Kapitel 7
Alles sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Natürlich, sie war ja auch nur zwanzig Jahre fort gewesen, ein Nichts in der Welt der Unsterblichen. Sie hatte sich zu sehr an den Zeitfluss der Menschen gewöhnt. Dort konnte in zwanzig Jahren schon alles verändert sein, ein Kind konnte in dieser Zeit geboren werden und aufwachsen.
König Thranduil empfing sie in der großen Halle. Er schickte auch sofort einige Bedienstete los, die ein Zimmer richteten und ihr Gepäck dorthin trugen. Mit ‚Gepäck' war in diesem Fall ihre alte Ledertasche gemeint, die sie auf jeder Reise begleitete. Einige mochten sich wundern, dass sie sogar auf ihren langen Reisen nicht mehr als diese Tasche benötigte, wussten sie doch nicht, dass auf ihr ein Zauber lag, durch den ein vielfaches des vermuteten Inhaltes hineinpasste.
Nach einigen Minuten traf auch Legolas in der Halle ein, und zusammen gingen sie zur Bibliothek, wo ein Mädchen gerade den Tee servierte.
Thranduil ergriff als erster das Wort: „Ich heiße Euch willkommen in Düsterwald, verehrte Lady Sílawen. So lange schon erreichte uns keine Nachricht von Euch, dass uns nun Eure Anwesenheit die doppelte Freude bereitet. Nun sagt, war es ein besonderes Anließen, das Euch herführte, oder trieb Euch die Muße zu uns?"
„In der Tat habe ich ein Anliegen."Obwohl Sílawen in der letzten Zeit kein Wort Sindarin gesprochen hatte, gingen ihr die Worte flüssig über die Lippen und so fuhr sie fort: Ich weiß jedoch nicht, ob dies der richtige Augenblick ist, darüber zu reden, doch vielleicht wird er niemals kommen. Es ist von äußerster Dringlichkeit. Wie ich hörte, ist Gandalf der Weiße zugegen?"Auf ein Nicken Thranduils bat sie: „Es wäre hilfreich, wenn er an dieser Unterredung teilnehmen könnte. Möglicherweise kann uns sein Wissen nützen."
Nachdenklich trank Thranduil noch einen Schluck Tee und stellte dann die Tasse auf den Tisch zurück. „Die Sache scheint ja wirklich dringend zu sein. Legolas, bist du bitte so lieb? Danke."
Legolas verließ den Raum fast lautlos, nur das Klicken des Türschlosses war in der eintretenden Stille zu hören.
Er fand Gandalf im Park in der Sonne sitzend. Der Zauberer hielt die Augen geschlossen und seine Gesichtszüge zeigten pure Zufriedenheit. Legolas tat es Leid, ihn stören zu müssen, doch als Gandalf verstanden hatte, worum es ging, stand er sofort auf und folgte dem Elben zur Bibliothek.
Thranduil und Sílawen hatten schweigend und Tee trinkend gewartet.
„Jetzt, da wir vollzählig sind, kann ich ja beginnen", sagte Sílawen und blickte zum Fenster.
„Als Sauron vor wenigen Jahren vernichtet wurde, dachte jedermann, die Welt sei vor der Dunkelheit gerettet worden. In mancherlei Hinsicht mag das stimmen, denn aus dieser Welt ist er verschwunden. Doch wie ihr wisst, gibt es noch andere Welten und Ebenen – solche, die ein normaler Elb oder Mensch ohne Kenntnisse in der Zauberei wohl niemals bereisen wird. Ich hatte einige Zeit lang Gelegenheit, in die Pläne und Gedanken des dunklen Herrschers einzusehen. Er hatte keinesfalls vor, mithilfe von Orks und anderen Ausgeburten der Hölle die Völker dieser Erde zu unterwerfen. All das war vielmehr ein Ablenkungsmanöver, damit niemand seine wahren Pläne erriet."
Alle Anwesenden hörten gebannt zu, ihre Gesichter verrieten Anspannung und Konzentration, jedoch nicht, was sie über das gehörte dachten.
„Vor fast zwanzig Jahren wurde in einer Welt, die schon lange ihre Magie verloren hat, ein Kind geboren, das das Erbe all seiner Vorfahren in sich vereinigt. Ich selbst habe von ihrer Geburt an bei ihrer Seite gewacht und alle Gefahr von ihr ferngehalten. Denn dieses Kind würde eines Tages stark genug sein, Sauron zum letzten Mal zu besiegen."
„Aber Sauron ist schon besiegt worden. Erklärt genauer was ihr damit meint, ihr hättet in seine Pläne Einsicht gehabt", verlangte Thranduil. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet.
„Aber gewiss doch, alles zu seiner Zeit. Saurons Körper wurde vernichtet, sein Land und seine irdische Macht. Sein Geist jedoch ist unversehrt geblieben. Er hat den toten Körper verlassen und ist in eine Welt aufgestiegen, in dem nichts Materielles existiert. Die einzige Welt, in der er weiterleben konnte. Es ist Minemair (dt.: Zwischen den Welten), die Zwischenwelt in den Nebeln. Durch sie reist man in andere Welten, auf diesen Wegen kann man sie nicht umgehen. Jetzt ist sie jedoch bedeckt von Schatten, sie ist nicht zu passieren. Die vielen Seelen, die nun darin verloren gehen, geben Sauron neue Kraft, die es ihm in naher Zukunft ermöglicht, zurückzukehren.
Das war in groben Zügen sein Plan: Er verschlingt die Seelen der Menschen, fängt sie ein in seinen kalten Armen, die er immer weiter ausbreiten wird. Bald schon wird er auf andere Welten übergreifen, um seine Herrschaft auszubreiten und über alles zu herrschen, was existiert."
Sie versummte und ließ ihre Worte wirken. Niemand sprach, kein Laut war zu hören. Schließlich war es Gandalf, der sich zuerst aus der Starre löste.
„Wie ist das möglich? Wir alle haben gesehen, wie seine Macht gebrochen wurde."
„Macht lässt sich vernichten und wieder aufbauen. Niemand kann die Macht eines anderen wirklich brechen, ohne dass sie nicht wieder neu errichtet werden könnte. Nicht einmal durch den Tod, denn die Seele bleibt auch dann lebendig, wenn sie den Körper verlässt. Saurons Streben nach Macht ist so immens, dass man seine Seele auf ewig verbannen müsste, um Sicherheit für alle Zeit zu erlangen."
„Und das soll die Aufgabe dieses Menschen sein?", tippte Legolas, wofür er ein zustimmendes Nicken Sílawens erhielt.
„Und wo..."Er verstummte, als ihm ein Gedanke kam.
„Es ist Rowenna, oder?"
Sílawen schien einen Moment nachzudenken und antwortete dann: „Ja, es ist Rowenna, von der ich spreche. In der Tat ist das Kraftfeld um sie herum so stark, dass ich sie sogar in diesem Augenblick spüren kann. Die Magie Mittelerdes richtet seine Augen auf sie. Ich weiß nicht, ob ich das gutheißen oder mich davor fürchten soll. Aber ich glaube, sie ist stark genug für diese Aufgabe."
„Sie ist noch so jung...", flüsterte Legolas ungläubig, „wäre sie eine Elbin, hätte sie gerade das Laufen gelernt."
„Du weißt doch, Menschen altern sehr schnell. Das ist auch noch eine Sache, über die ich mit ihr sprechen muss."
„Sie weiß doch, dass sie altern wird", mischte sich Gandalf ein, „immerhin ist sie in der Welt der Menschen aufgewachsen."
„Das ist komplizierter. Und es geht in diesem Fall nicht darum, dass sie altern wird, sondern wann sie altern wird."
Alle hatten ihre Aufmerksamkeit auf Sílawen gerichtet und hörten ihr gespannt zu.
„Wie dir auch bekannt sein wird, Gandalf..."Sie blickte den Zauberer kurz an und schaute dann wieder in die Runde. „...altert die Magie nicht. Sie wird älter, aber sie altert nicht. Das ist ein großer Unterschied. In Rowennas Blut fließt soviel Magie, dass sie..."
„...dass sie nie altert?", vervollständigte Legolas mir großen Augen den Satz.
„Ganz so ist es nicht. Jedes Lebewesen altert einmal, das ist das Gesetz der Natur, und das kann durch nichts gebrochen werden. Aber es kann über tausend Jahre dauern, bevor man sie auch nur eine Minute altern sieht. Ich habe nicht viel Ahnung von diesen Dingen, denn das ist noch nie vorgekommen. Doch nach allem, was ich weiß, ist das die Wahrheit."
„Entschuldigt, wenn ich unterbreche, aber ich bin ein alter Mann und ich würde mich jetzt gerne ein Weilchen zurückziehen. Vielleicht könnten wir dieses Gespräch später fortsetzen?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob Gandalf sich. Innerhalb weniger Minuten löste sich die Versammlung auf.
Nûemyn hatte zu Rowennas Verdruss nicht länger bleiben können, weil sonst zu viel ihrer Arbeit liegen geblieben wäre. Davon gab es zurzeit sowieso mehr als genug, da die vielen hohen Gäste ausreichend versorgt werden mussten und außerdem am Abend das große Fest stattfinden sollte.
Nun saß Rowenna allein auf dem großen Bett in ihrem Zimmer und schaute aus dem Fenster. Draußen war wunderbares Wetter, doch alleine reizte es sie überhaupt nicht, in den Park zu gehen.
Nach einigen Minuten entschloss sie sich trotzdem dazu, alles war besser als Langeweile. Zu ihrer eigenen Verwunderung fand sie den Weg ohne größere Probleme, sie landete nur in zwei Sackgassen und einmal stand sie ohne Vorwarnung in einem großen Saal. Dort fiel sie im Getümmel der Dienstboten gar nicht auf. Sie durchquerte ihn und gelangte durch eine der großen gläsernen Türen auf der anderen Seite in den Park.
Während sie zwischen den Bäumen und Blumen umherschlenderte, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Lange dauerte es jedoch nicht, bis sie wieder versuchte, sie von sich zu schieben. Denn jeder Gedanke lief entweder auf Sarah oder auf Legolas hinaus. Sie empfand tiefe Schuldgefühle, weil es ihr so gut ging. Natürlich hatte sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, ein bisschen Ruhe verdient, aber hätte sie nicht trauern müssen? Es war noch keinen ganzen Tag her, da hatte sie ihre Freundin sterben gesehen. Sie schob alles auf die andere Umgebung und darauf, dass ihr hier jeder Bestandteil ihres „alten Lebens"so unwirklich vorkam. Und so wenig sie es sich auch vorstellen mochte, Sarah gehörte unumstritten dazu.
Trotzdem, das war nicht richtig. Aber was bringt es, wenn ich jetzt daran denke? Ich kann sie nicht wieder lebendig machen. Ich hätte es vielleicht gekonnt, doch ich bin zu spät gekommen. Das einzige, was ich jetzt noch tun kann ist zu hoffen, dass es ihr dort gut geht, wo sie jetzt ist.
Doch die Sache ließ ihr einfach keine Ruhe, so sehr sie sie auch zu verdrängen versuchte. Warum hatte sie Legolas zurückholen können und Sarah nicht? Lag es wirklich daran, dass sie zu spät gekommen war? Aber war nicht Legolas schon einige Minuten tot gewesen, während Sarah erst wenige Sekunden nicht mehr geatmet hatte? Also warum?
„Weil nicht einmal du jemanden aus dem Totenreich holen kannst, der gar nicht tot ist."
Legolas stand hinter einem Strauch und blickte durch die Äste zu der nur wenige Meter entfernten Stelle. Er kam sich gemein vor, weil er sich hier versteckt hielt und lauschte, doch seine Füße waren einfach nicht dazu bereit, ihn an einen anderen Ort zu tragen.
Eigentlich hatte er nur kurz frische Luft schnappen wollen, und natürlich hatten die glitzernden warmen Sonnenstrahlen ihr übriges getan, ihn hinauszulocken.
Und nun stand er also hier und beobachtete die zwei Frauen.
„Weil nicht einmal du jemanden aus dem Totenreich holen kannst, der gar nicht tot ist."
Rowenna hatte keine Frage ausgesprochen, und doch erhielt sie jetzt ihre Antwort. Legolas konnte nur versuchen, sich vorzustellen, was diese scheinbar so schlichte Aussage zu bedeuten hatte.
Zunächst geschah gar nichts, keiner regte sich. Sogar die Tiere schienen diesen Augenblick nicht zerstören zu wollen, denn keines lief über den Weg oder sprang mit einem Schrei von Ast zu Ast. Rowenna drehte sich langsam um, als...
„Legolas!"
Karîmà lief freudig auf ihn zu. In einer Hand hielt sie einen wunderschönen Blumenstrauß, in der anderen eine alte Stoffpuppe.
„Guck mal!", forderte sie ihn auf, als sie vor ihm stand, und hielt ihm den Blumenstrauß vor die Brust. Eigentlich wollte sie ihn daran riechen lassen, doch dafür waren ihre Arme noch zu kurz.
„Ja... der ist ja wunderschön", sagte er ohne rechte Begeisterung und versuchte unauffällig durch die Büsche zu schielen.
Karîmà war seinen Blicken gefolgt und sah ihn nun gespielt entrüstet an. „Nana, das tut man aber nicht!", belehrte sie ihn mit strenger Stimme, „Man belauscht nicht einfach andere Leute!"
„Genauso, wie man keine Blumen aus dem Garten des Königs klaut", schoss Legolas zurück und gab sein Vorhaben nun endgültig auf.
Das kleine Mädchen suchte nach verteidigenden Worten. „Aber... die sind für den Ballsaal heute Abend, damit er auch richtig hübsch aussieht!", erklärte sie dann mit fester Stimme, als sei das das Natürlichste auf der Welt.
„Ach so, ja dann... Dann ist es ja gut, dass wir jemanden wie dich haben, der sich so um uns kümmert."
Sofort schlich sich wieder ein stolzes Grinsen auf Karîmàs Gesicht. „Stimmt!"
Sie stellte sich gerade vor ihm hin und salutierte, wobei die Puppe durch die Luft wirbelte.
„Tut mir Leid, mein Prinz, aber ich habe noch wichtige Aufgaben zu erledigen. Alles hört auf mein Kommando, du auch, Lotti", wies sie ihre Puppe zurecht, „wir sehen uns heute Abend auf dem Fest, Eure Hoheit!"
„Das hättest du wohl gerne!", rief Legolas ihr noch hinterher, als sie mit vorgestreckter Brust abmarschierte. Bald war sie aus seinem Blickfeld verschwunden, und wie er schnell feststellte, galt für Rowenna und Sílawen das gleiche.
Sie konnte es einfach nicht glauben. Das... Das war einfach unmöglich. Sarah war nicht tot. Das alles war nur ein Spiel. All die Jahre hatte sie ihr etwas vorgespielt. Rowennas Freude wandelte sich langsam in Wut. Sie warf ein Kissen durch das Zimmer, doch es reichte bei weitem nicht, um sich abzureagieren. Und ich habe ihr vertraut. Wahrscheinlich hat sie sich die ganze Zeit ins Fäustchen gelacht und sich prächtig amüsiert.
Ein weiteres Kissen landete auf dem Fußboden, auch diesmal ohne die gewünschte Linderung zu verschaffen. Sie brauchte schleunigst etwas, woran sie ihre Wut auslassen konnte, sonst würde sie verrückt werden. Etwas – oder jemanden.
Zielstrebig marschierte Rowenna aus ihrem Zimmer.
„Legolas!"
Endlich hatte sie ihn gefunden. Wer konnte auch schon ahnen, dass er faul draußen in der Sonne saß? Na gut, das Wetter ließ diese Vermutung zu, doch momentan war Rowenna einfach nicht zum Nachdenken aufgelegt.
„Ja?"
„Wir hatten doch mal übers Kämpfen gesprochen. Hiermit fordere ich dich heraus. Keine Waffen und keine Ausrüstung. Na, was sagst du?"
Der Angesprochene war so überrascht, dass er einen Moment brauchte, um zu reagieren.
„Du willst kämpfen? Bist du dir wirklich sicher, ich meine..."
„Los jetzt und keine Angst, ich breche dir schon nichts. Komm mit!"
„Das war auch nicht meine Sorge", sagte Legolas leise, als er ihr folgte, jedoch laut genug für ihre Ohren.
„Du glaubst also ernsthaft, du könntest mich verletzen? Na gut, dann zeig es mir. Ist dir übrigens bekannt, dass sich Männer immer zu hoch einschätzen? So, hier sind wir."
Sie hatten einen sandigen Platz am Rande des Parks erreicht, auf dem sonst Kutschen abgestellt wurden. Der Boden war fest und trocken, jedoch nicht sehr staubig. An einer Seite stand ein alter Schuppen, in dem wahrscheinlich Gartengeräte oder ähnliches aufbewahrt wurde. Rowenna hatte den Platz von ihrem Fenster aus gesehen und sofort für diesen Zweck auserkoren.
„Willst du es dir wirklich nicht noch einmal überlegen? Du..."
„Stell dich da hin. Das hätte ich von dir wirklich nicht gedacht, dass du sogar bei einer Frau kneifst. Aber was kann man von einem betüdelten, verweichlichten Prinzen schon erwartet. Kannst wahrscheinlich nicht mal Blut sehen, was? Na ja, Gimli wird sich dafür sicher brennend interessieren. Ich werde... huch!"
Ihre Taktik ging voll auf. Sie hatte Legolas sosehr gereizt, dass er mit einem schnellen Handgriff ihre Arme auf den Rücken gedreht hatte und sie dort festhielt.
„Ist dir eigentlich klar, mit wem du so redest? Ich bräuchte nur ein Wort zu sagen, um dich auf Nimmerwiedersehen im Kerker verschwinden zu lassen."
„Oh, jetzt müssen unsere Hoheit wieder mit seiner Vormachtstellung protzen. Mir schlottern schon die Knie. Nun, wer es nötig hat... Au! Verfluchter Bastard!"
Der Schmerz tat gut, um alle anderen Gedanken ganz weit weg zu befördern. Aber die Hilflosigkeit ihrer Lage stachelte Rowennas Wut nur noch mehr an.
„Lass mich los, verdammt!"
Sie holte aus und trat ziellos nach hinten. Anscheinend hatte sie sein Schienbein getroffen, denn er lockerte vor Überraschung und Schmerz kurz seinen Griff, sodass sie sich mit einer schnellen Bewegung herauswinden konnte.
„Hast du dir so gedacht", stieß sie aus und bereitete sich auf den Angriff vor. Ein Augenblinzeln später lag Legolas im Dreck und Rowenna saß rittlings auf ihm.
„Na, wer ist stärker?", kostete sie ihren Sieg aus.
„Das war gemein", maulte er.
„Na gut."
Rowenna erhob sich und streckte ihm die Hand hin, um ihn hochzuziehen. Das nächste, was sie spürte, war sehr hart und doch staubiger, als es ausgesehen hatte. „Hmpf!", war das einzige, was sie herausbrachte, denn sie lag mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Glücklicherweise konnte sie problemlos wieder aufstehen. Etwas, vermutlich Staub, war ihr in die Augen geraten und sie versuchte verzweifelt, es wegzublinzeln.
Mit dem anderen Auge sah sie Legolas, der sie wartend ansah. Jetzt ist er wieder lieb und freundlich und will mir bestimmt kein Härchen mehr krümmen. Verdammtes Staubkorn!
„Geht's wieder? Oder muss ich dich zurück zum Palast tragen, damit du dein Auge schonen kannst?"
Klasse. Genau das, womit ich gerechnet habe. Kann er nicht wenigstens wieder ein kleines bisschen sauer sein?
„Haha", erwiderte sie schnippisch, „übernimm dich bloß nicht, du musst dich doch erst wieder erholen nachdem du dich so verausgabt hast."
Doch er lachte nur und kam einem Schritt auf sie zu. „Hör auf, darin herum zu reiben, das macht es nur noch schlimmer. Dein Auge ist schon ganz rot."
„Danke, ich komme schon ganz gut zurecht. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss nachdenken", fügte sie gereizt hinzu und wandte sich ab.
„Warum bist du denn so gereizt? Ich hätte die Herausforderung niemals annehmen dürfen, wenn dich das alles so mitnimmt..."
„Nein, verflucht noch mal! Du verstehst überhaupt nichts und jetzt lass mich endlich in Ruhe mit deinem höflichen Grinsen. Ich kann das einfach nicht mehr sehen, alle lächeln und denken in Wirklichkeit ‚oh Gott, das arme Mädchen' und‚ wenn sie nicht bald Hilfe bekommt, dreht sie durch'. Danke, aber ich brauche das nicht. Du denkst, du verstehst mich? Tut mir Leid, aber das tust du nicht, auch wenn das nicht zu deinem übergroßen Ehrgefühl passt. Tut mir Leid, dass ich nicht herumlaufe und sage ‚oh mein Prinz, danke mein Prinz, guten Tag mein Prinz'! Aber ich komme verdammt noch mal nicht von hier und ich will hier auch nicht hingehören, also verschone mich um Himmels Willen vor deiner Fürsorge! Ich habe gerade erfahren, dass meine beste Freundin, der ich mein Leben lang vertraut habe, mir jemanden vorgespielt hat, den es gar nicht gibt. Weißt du, wie man sich da fühlt? Nein! Meine Eltern suchen mich und halten mich für tot, und ich muss mit dem Gefühl leben, sie vielleicht niemals wieder zu sehen. Hast du das schon einmal erlebt? Nein! Also sei still und versuch nicht so zu tun, als könntest du mir helfen, sondern geh in deine heiligen Gemächer und lass dich umsorgen und bedienen. Das kannst du doch!"
Rowenna merkte nicht, dass ihre Tränen mittlerweile schon von ihrem Kinn tropften, und sie merkte auch nicht, dass sie jedes einzelne Wort hinausgeschrieen hatte, als ginge es um ihr Leben. Vielleicht stimmte das sogar, denn all das lastete so schwer auf ihr, dass sie nicht wusste, wann es sie erdrücken würde.
Legolas hatte ihr nur sprachlos zugehört und wirkte auch jetzt noch wie versteinert.
„Jetzt fällt dir nichts ein, dabei bist du doch sonst so sprachgewandt. Und soll ich dir was sagen? Ich bin froh, dass dir nichts einfällt! Ich bin es leid, mir dein leeres Gewäsch anzuhören, eher sollen meine Ohren abfallen! Am besten, du vergisst mich gleich wieder, auf dass ich nicht dein ach so reines Gemüt belaste! Und damit sich wirklich keiner mehr für mich aufopfern muss, verschwinde ich gleich. Das kannst du auch Sarah... ach nein, sie heißt natürlich Lady Sílawen, wie konnte ich nur, berichten. Und sag ihr noch schöne Grüße, sie hat ihren Part wirklich wunderbar gespielt, ich bin tatsächlich darauf hereingefallen. Und danke für die Gastfreundschaft, ich bin wirklich gerührt, dass man sich so sehr um mich gekümmert hat. Auch wenn keiner gesehen hat, dass es nicht ein reichhaltiges Frühstück oder ein schönes Kleid waren, das ich brauchte. Und... sag Nûemyn, es tut mir leid, dass ich mich nicht von ihr verabschieden konnte."
Das waren ihre letzten Worte, bevor sie sich umdrehte und schnellen Schrittes in den Wald stapfte, der nur wenige Meter hinter ihr begann und schnell dichter wurde.
Sie drehte sich nicht noch einmal um.
Legolas versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Es war früher Nachmittag, dem Stand der Sonne nach zu urteilen, deren Strahlen durch die dichten Baumkronen schienen. Der Boden war sogar hier, wo es angenehm frisch war, ausgedörrt und trocken.
Rowenna hatte ihren Schritt nicht annähernd verlangsamt. Längst war sie von allen Wegen abgekommen und stolperte nun über Baumwurzeln und abgebrochene Äste. Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon so lief, als sie einen kleinen See erreichte. Das Wasser schimmerte grünlich wie der Wald selber, und nahe dem Rand schwammen blütenlose Pflanzen an der Oberfläche. Insgesamt bot der See zwar einen wunderschönen Anblick, lud aber nicht gerade zum Baden ein. In seiner Mitte erhob sich eine winzige Insel, gerade groß genug, dass drei Bäume und einige wenige Sträucher Platz darauf hatten. Nach schweren Regenfällen mochte das kleine Eiland wohl um einige Zentimeter überflutet werden, doch jetzt ragte es ein gutes Stück daraus hervor.
Kurz entschlossen und ohne sich auch nur noch einen Gedanken darum zu machen, watete Rowenna durch das Wasser zu der Insel. Erst reichte es ihr nur bis an die Knöchel, dann bis an die Knie und wurde dann schnell tiefer. Der schlammige Boden quellte unter ihren unsicheren Schritten auf und kleine Steine drangen in ihre Schuhe ein. Einmal wäre sie fast ausgerutscht, doch mit ihren Armen, die sie rudernd durch das Wasser bewegte, fing sie den Sturz ab. Auf dem halben Weg musste sie sogar anfangen zu schwimmen, als ihre Füße den Grund nicht mehr berührten. Schließlich war zwar ihr Kleid völlig durchnässt, doch sie wurde augenblicklich belohnt: Dies war das schönste Fleckchen Erde, dass sie sich je erinnerte gesehen zu haben. Ermattet setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an den mittleren der drei Bäume.
Wohin sie ihren Blick auch schweifen ließ, überall entdeckte sie nur grün – grüne Bäume, Sträucher, vereinzelte Grashalme und Mooskissen, und über allem hing ein strahlend blauer Himmel, der keine noch so kleine Verdunklung zeigte. Außer dem gelegentlichen Rufen eines Tieres war es hier wunderbar still, doch als sie genau hinhörte, bemerkte sie all die anderen Geräusche des Waldes: das leichte Rauschen des Windes in den Baumwipfeln etwa, oder ein leises Plätschern des Wassers, wenn eine die reife Frucht einer der umstehenden Bäume hineinfiel und die Oberfläche wellte.
Sie schloss die Augen und erinnerte sich an ihre Welt, an brummende Motoren, die graue Abgaswolken in die Luft stießen, an Großstadtlärm und die Vernichtung der lebensnotwenigen Regenwälder. Schon jetzt fühlte sie sich hier viel mehr zuhause, auch wenn alles noch sehr ungewohnt war. Aber auf eine unbestimmte Weise kam ihr alles vertraut vor, als hätte sie schon immer gewusst, dass sie hierher gehörte. Vielleicht gehöre ich wirklich hierher – aber was ist mit meiner Familie... und meinen Freunden. Selbst wenn ich wollte, ich könnte sie nicht hinter mir lassen wie ein abgetragenes Paar Schuhe. Auch wenn jetzt ein neuer Lebensabschnitt beginnt, sie sind doch immer noch ein Teil von mir. Was ist, wenn ich nie mehr zurückkann? Aber warum sollte ich es nicht können, schließlich habe ich den Weg schon einmal gefunden.
Rowenna versuchte sich zu erinnern. Ihre Gedanken suchten verzweifelt nach einem Hinweis, nach einer kleinen Lücke in der Atmosphäre. Schon bald spürte sie ihren Körper nicht mehr. Sie öffnete die Augen und sah – sich. Sie schwebte fast zwei Meter über ihrem schlafenden Körper in der Luft. Die Luft war warm, viel wärmer als noch wenige Augenblicke zuvor. Schwingungen waren jetzt so offensichtlich, die leuchtende Aura eines nüsseknabbernden Eichhörnchens, die Gedanken der Bäume, alles lebte.
Plötzlich kam ihr ihre vorherige Wahrnehmung stumpf und ignorant vor. Sie hatte das Rauschen des Waldes gehört, aber sie hatte nicht die verschiedenen Töne erkannt, die Leid und Freude ausdrücken konnten. Sie hatte die grünen Blätter gesehen, doch hatte sie jemals auf die unterschiedlichen Nuancen geachtet, die jede Einzelheit des Wachstums und der Umwelt beharrlich aufzeichneten? Nein, sie hatte alles genommen wie es war und sich nie auch nur ansatzweise darum geschert. Sie hatte nie auf den Ruf der Natur gehört, obwohl er doch so klar und freundlich zu ihr herüberwehte.
Manchmal muss man die Augen schließen, um zu sehen.
Der Rhythmus der Welt, so einfach und verwoben zugleich, so faszinierend und natürlich. Sacht schwebte Rowenna in die Höhe und über den Wald hinweg. Diesen Frieden hatte sie nie erlebt, und er füllte sie aus, wie kein anderes Gefühl es jemals könnte.
Es ist Zeit, zurückzukehren, riet ihr eine Stimme der Vernunft.
Nein!
Hast du je über die Folgen nachgedacht, die du bewirken könntest?
Wenn die Folgen ein ewiges Gefühl von Frieden ist, dann bin ich darauf vorbereitet.
Nein. Niemand ist auf ein ewiges Gefühl vorbereitet, sei es Frieden oder Trauer, Liebe oder Verlust. Kein Gefühl kann alleinig bestehen. Der tiefste Friede wird sich und die größten Unruhen verwandeln, und aus innigster Liebe wird bald tiefer Hass. Nichts ist ewig von Bestand, und das weißt du so genau, wie dass die Sonne jeden Abend untergeht. Niemand kann die Gesetze der Natur brechen.
Zuerst wollte sie ihre innere Stimme einfach ignorieren. Es kam ihr viel zu lange vor, seit sie das letzte Mal wirklich glücklich war, und nun wollte sie dieses Gefühl bis zum letzten auskosten. Doch sie wurde zurückgezogen, zurück zu ihrem Köper, in ihren Körper.
Nebel verschwemmten ihren Geist und ihr Bewusstsein, als sie wieder hinüber glitt in die Welt der Sterblichen.
„Und du hast sie einfach gehen lassen? Ist dir bewusst, was das bedeutet?"
„Ja, nämlich, dass sie nach alldem ein wenig Zeit für sich braucht. Wer kann es ihr verdenken?"
Die Luft zwischen Sílawen und Legolas war zum Schneiden dick. Seit fast einer halben Stunde führten sie nun schon diese Diskussion, und noch immer war keiner bereit, auch nur einen Millimeter nachzugeben.
„Vielleicht braucht sie Zeit, doch die hat sie jetzt nicht. Sie kennt sich hier nicht aus, es ist anzunehmen, dass sie allein den Weg zurück nicht findet. Wir werden einen Suchtrupp zusammenstellen müssen, der sie sicher herbringt. Wir dürfen uns jetzt keinen Fehler erlauben, dafür steht zuviel auf dem Spiel", setzte Sílawen unermüdlich neu an. Legolas wunderte sich, dass sie die Zeit fand, ihre Wut an ihm auszulassen, wenn doch alles sosehr eilte.
„Ihr wird nichts geschehen. Du weißt selbst am Besten, wie stark sie ist. Sobald ihr heute Abend der Magen knurrt, steht sie wieder auf der Türschwelle, du wirst schon sehen."Dass Rowenna Andeutungen gemacht hatte, sie wolle verschwinden, behielt er wohlweislich für sich. Er brauchte Ruhe, damit er versuchen konnte, sie zu erreichen. „Da vorne geht Gandalf. Lass deine Wut an ihm aus und verschone mich damit. Du entschuldigst mich", fügte er eisig hinzu und bewegte sich schnell über den geschwungenen Parkweg davon. Sein Ziel war eine kleine Holztür an der Seite des Palastes, der in den kleinen Nebenraum der Küche führte, in dem der Prinz so oft saß. Doch jetzt hatte er keine Zeit, sich auszuruhen. Stattdessen lief er ohne ein Wort zu verlieren in den Gang und über die geschwungenen Treppen in die Etage, in der sich die Gästezimmer befanden.
Vor Rowennas Tür verharrte er einen Augenblick. War das wirklich nötig? Vielleicht kam sie ja bald von allein wieder und seine Sorgen waren völlig unbegründet. Aber ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend sagte ihm, dass etwas nicht stimmte, und er besaß zuviel Erfahrung, um es einfach zu ignorieren.
Er atmete kurz ein und betrat dann das Zimmer. Er musste die Kette finden, die ihn schon einmal zu ihr geführt hatte. Wo kann sie sie nur hingelegt haben? Hoffentlich trägt sie sie nicht, auch wenn ich mir das nach dem, was geschehen ist, nicht vorstellen kann. Also muss sie hier doch irgendwo liegen...
Er fühlte sich nicht wohl dabei, Rowennas Sachen zu durchwühlen, trotz der Umstände. Doch weder auf dem Tisch noch in der Kommode konnte er die Kette entdecken. Als er die Suche nach einiger Zeit erschöpft aufgab fühlte er sich hilflos und ohnmächtig. Er verließ das Zimmer und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.
