingern hindurch gleiten und auf immer in den scheinbar unendlichen Tiefen dieses Nebels verschwinden, in dem sie sich befanden. Er hielt sie fester und zog sie an sich, denn wenn er sie hier verloren hätte, das wusste er, würde er sich das niemals verzeihen können.
Dann löste sich der Nebel und Dunkelheit umgab sie. Sein Körper gehorchte Legolas wieder, was er mit einem Seufzen der Erleichterung wahrnahm. Auf dem Boden zu seinen Füßen sah er das Licht in dem Stein der Kette verglühen, bis nichts mehr daran erinnerte, dass es sich nicht um ein ganz normales Schmuckstück handelte.
Ein Geräusch lief ihn zusammenzucken, bis er merkte, dass es Rowenna gewesen war, die er noch immer fest umklammert hielt, als könne sie ihm im letzten Moment doch noch entwischen. Er wollte sie auf Bett legen, doch dann sah er, dass sie nicht etwa bewusstlos war sondern sich unruhig aus seinen Armen wand.
„Warum hast du das gemacht?"Sie stellte sich ein Stück entfernt von ihm hin und sah ihn an. Trotz der Dunkelheit schienen ihre Augen zu leuchten. „Was?" „Das weißt du doch genau."Auf sein angedeutetes Kopfschütteln hin fuhr sie fort: „Es ist gefährlich dort. Es hätte dich umbringen können. Du weißt es vielleicht nicht, denn du warst nur einmal kurz da. Aber es frisst dich von innen auf, es zerstört deine Seele und erfriert dein Herz. Bitte sag mir, dass du nie wieder dorthin gehst! Versprich es mir!" Unbewusst hatte ihre Stimme zum Ende hin immer mehr an Lautstärke zugenommen. Einige Tränen, die sie vorher nicht hatte weinen können, lösten sich jetzt und flossen bis zu ihrem Kinn hinunter, wo sie sich sammelten. „Bitte, versprich mir das", flüsterte sie gebrochen, rührte sich aber keinen Millimeter von dem Platz, an dem sie stand.
„Ich habe doch gar nichts gemacht", verteidigte er sich schwach, „ich kam in dieses Zimmer, und plötzlich war ich dort." „Und was ist dazwischen geschehen?", fragte sie misstrauisch nach, „ich kann nicht glauben, dass du einfach so dorthin gelangt bist. Warst du jemals zuvor dort?" „Nein, ich wusste nicht einmal, dass es diesen Ort gibt, und ich weiß noch immer nicht, was es wirklich war. Ich weiß nur, dass ich in dieses Zimmer kam und diese Kette berührt habe, weil sie von selbst geleuchtet hat. So etwas habe ich vorher noch nie gesehen!" „Was für eine Kette? Ich habe keinen Schmuck", sie schüttelte kurz den Kopf, „zumindest nicht hier." Legolas bückte sich und hob die Kette, die immer noch zu seinen Füßen auf dem Boden lag, auf. Jetzt sah sie so normal aus, und Rowenna betrachtete sie einen Moment lang zweifelnd, bevor sie danach griff. Sofort begann der Kristall wieder in einem kräftigen blau zu leuchten.
Sie stand einfach im Wald und lauschte. Wie lange hatte sie dieses Gefühl der Freiheit missen müssen? Es waren fast zwanzig Jahre gewesen, nicht viel im Gegensatz zu ihrem bisherigen Leben, und doch viel zu viel. Zwitschernd begrüßten die Vögel sie, als wäre sie nie fort gewesen, flogen um sie herum, und ein besonders vorwitziges Vögelchen ließ sich sogar auf ihrer Schulter nieder.
„Ja, meine Freunde, ich bin wieder da!", beschwichtigte sie die Tiere des Waldes. Erst jetzt wurde ihr in vollem Maße bewusst, wie sehr sie sich nach alldem gesehnt hatte in den Jahren, die sie in der Welt der Menschen zugebracht hatte. Doch jetzt war ihre Arbeit dort beendet und sie konnte getrost in ihre Welt zurückkehren, ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden. Jetzt war nur die Zukunft wichtig, denn ihre Mission war noch lange nicht erfüllt.
In der Ruhe, die sie nun umgab, ließ sie die vergangene Zeit noch einmal an sich vorüberziehen, und sie konnte sich an jeden Augenblick so gut erinnern, als wäre es erst weinige Tage vorüber
Es war erstaunlich einfach gewesen, einen Platz in dieser Welt zu finden. Alles wurde dort aufgezeichnet, dicke Akten wurden über jeden Bewohner geführt, doch bei dem kleinsten bisschen Magie versagte ihre lächerliche Bürokratie. Sie hatte sich als Kind getarnt, ein einfacher Zauber, der den schlechtesten Magier sofort aufgefallen wäre. Doch dort hatte sich niemand darum geschert. Die Magie war völlig aus dieser Welt verschwunden, dabei war sie früher einmal, in fast vergessenen Zeiten, Mittelerde ebenbürtig oder an Macht gar überlegen gewesen.
Doch vor neunzehn Jahren war dort ein Kind geboren worden, das alle Kräfte seiner Vorfahren in sich vereinigte. Es wuchs in einer normalen Familie auf – niemand ahnte damals von diesen Kräften. Doch ihr ganzes Leben lang hatte sie eine Beschützerin gehabt, die ihr immer zur Seite gestanden hatte, ohne zu fragen.
Seufzend strich Sílawen ihre hellen Haare zurück und lehnte sich an den Baum, der ihr am nächsten stand. Ja, sie hatte dieses Kind wirklich lieben gelernt. Doch es wuchs heran, und mehr und mehr entwickelten sich seine magischen Fähigkeiten. Es selbst ahnte nie etwas davon, bis zu diesem einen, entscheidenden Tag. Endlich hatte es seinen Weg durch die Welten gefunden, den Pfad seiner Bestimmung beschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es sich selbst beweisen musste in einer Schlacht, die zu schlagen nur es in Stande war.
Ok, sie hatte ihn hinaus geworfen, und ja, sie war vielleicht etwas grob gewesen, aber sie brauchte jetzt einfach Zeit zum Nachdenken. Kaum hatte sie den geheimnisvollen Stein berührt, hatte eine Welle der Macht sie ergriffen. Plötzlich konnte sie nicht mehr glauben, dass sie so nah daran gewesen war, aufzugeben. Sie hatte sich gefühlt, als könne nichts in der Welt ihr noch Schaden zufügen, als wäre sie stärker als jedes Heer und erfahrener als die Erde selbst.
Als das Gefühl wieder nachgelassen hatte, war sie beinahe enttäuscht, doch allein die Erinnerung daran bereitete ihr ein aufgeregtes Kitzeln am ganzen Körper. Es war so verwirrend gewesen, und sie wollte ihm noch nichts davon sagen. Sie vertraute ihm wirklich, aber sie kannten sich erst wenige Tage und sie wollte erst selbst versuchen herauszufinden, was mit ihr geschehen war.
Sie hatte keine Uhr, doch sie schätzte, dass es bestimmt schon weit nach Mitternacht war, und langsam machte sich ihre Müdigkeit bemerkbar. Der Wunsch zu schlafen kam ihr ganz recht, so würde sie nicht mehr so viel grübeln können und ihre Probleme wären am nächsten Tag auch noch da. Nach einem herzhaften Gähnen verschwand sie im Bad und wusch sich schnell ein bisschen. Als sie endlich unter der warmen Bettdecke lag, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis sie sich auf dem weiten Weg ins Land der Träume befand.
Sílawen wusste, sie hätte auch mit einem einfachen Zauber mühelos binnen weniger Sekunden am Ziel sein können, doch die Natur um sie herum war so herrlich, dass sie sie noch möglichst lange Zeit genießen wollte. Sie drückte ihrem schneeweißen Pferd leicht in die Seiten, sodass es seinen Schritt ein wenig beschleunigte.
Vielleicht hätte sie doch nicht den ganzen letzten Tag reitend zubringen sollen. Ihr Körper war solche Anstrengungen nicht mehr gewohnt, auch wenn sie versucht hatte, fit zu bleiben. Doch in der Welt der Menschen gab es zu viele Bequemlichkeiten, als dass sie ihre täglichen Trainingseinheiten lange durchgehalten hätte. Aber glücklicherweise hatte sie es nicht mehr weit, und jetzt freute sie sich schon auf ein warmes Bad, das ihren Körper entspannen und einem Muskelkater hoffentlich vorbeugen würde.
Nachdem sie ihr Nachtlager früh im Morgengrauen abgebrochen hatte, war der Himmel noch wolkenverhangen und düster gewesen. Doch mittlerweile hatte es sich aufgeklart und nun, am frühen Vormittag, schien die Sonne heiß auf sie herunter. Wieder umschwirrten sie die Vögel, und sogar die größeren Tiere begrüßten sie und den neuen Tag gleichermaßen. Hin und wieder begegnete ihr auch ein Elb, der sich eilig vor ihr verbeugte und sie willkommen hieß. Insgesamt hatte sie aber mit Absicht ruhigere Reisewege gewählt, um ungestört und zügig voranzukommen.
Dann endlich hatte sie in vor Augen: Den Palast Thranduils von Düsterwald. Die letzten paar Meter ließ sie ihr Pferd im Schritt zurücklegen, bevor sie im Hof aus dem Sattel stieg.
Egal, wie oft sich Rowenna früher auch eine Bedienstete gewünscht hatte, jetzt würde sie es am liebsten rückgängig machen. Nûemyn war wirklich lieb, und Rowenna hatte sie auch sehr gern, aber sie war zu unterwürfig, zu sehr darauf bedacht, alles richtig zu machen. So, wie jetzt auch wieder.
„Nein danke, Nûemyn, du brauchst mir wirklich nicht beim Anziehen zu helfen. Du hast mir schon Frühstück gebracht und das Bett gemacht. Beides hätte ich wirklich auch gut selbst machen können. Jetzt setzt du dich erst einmal hin und ruhst dich aus. Du kannst mir ja von deiner Arbeit hier erzählen. Oder von deinen Freunden, was du möchtest." „Ich soll Euch etwas erzählen? Aber mein Leben ist bestimmt sehr langweilig im Gegensatz zu Eurem. Ich..."
„So, jetzt ist Schluss damit!"
Nûemyn riss erschrocken die Augen auf und verstummte. „Ab jetzt sagst du nicht mehr ‚Ihr' und ‚Herrin' oder etwas in der Art zu mir. Sag einfach Rowenna. Und ich glaube nicht, dass deine Geschichten es nicht wert sind, angehört zu werden, sonst hätte ich dich nicht danach gefragt."Rowennas Stimme klang ärgerlicher, als es gemeint war, und das war ihr auch bewusst. „Ja...ja. Wenn Ihr das so... wenn du das so wünschst. Verzeihung, ich bin es einfach gelehrt worden, immer höflich zu hohen Herrschaften zu sein. Meine Mutter sagte immer, wenn ich es nicht bin, werde ich aus dem Palast geworfen und muss auf der Straße von anderer Leute Dreck leben." „Das ist doch Unsinn. Und außerdem bin ich keine hohe Herrschaft. Ich stamme aus ähnlichen Verhältnissen wie du, und dass ich hier im Palast wohne, verdanke ich nur einem Zufall. Also kannst du mich ohne Gewissensbisse als Freundin sehen. Erzählst du mir jetzt etwas?", fügte Rowenna betont fröhlich hinzu.
Tatsächlich schien Nûemyn langsam aufzutauen, denn sie erzählte frei von ihrer lieben Mutter, ihrem strengen Vater und ihren fünf Geschwistern. Schon bald lachten beide bei den Geschichten über ihren tollpatschigen kleinen Bruder.
Nach einer Weile klopfte es an der Tür. Es war Legolas, der nicht einmal darauf wartete, dass jemand ‚herein' rief, sondern einfach eintrat. „Oh... störe ich? Dann komme ich später..." Doch Rowenna unterbrach ihn: „Unsinn, komm ruhig rein! Und du bleibst sitzen!"Sie hielt Nûemyn fest, die aufstehen und sich vor dem Prinzen verbeugen wollte. „Oder bestehst du darauf, dass sie sich vor dir verbeugt?", wandte sie sich an Legolas. „Ich finde das nämlich ziemlich albern. Das ist übrigens Nûemyn", stellte sie ihre neue Freundin vor.
„Legolas wirst du wohl kennen. So, jetzt gebt ihr euch die Hand und verhaltet euch wie ganz normale Men... äh, Elben. Dann habt ihr auch gute Chancen, hier in meinen Zimmer bleiben zu dürfen." Nûemyn stand auf und blickte beschämt auf ihre Füße. Doch Legolas grinste nur und hielt ihr seine Hand hin, die sie zögernd ergriff und vorsichtig schüttelte. „Schön!", freute sich Rowenna und rutschte auf dem Bett, auf dem sie die ganze Zeit zu zweit gesessen hatten, ein Stück zur Seite, damit Legolas auch noch Platz hatte.
„Das darfst du jetzt aber nicht bei allen Bediensteten machen. Mir selbst macht es ja nichts aus, aber wenn mein Vater erfährt, dass du erzählst, die Königsfamilie wäre nichts Besonderes, dann kannst du dir bald eine andere Unterkunft suchen", meine er schmunzelnd und setzte sich neben sie. „Aber er erfährt es ja nicht."
Rowenna fühlte sich frisch und... einfach glücklich. Sie hatte dieses Gefühl ihrer Erinnerung nach nun schon so lange nicht mehr gehabt, dass sie es fast vergessen hatte. Woher das Gefühl kam, konnte sie sich nicht erklären, und es war ihr auch einigermaßen egal. Sie stand von Bett auf und streckte die Arme von sich. „Leute, heute will ich was unternehmen!"Sie begann sich ein wenig zu drehen. „Wie wäre es, wenn..."
Ein Klopfen ließ sie innehalten. „Ja?" Ein Mädchen kam herein. „Ist Prinz Legolas hier?" Als er sich erhob, fuhr sie fort: „Euer Vater lässt Euch rufen. Ein Gast ist eingetroffen, und ihr sollt ihn begrüßen. Es ist die Lady Sílawen." „Ich komme sofort. Rowenna, Nûemyn – wir sehen uns dann später!" Er schloss die Tür hinter sich und lief den Gang entlang zur Halle.
Langsam wurde sie nervös und ein Gefühl der Einsamkeit breitete sich in ihr aus. Überall waren nur diese kalten, grauen Wände und auch die Fackeln und Behänge konnten dies nicht kaschieren. Durch die wenigen Fenster, an denen sie vorbeikam, sah sie, dass sich die Sonne endgültig hinter die Berge zurückgezogen hatte. Ein kühler Hauch wehte in den Gängen und sie schlang die Arme um ihren Körper, um sich so ein wenig besser warmzuhalten.
Ich will doch einfach nur in mein Zimmer. Ist das denn so viel verlangt? Oder nach Hause. Ich muss unbedingt zu Sarah! Oh Gott, wie kann ich sie nur vergessen haben, egal, was auch geschehen ist. Vielleicht ist sie schon tot! Ich muss zu ihr! Ich muss...
Es war wieder der Nebel. Wenn sie den Mund öffnete, drang er in sie ein und kühlte sie aus. Sie konnte es so deutlich spüren, es war auf seine Weise kälter als Eis. Und wärmer als Feuer. Vielleicht verbrannte es sie, vielleicht existierte es gar nicht wirklich sondern war nur ein Produkt ihrer Fantasie. Das träge Grau um sie herum schien zu pulsieren, es drängte sich an ihren Körper und wich dann wieder von ihr. Es durchdrang ihre Kleidung und benetzte ihre Haut.
Unter ihren Füßen war kein Boden. Sie konnte sie bewegen, ohne dass sich ihr Körper hob oder senkte. Sie schwebte einfach auf einer Stelle und starrte in den Nebel. Ihre Gedanken setzten einen Augenblick aus. Plötzlich wurde ihr kalt. Von allen Seiten schwebte die Kälte materienlos auf sie zu, sie hüllte sie ein. Das Grau verdunkelte sich immer mehr und musste schließlich einem tiefen Schwarz weichen.
Viel zu spät erfasste sie die Panik. Schon schlossen sich die letzten Zwischenräume, durch die noch ein wenig Licht zu ihr durchgedrungen war. Nicht nur ihr Körper wurde erschreckend schnell kalt, auch auf ihrem Herzen fühlte sie eisige Klauen, die nach ihr griffen und riesige Furchen hinterließen. Sie durchschwemmten die junge Frau mit Angst und Hoffnungslosigkeit, bis sie das Leben als fast zu grausam fand um es ertragen zu können. Alle ihre Energie wurde mit einem Mal aus ihr herausgesaugt.
Nein! Du musst kämpfen!
Es waren nicht ihre Gedanken, und doch formten sie sich in ihrem Kopf. Sie schaffte ein wenig Klarheit, doch wieder fühlte sie die Kälte auf ihrer Seele.
Nein! Ich will das nicht!
Diesmal war ihr Verstand es, der die Worte formte und solange vor ihrem geistigen Auge auftauchen ließ, bis sie es begriffen hatte. Sie wollte es nicht, also würde sie es beenden! Sie dachte an Sonnenschein auf ihrer Haut, der so ganz anders war als das, was sie jetzt spürte. Es war nicht viel, aber es reichte, um ihren Lebensgeist zurückkehren zu lassen. Das Schwarz wich von ihr zurück, als hätte es sich an ihr verbrannt. Es riss an einigen Stellen ein und ließ weiße Strahlen durch, anderswo verschwand es einfach, als wäre es niemals dagewesen. Dann endlich begannen sich Bilder um sie herum zu formen. Gierig sogen ihre Augen die Farben auf, als hätten sie jahrelang nur grau gesehen. Es dauerte eine Weile, bis sie genauere Umrisse erkennen konnte. Dann endlich spürte sie festen Boden unter ihren Füßen. Sie bewegte ihre Finger und war froh, sich wieder normal zu fühlen.
Es war der Geruch, der ihr zuerst auffiel. Anfangs konnte sie ihn nicht genau einordnen, wusste nur, dass sie ihn kannte und...hasste. Als sie sich umsah, konnte sie auch erkennen, wo sie war. Überall war weiß – weiße Türen, Wände, ein weißes Bett... und ein Piepsen, das unangenehm in ihren Ohren schellte.
Ein Krankenzimmer. Was mache ich hier?
Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Freundin Sarah unter all den Schläuchen wiedererkante. Sie sah so verändert aus, gar nicht die Sarah, die Rowenna vor Augen hatte. Ihr Gesicht war ausgemergelt und fast genauso weiß wie die Wand oder das Bettlaken. Das Piepsen hallte in Rowennas Kopf wider wie in einer riesigen, leeren Kirche, es störte ihre Gedanken und verwirrte sie. Es schien anzuschwellen und wieder abzuklingen, alles in einem schrecklich einschläfernden, monotonen Rhythmus, doch die junge Frau wusste genau, dass es sich nur um Einbildung handeln konnte. Sie hörte eine Weile einfach zu, stand da und ließ die Atmosphäre auf sich wirken, starr und unbeweglich. Sie konnte nicht anders, konnte sich nicht entziehen. Es hielt sie fest. Piep, piep, piep... und dann... ...nichts mehr. Sie brauchte eine Weile bis sie begriff, dass da kein Piepsen mehr war. Die Stille umfing sie wie zuvor das Geräusch. Langsam begannen ihre Gedanken, sich wieder zu bewegen, als hätte der Blutfluss in ihrem Kopf bis gerade innegehalten und vergessen, sie mit dem lebensnotwenigen Sauerstoff zu versorgen.
Mit einemmal war ihr Gehirn wieder frei, und sie realisierte die Situation. Sie stand hier in einen Krankenhauszimmer, im Bett vor ihr lag ihre beste Freundin, und das Piepsen hatte aufgehört. Die Erkenntnis erreichte sie wie ein plötzlicher Donnerschlag, lautlos, aber mit einer Wucht, die sie umzuwerfen drohte.
Sie sah kaum, wie Ärzte an ihr vorbeistürmten und sie beiseite stießen. Sie hatte schon einmal jemanden von den Toten wiedergeholt und sie konnte es vielleicht wieder schaffen – das war ihr einziger Gedanke. Krampfhaft versuchte sie sich zu konzentrieren, doch alles, was sie erreichte war, dass sie sich einbildete, wieder das Piepsen zu hören. Als sie merkte, dass alle Anstrengung vergeblich war, machte sich Panik in ihr breit. Warum funktionierte es nicht? Doch sie konnte ihre Gedanken nicht von der Realität in diese andere Welt bewegen, konnte ihre Ohren nicht davon abhalten zu hören und ihrer Nase nicht verbieten, den beißenden Geruch der Desinfektionsmittel wahrzunehmen.
Sie fühlte sich einfach nur verloren und in ihren Grundfesten erschüttert. Ohr war klar gewesen, dass ihr Leben nie wieder so sein konnte wie früher, doch jetzt sah sie es zum ersten Mal mit ihren eigenen Augen. Sah, wie einer der wichtigsten Bestandteile ihres Lebens verschwand. Noch war sie nicht bereit loszulassen und aufzugeben. Ihre Augen, dass es vorbei war, doch sie nahm es nicht wahr.
Die Ärzte schienen sie nicht zu sehen. Die Rufe nach Geräten und Mitteln waren verstummt und der Raum leerte sich. Später würde jemand kommen und den leblosen Körper wegschaffen, um Platz für den nächsten Patienten zu machen, ein ständiges Kommen und Gehen. Wie viele Seelen hatten wohl hier schon ihren Körper verlassen? Es konnten dutzende sein oder hunderte. Vielleicht war Sarah auch die erste, aber das war nicht von Bedeutung. Mit Sicherheit waren es zu viele, zu viele würden noch folgen.
Keine Tränen liefen Rowennas Wangen herunter, ihre Augen waren nicht einmal feucht. Noch war es für sie ein Alptraum, ein sehr realer zwar, aber dennoch nicht mehr als ein Traum, aus dem sie erwachen würde. Sie würde feststellen, dass sie in ihrem Zimmer im Palast lag und nichts geschehen war. Oder habe ich das auch alles geträumt? Gibt es diese Welt wirklich? Es muss so sein! Doch wenn des die Wirklichkeit ist, was ist dann der Traum? Benommen versuchte sie, einige Schritte zu gehen nur um festzustellen, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen. Schon nach einem Meter knickten ihre Knie einfach ein. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Sturz mit ihren Händen abzufangen. Ihre Reflexe setzten einfach aus und ließen zu, dass sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Schwärze umfing sie, schloss sie ein und verschlang alles Leuchtende, Schöne. Die Kälte, die ihr mittlerweile schon so oft begegnet war, griff wieder nach ihr, sie brachte ein unangenehmes Gefühl der Übelkeit mit sich und löschte jeden Gedanken. Rowenna war nicht mehr stark genug, sich dagegen zu wehren. Es war ihr egal, was mit ihr geschah, alles war ihr egal.
Licht, viel zu grell. Schnell schloss Rowenna wieder die Augen oder versuchte es auch nur, da sie nun feststellen musste, dass sie sie gar nicht geöffnet hatte. Dementsprechend verblasste das Licht auch nicht, sondern blendete sie noch immer. Langsam regte sich etwas in ihr. Licht? War das nicht etwas schönes, gutes? Hatte sie es nicht einmal geliebt und die Dunkelheit verabscheut? Sie zwang sich, in das Licht zu schauen. War es nicht vielmehr warm und leuchtend als grell und unangenehm? Es umfing sie wie ein herrlicher Sommertag. Plötzlich kamen ihre Erinnerungen zurück, Erinnerungen an Sonne, Blumen, den Geschmack frischer Erdbeeren.
Sie wollte nicht zurück in die Dunkelheit, nie mehr. Sie wollte wieder leben und aus diesem seltsamen Schwebezustand erwachen. Sie wollte den Boden fühlen, die Luft einatmen. Das Licht schien sich zu formen, bis schließlich eine Person heraustrat oder vielleicht eher schwebte. Sie näherte sich langsam, doch Rowenna erkannte sie schon nach wenigen Sekunden.
Legolas stand in der Bibliothek, wo sich auch die anderen ehemaligen Gefährten und viele sonstige Palastbewohner eingefunden hatten. Jeder starrte ihn an und wollte sich ständig versichern, dass es dem Prinzen auch wirklich gut ging. Wäre er in einer anderen Verfassung gewesen, hätte er darüber gelächelt und jede einzelne Frage beantwortet ohne eine Miene zu verziehen. Doch ein unangenehmes Gefühl der Sorge beschlich ihn. Er wusste nicht, was es war, das ihn so beunruhigte. Ihm war aufgefallen, dass Rowenna nicht anwesend war, aber er hielt es nicht für sonderlich bedeutend. Wahrscheinlich saß sie in ihrem Zimmer oder schlief sogar schon. Schließlich war es schon später Abend und die meisten waren nur noch wach, weil sie nichts verpassen wollten.
Hier und da gähnte einer mehr oder weniger unterdrückt. Die Luft war durch die vielen Menschen und Elben im Raum nicht gerade verbessert worden und Legolas ging zum Fenster, um es zu öffnen. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen und ließ ihn endlich wieder tief durchatmen. Nach dem stickigen Dunst war das hier die reinste Erholung.
„Mein Sohn! Willst du dich nicht ein wenig zu mir gesellen?", rief Thranduil hinter ihm. Seufzend atmete Legolas noch einmal tief durch, schloss dann das Fenster wieder und setzte sich neben seinen Vater auf das große Sofa.
„... war? Hörst du mir überhaupt zu, mein Sohn?" Der Angesprochene schreckte hoch. „Natürlich, Vater. Ich glaube, ich fühle mich nicht besonders gut. Ein wenig frische Luft und anschließender Schlaf würden mir recht gut tun. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich zurückziehe, nicht wahr? Es war wirklich ein anstrengender Tag!" Er war froh, dass sein Vater nicht bemerkte, dass dies nur eine Ausrede war. Er war viel zu aufgebracht, um schlafen zu können, doch er fühlte sich wirklich seltsam und wollte am liebsten allein sein und vor allem aus diesem Zimmer heraus. „Das verstehe ich. Leg dich nur hin, wir können uns auch morgen weiter unterhalten."
Legolas nickte dankbar und verschwand bemüht unauffällig durch die schwere Tür, die er zu seinem Leidwesen lautlos zu schließen nicht imstande war. Er hoffte, dass niemand so schnell seine Abwesenheit bemerken und ihm folgen würde, denn er wollte auf dem schnellsten Weg ins Freie.
Umso überraschter war er, als er sich selbst wenige Minuten später vor einer Zimmertür wieder fand, und es war nicht die seine. Was mache ich denn jetzt vor Rowennas Zimmer? Ich sollte sie wirklich allein lassen, sie schläft bestimmt schon! Trotz seiner Gedanken öffnete er vorsichtig die Tür und steckte den Kopf hindurch. Kein Licht leuchtete in inneren, doch soweit er es in fahlen Schimmer der Fackel des Ganges erkennen konnte, war das Bett noch unberührt.
Obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte, ging er hinein. Er schloss die Tür hinter sich, sodass er sich in fast völliger Dunkelheit befand. Nur durch das Fenster strömte ein fahler Schein des Mondes herein. Aber da war noch etwas... ein blauer Schimmer. Er ging weder vom Fenster, noch von einer Kerze oder ähnlichem aus. Er ging darauf zu und erkannte dank seiner empfindlichen Augen, dass es die Kette war, die er ihr eines Nachts gebracht hatte weil er angenommen hatte, es wäre ihre. An ihr hing ein Tropfenförmiger Anhänger, der in einem hellen Licht strahlte.
Er nahm ihn in seine Hand.
Die Welt um ihn herum verschwand. Nicht, dass er im Dunkeln besonders viel wahrgenommen hätte, noch dazu, weil es absolut still gewesen war, aber trotzdem verschwand das bisschen, das noch da gewesen war. Er schwebte, ein Gefühl, das er in diesem Maße noch nie gespürt hatte. Und dann sah er sie. Sie schwebte wie er, doch ihre Augen waren halb geschlossen und sie schien völlig abwesend zu sein, fast schon unheimlich starr.
Dann endlich leuchtete das Erkennen in ihren Augen auf, als sie ihn sah. Er wusste nicht, wo er war, er wusste nicht, was er hier sollte, doch ohne nachzudenken tat sein Körper einfach das Richtige. Er bewegte sich auf Rowenna zu, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie das vonstatten ging, denn seine Beine bewegten sich nicht. Er berührte sie, doch sie fühlte sich so unwirklich an, als würde sie im jeden Augenblick zwischen den Fingern hindurch gleiten und auf immer in den scheinbar unendlichen Tiefen dieses Nebels verschwinden, in dem sie sich befanden. Er hielt sie fester und zog sie an sich, denn wenn er sie hier verloren hätte, das wusste er, würde er sich das niemals verzeihen können.
Dann löste sich der Nebel und Dunkelheit umgab sie. Sein Körper gehorchte Legolas wieder, was er mit einem Seufzen der Erleichterung wahrnahm. Auf dem Boden zu seinen Füßen sah er das Licht in dem Stein der Kette verglühen, bis nichts mehr daran erinnerte, dass es sich nicht um ein ganz normales Schmuckstück handelte.
Ein Geräusch lief ihn zusammenzucken, bis er merkte, dass es Rowenna gewesen war, die er noch immer fest umklammert hielt, als könne sie ihm im letzten Moment doch noch entwischen. Er wollte sie auf Bett legen, doch dann sah er, dass sie nicht etwa bewusstlos war sondern sich unruhig aus seinen Armen wand.
„Warum hast du das gemacht?"Sie stellte sich ein Stück entfernt von ihm hin und sah ihn an. Trotz der Dunkelheit schienen ihre Augen zu leuchten. „Was?" „Das weißt du doch genau."Auf sein angedeutetes Kopfschütteln hin fuhr sie fort: „Es ist gefährlich dort. Es hätte dich umbringen können. Du weißt es vielleicht nicht, denn du warst nur einmal kurz da. Aber es frisst dich von innen auf, es zerstört deine Seele und erfriert dein Herz. Bitte sag mir, dass du nie wieder dorthin gehst! Versprich es mir!" Unbewusst hatte ihre Stimme zum Ende hin immer mehr an Lautstärke zugenommen. Einige Tränen, die sie vorher nicht hatte weinen können, lösten sich jetzt und flossen bis zu ihrem Kinn hinunter, wo sie sich sammelten. „Bitte, versprich mir das", flüsterte sie gebrochen, rührte sich aber keinen Millimeter von dem Platz, an dem sie stand.
„Ich habe doch gar nichts gemacht", verteidigte er sich schwach, „ich kam in dieses Zimmer, und plötzlich war ich dort." „Und was ist dazwischen geschehen?", fragte sie misstrauisch nach, „ich kann nicht glauben, dass du einfach so dorthin gelangt bist. Warst du jemals zuvor dort?" „Nein, ich wusste nicht einmal, dass es diesen Ort gibt, und ich weiß noch immer nicht, was es wirklich war. Ich weiß nur, dass ich in dieses Zimmer kam und diese Kette berührt habe, weil sie von selbst geleuchtet hat. So etwas habe ich vorher noch nie gesehen!" „Was für eine Kette? Ich habe keinen Schmuck", sie schüttelte kurz den Kopf, „zumindest nicht hier." Legolas bückte sich und hob die Kette, die immer noch zu seinen Füßen auf dem Boden lag, auf. Jetzt sah sie so normal aus, und Rowenna betrachtete sie einen Moment lang zweifelnd, bevor sie danach griff. Sofort begann der Kristall wieder in einem kräftigen blau zu leuchten.
Sie stand einfach im Wald und lauschte. Wie lange hatte sie dieses Gefühl der Freiheit missen müssen? Es waren fast zwanzig Jahre gewesen, nicht viel im Gegensatz zu ihrem bisherigen Leben, und doch viel zu viel. Zwitschernd begrüßten die Vögel sie, als wäre sie nie fort gewesen, flogen um sie herum, und ein besonders vorwitziges Vögelchen ließ sich sogar auf ihrer Schulter nieder.
„Ja, meine Freunde, ich bin wieder da!", beschwichtigte sie die Tiere des Waldes. Erst jetzt wurde ihr in vollem Maße bewusst, wie sehr sie sich nach alldem gesehnt hatte in den Jahren, die sie in der Welt der Menschen zugebracht hatte. Doch jetzt war ihre Arbeit dort beendet und sie konnte getrost in ihre Welt zurückkehren, ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden. Jetzt war nur die Zukunft wichtig, denn ihre Mission war noch lange nicht erfüllt.
In der Ruhe, die sie nun umgab, ließ sie die vergangene Zeit noch einmal an sich vorüberziehen, und sie konnte sich an jeden Augenblick so gut erinnern, als wäre es erst weinige Tage vorüber
Es war erstaunlich einfach gewesen, einen Platz in dieser Welt zu finden. Alles wurde dort aufgezeichnet, dicke Akten wurden über jeden Bewohner geführt, doch bei dem kleinsten bisschen Magie versagte ihre lächerliche Bürokratie. Sie hatte sich als Kind getarnt, ein einfacher Zauber, der den schlechtesten Magier sofort aufgefallen wäre. Doch dort hatte sich niemand darum geschert. Die Magie war völlig aus dieser Welt verschwunden, dabei war sie früher einmal, in fast vergessenen Zeiten, Mittelerde ebenbürtig oder an Macht gar überlegen gewesen.
Doch vor neunzehn Jahren war dort ein Kind geboren worden, das alle Kräfte seiner Vorfahren in sich vereinigte. Es wuchs in einer normalen Familie auf – niemand ahnte damals von diesen Kräften. Doch ihr ganzes Leben lang hatte sie eine Beschützerin gehabt, die ihr immer zur Seite gestanden hatte, ohne zu fragen.
Seufzend strich Sílawen ihre hellen Haare zurück und lehnte sich an den Baum, der ihr am nächsten stand. Ja, sie hatte dieses Kind wirklich lieben gelernt. Doch es wuchs heran, und mehr und mehr entwickelten sich seine magischen Fähigkeiten. Es selbst ahnte nie etwas davon, bis zu diesem einen, entscheidenden Tag. Endlich hatte es seinen Weg durch die Welten gefunden, den Pfad seiner Bestimmung beschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es sich selbst beweisen musste in einer Schlacht, die zu schlagen nur es in Stande war.
Ok, sie hatte ihn hinaus geworfen, und ja, sie war vielleicht etwas grob gewesen, aber sie brauchte jetzt einfach Zeit zum Nachdenken. Kaum hatte sie den geheimnisvollen Stein berührt, hatte eine Welle der Macht sie ergriffen. Plötzlich konnte sie nicht mehr glauben, dass sie so nah daran gewesen war, aufzugeben. Sie hatte sich gefühlt, als könne nichts in der Welt ihr noch Schaden zufügen, als wäre sie stärker als jedes Heer und erfahrener als die Erde selbst.
Als das Gefühl wieder nachgelassen hatte, war sie beinahe enttäuscht, doch allein die Erinnerung daran bereitete ihr ein aufgeregtes Kitzeln am ganzen Körper. Es war so verwirrend gewesen, und sie wollte ihm noch nichts davon sagen. Sie vertraute ihm wirklich, aber sie kannten sich erst wenige Tage und sie wollte erst selbst versuchen herauszufinden, was mit ihr geschehen war.
Sie hatte keine Uhr, doch sie schätzte, dass es bestimmt schon weit nach Mitternacht war, und langsam machte sich ihre Müdigkeit bemerkbar. Der Wunsch zu schlafen kam ihr ganz recht, so würde sie nicht mehr so viel grübeln können und ihre Probleme wären am nächsten Tag auch noch da. Nach einem herzhaften Gähnen verschwand sie im Bad und wusch sich schnell ein bisschen. Als sie endlich unter der warmen Bettdecke lag, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis sie sich auf dem weiten Weg ins Land der Träume befand.
Sílawen wusste, sie hätte auch mit einem einfachen Zauber mühelos binnen weniger Sekunden am Ziel sein können, doch die Natur um sie herum war so herrlich, dass sie sie noch möglichst lange Zeit genießen wollte. Sie drückte ihrem schneeweißen Pferd leicht in die Seiten, sodass es seinen Schritt ein wenig beschleunigte.
Vielleicht hätte sie doch nicht den ganzen letzten Tag reitend zubringen sollen. Ihr Körper war solche Anstrengungen nicht mehr gewohnt, auch wenn sie versucht hatte, fit zu bleiben. Doch in der Welt der Menschen gab es zu viele Bequemlichkeiten, als dass sie ihre täglichen Trainingseinheiten lange durchgehalten hätte. Aber glücklicherweise hatte sie es nicht mehr weit, und jetzt freute sie sich schon auf ein warmes Bad, das ihren Körper entspannen und einem Muskelkater hoffentlich vorbeugen würde.
Nachdem sie ihr Nachtlager früh im Morgengrauen abgebrochen hatte, war der Himmel noch wolkenverhangen und düster gewesen. Doch mittlerweile hatte es sich aufgeklart und nun, am frühen Vormittag, schien die Sonne heiß auf sie herunter. Wieder umschwirrten sie die Vögel, und sogar die größeren Tiere begrüßten sie und den neuen Tag gleichermaßen. Hin und wieder begegnete ihr auch ein Elb, der sich eilig vor ihr verbeugte und sie willkommen hieß. Insgesamt hatte sie aber mit Absicht ruhigere Reisewege gewählt, um ungestört und zügig voranzukommen.
Dann endlich hatte sie in vor Augen: Den Palast Thranduils von Düsterwald. Die letzten paar Meter ließ sie ihr Pferd im Schritt zurücklegen, bevor sie im Hof aus dem Sattel stieg.
Egal, wie oft sich Rowenna früher auch eine Bedienstete gewünscht hatte, jetzt würde sie es am liebsten rückgängig machen. Nûemyn war wirklich lieb, und Rowenna hatte sie auch sehr gern, aber sie war zu unterwürfig, zu sehr darauf bedacht, alles richtig zu machen. So, wie jetzt auch wieder.
„Nein danke, Nûemyn, du brauchst mir wirklich nicht beim Anziehen zu helfen. Du hast mir schon Frühstück gebracht und das Bett gemacht. Beides hätte ich wirklich auch gut selbst machen können. Jetzt setzt du dich erst einmal hin und ruhst dich aus. Du kannst mir ja von deiner Arbeit hier erzählen. Oder von deinen Freunden, was du möchtest." „Ich soll Euch etwas erzählen? Aber mein Leben ist bestimmt sehr langweilig im Gegensatz zu Eurem. Ich..."
„So, jetzt ist Schluss damit!"
Nûemyn riss erschrocken die Augen auf und verstummte. „Ab jetzt sagst du nicht mehr ‚Ihr' und ‚Herrin' oder etwas in der Art zu mir. Sag einfach Rowenna. Und ich glaube nicht, dass deine Geschichten es nicht wert sind, angehört zu werden, sonst hätte ich dich nicht danach gefragt."Rowennas Stimme klang ärgerlicher, als es gemeint war, und das war ihr auch bewusst. „Ja...ja. Wenn Ihr das so... wenn du das so wünschst. Verzeihung, ich bin es einfach gelehrt worden, immer höflich zu hohen Herrschaften zu sein. Meine Mutter sagte immer, wenn ich es nicht bin, werde ich aus dem Palast geworfen und muss auf der Straße von anderer Leute Dreck leben." „Das ist doch Unsinn. Und außerdem bin ich keine hohe Herrschaft. Ich stamme aus ähnlichen Verhältnissen wie du, und dass ich hier im Palast wohne, verdanke ich nur einem Zufall. Also kannst du mich ohne Gewissensbisse als Freundin sehen. Erzählst du mir jetzt etwas?", fügte Rowenna betont fröhlich hinzu.
Tatsächlich schien Nûemyn langsam aufzutauen, denn sie erzählte frei von ihrer lieben Mutter, ihrem strengen Vater und ihren fünf Geschwistern. Schon bald lachten beide bei den Geschichten über ihren tollpatschigen kleinen Bruder.
Nach einer Weile klopfte es an der Tür. Es war Legolas, der nicht einmal darauf wartete, dass jemand ‚herein' rief, sondern einfach eintrat. „Oh... störe ich? Dann komme ich später..." Doch Rowenna unterbrach ihn: „Unsinn, komm ruhig rein! Und du bleibst sitzen!"Sie hielt Nûemyn fest, die aufstehen und sich vor dem Prinzen verbeugen wollte. „Oder bestehst du darauf, dass sie sich vor dir verbeugt?", wandte sie sich an Legolas. „Ich finde das nämlich ziemlich albern. Das ist übrigens Nûemyn", stellte sie ihre neue Freundin vor.
„Legolas wirst du wohl kennen. So, jetzt gebt ihr euch die Hand und verhaltet euch wie ganz normale Men... äh, Elben. Dann habt ihr auch gute Chancen, hier in meinen Zimmer bleiben zu dürfen." Nûemyn stand auf und blickte beschämt auf ihre Füße. Doch Legolas grinste nur und hielt ihr seine Hand hin, die sie zögernd ergriff und vorsichtig schüttelte. „Schön!", freute sich Rowenna und rutschte auf dem Bett, auf dem sie die ganze Zeit zu zweit gesessen hatten, ein Stück zur Seite, damit Legolas auch noch Platz hatte.
„Das darfst du jetzt aber nicht bei allen Bediensteten machen. Mir selbst macht es ja nichts aus, aber wenn mein Vater erfährt, dass du erzählst, die Königsfamilie wäre nichts Besonderes, dann kannst du dir bald eine andere Unterkunft suchen", meine er schmunzelnd und setzte sich neben sie. „Aber er erfährt es ja nicht."
Rowenna fühlte sich frisch und... einfach glücklich. Sie hatte dieses Gefühl ihrer Erinnerung nach nun schon so lange nicht mehr gehabt, dass sie es fast vergessen hatte. Woher das Gefühl kam, konnte sie sich nicht erklären, und es war ihr auch einigermaßen egal. Sie stand von Bett auf und streckte die Arme von sich. „Leute, heute will ich was unternehmen!"Sie begann sich ein wenig zu drehen. „Wie wäre es, wenn..."
Ein Klopfen ließ sie innehalten. „Ja?" Ein Mädchen kam herein. „Ist Prinz Legolas hier?" Als er sich erhob, fuhr sie fort: „Euer Vater lässt Euch rufen. Ein Gast ist eingetroffen, und ihr sollt ihn begrüßen. Es ist die Lady Sílawen." „Ich komme sofort. Rowenna, Nûemyn – wir sehen uns dann später!" Er schloss die Tür hinter sich und lief den Gang entlang zur Halle.
