Kapitel 8

Es war, als würde Rowenna aus einem tiefen Schlaf aufwachen, jedoch kam es ihr vor, als hätte dieser Tage oder gar Wochen gedauert. Alles, was vorher passiert war, verschwamm zu einer tiefgrauen Masse, wie bei einem Gemälde, dessen Farben durch den Regen verschmiert worden waren.

Sie hielt die Augen geschlossen und sonnte sich noch einen Augenblick in dem Gefühl von Freiheit. Als jedoch auch die letzten Reste endgültig abgeklungen waren, spürte sie wieder die Kälte, die ihr immer noch nasses Kleid verursachte. Sie fühlte sich unwohl und allein gelassen.

Ich bin doch selber schuld. Ich hätte ja im Palast bleiben können. Aber jetzt habe ich mich so entschieden, und das werde ich nicht rückgängig machen. So, wie es ist, ist es gut.

Trotzdem musste sie sich zusammenreißen, um nicht einfach sitzen zu bleiben. Mit einem Ruck stand sie auf und blickte um sich. Der Wind, den sie zuvor noch als angenehme Brise empfunden hatte, blies nun unangenehm kalt und zauberte eine Gänsehaut auf ihre ungeschützten Arme. Die Sonne am Horizont war ein gutes Stück weitergewandert, doch noch waren die Schatten der Bäume nicht übermäßig lang.

Sie spürte ein sachtes Pochen in der Mitte ihrer Brust. Es fühlte sich fast an wie ein Herz, das gegen ihres schlug, doch als sie nachsah, war da nur die Kette. In dem Anhänger pulsierte ein leuchtend blaues Licht, fast so wie ein eingeschlossenes Glühwürmchen, das von einer Seite zur anderen flog, auf der Suche nach dem Ausgang.

Rowenna wollte die Kette gerade wieder unter den Stoff ihres Kleides gleiten lassen, als ihr etwas einfiel. Sie hatte die Kette nicht umgelegt, im Gegenteil, sie hatte sie in einer Schublade der riesigen Kommode verschwinden lassen, in der Absicht, sie nie wieder herauszuholen.

Das Licht begann immer stärker zu flattern, wurde immer unruhiger.

Reflexartig schloss sich ihre Hand um den Anhänger.

Sie befand sich in dem großen Ballsaal des Palastes, in dem sie heute Morgen schon einmal irrtümlich gelandet war. Jetzt war er voll von edel gekleideten Leuten, die zur Musik einer Band tanzten oder sich am üppigen Buffet bedienten. In den riesigen Kronleuchtern brannten Kerzen oder Öllämpchen und eine ganze Horde Bediensteter bemühte sich, alle Wünsche auszuführen. Die Stimmung war gut – viele der Anwesenden amüsierten sich beim Austausch des neuesten Klatsch und Tratsch, andere diskutierten über ernsthafte Themen.

Doch mit einemmal verstummten alle Gespräche und auch die Musik brach ab. Der Schein der Lampen wirkte jetzt gespenstisch und unwirklich, denn niemand bewegte sich mehr. Dunkle Nebelschwaden waberten durch offene Fenster und Türen herein oder schienen sich mitten im Raum von selbst zu bilden. Sie hüllten jeden einzelnen der Anwesenden ein, bis kaum mehr die Farben der Kleider hindurchschimmerten.

Nun änderte sich das Bild: Die Augen aller begannen wild in ihren Höhlen zu rollen und sämtliche Muskeln zuckten unkontrolliert. Einige versuchten wie von Sinnen, sich aus dem Nebel zu winden, doch sogleich verdichtete dieser sich, bis nur noch die Konturen der Unglücklichen sichtbar waren.

Es war aussichtslos.

Nach und nach erschlafften die Körper, fielen, noch gekrümmt in den letzten Schmerzen, in sich zusammen und verschmolzen zu einer tristen Masse auf dem Fußboden. Über allem lag eine unheimliche Stille, in der die vielen stummen Schreie hoffnungslos versanken.

Erschrocken riss Rowenna die Augen auf. Sie stand noch immer auf der kleinen Insel inmitten des Sees, doch noch vor wenigen Sekunden hätte sie schwören können, dass das Gesehene real war. Der Anhänger in ihrer Hand hatte aufgehört zu pochen, und sie ließ ihn los. Ihr Herz schlug einige Takte schneller, und ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Hatte sie gerade in die Zukunft gesehen? Das war die einzige Erklärung, denn das große Fest fand an diesem Abend statt und zweifellos war es die Kulisse dieses grauenhaften Schauspiels.

Oder habe ich mir das alles nur eingebildet?

Doch ihr Gefühl und alles, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, sprachen dagegen. Wenn das wirklich die Zukunft war, dann war es vielleicht ihre Aufgabe, sie zu verändern. Falls das der Grund war, warum sie diese Vision empfangen hatte, dann musste sie sofort etwas unternehmen. Sie brauchte einen Plan.

Nervös trommelte Legolas mit den Fingern auf seinem Bein herum. Er hatte gehofft, ein Buch zu lesen würde ihm die nötige Abwechslung verschaffen, doch der Inhalt langweilte ihn. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Rowenna. Was, wenn ihr doch etwas passiert war? Der Nachmittag ging schon in den Abend über und die Sonne sank immer schneller hinter den fernen Bergen. Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Fest, also musste er sofort handeln. Doch nach ihr zu suchen wäre reine Zeitverschwendung. Sie konnte nahezu überall sein – es wäre wohl einfacher, die Nadel im Heuhaufen zu finden. Doch wie konnte er ihr sonst helfen? Wenn er doch nur Gewissheit hätte, dass es ihr gut ging, dann könnte er ohne Sorgen auf ihre Rückkehr warten.

Es klopfte, und sofort sprang die Tür auf. Die Ablenkung war Legolas gerade willkommen.

„Vater!"

Es gab nur einen Grund, warum der König selbst das Zimmer seines ältesten Sohnes aufsuchte, anstatt ihn rufen zu lassen.

„Ich werde nicht heiraten!", beugte Legolas deshalb vor.

„Mein Sohn, ich habe noch keinen Ton gesagt, und du wehrst dich schon dagegen!"Seufzend ging Thranduil zu einem der goldenen Stühle und ließ sich darauf nieder.

„Weil ich genau weiß, was du vorhast!", konterte der Jüngere.

„Ich weiß wirklich nicht, warum du so negativ gegenüber dem Heiraten denkst. Weißt du, wie viel Kummer du mir damit machst? Wie soll ich mich denn zur Ruhe setzen, wenn mein Thronfolger keine Frau findet? Und ein König ohne Königin, das ist undenkbar. Heute Abend werden eine Menge hübscher junger Elbinnen bei uns zu gast sein, und ich will, dass du dich einmal umschaust. Das ist bestimmt nicht zuviel verlangt, und vielleicht erfüllt sich mein Traum von Enkelkindern doch in nicht allzu ferner Zukunft... Weißt du, in deinem Alter waren deine Mutter und ich schon gut fünfhundert Jahre lang verheiratet."

„Ja ja, Vater, ich weiß. Das erzählst du mir jedes Mal, wenn du dir wieder etwas Neues ausgedacht hast. Gut, ich werde mich umsehen, aber auf deine Enkelkinder wirst du wohl noch eine Weile warten müssen, zumindest auf die meinerseits."

Sie plauderten noch eine Weile, bis Legolas schließlich wieder allein in seinem Zimmer saß und aus dem Fenster starrte. Es war mittlerweile zu dunkel geworden, um noch zu lesen, und er war nicht im Mindesten böse darum. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie das Buch hieß oder wovon es handelte, so wenig hatte er sich darauf konzentrieren können. Es war nur noch gut eine Stunde bis zum Fest, und er hatte noch nicht einmal daran gedacht, sich ein passendes Gewand dafür herauszusuchen. Er rief einen Bediensteten herbei, der ihm ein Bad richtete und sich dann diskret zurückzog. Als er in die Wanne stieg, war das Wasser schon wieder leicht abgekühlt, aber immer noch warm genug zum Baden. Er tauchte kurz unter und schloss dann die Augen. Doch alle Versuche, sich zu entspannen schlugen fehl und schließlich kletterte er leise seufzend wieder aus der Wanne.

Vielleicht hätte ich sie doch suchen gehen sollen.

Er nahm das oberste der bereitgelegten Handtücher und trocknete sich ab.

Ich hätte sie doch eh nicht gefunden.

Er schlüpfte in seine Sachen und machte sich bereit für das Fest.

Ängstlich blickte Rowenna sich um. Ihr war noch immer nicht ganz wohl bei der Sache, doch Zeit für einen neuen Plan hatte sie nicht. Sie schlich so leise es ihr möglich war durch die Gänge und hoffte, niemandem zu begegnen. Sie wusste selber nicht mehr wie sie es geschafft hatte, unbemerkt in den Palast zu gelangen, immerhin waren an sämtlichen Eingängen Wachen postiert. Wahrscheinlich war sie im allgemeinen Trubel einfach untergegangen, oder die Wachen waren nur dazu da, um die Gäste zu beeindrucken.

Die ja auch schon bald kommen, erinnerte sie sich und ging einen Schritt schneller, ich habe wirklich keine Zeit mehr. Hoffentlich geht alles gut.

Sie erreichte ihre Zimmertür und schlüpfte hindurch.

Im Zimmer war alles ruhig – zum Glück, denn es hätte auch sein können, dass Nûemyn oder eine ihrer Kolleginnen gerade sauber machte. Aber die müssen jetzt wohl alle bei den letzten Vorbereitungen helfen und das Buffet aufbauen. Wenn das, was ich gesehen habe, stimmt, dann müssen es hunderte Helfer sein, anders lassen sich diese Mengen gar nicht auftragen.

Rowenna ging sofort zum Schrank und öffnete beide Türen.

Er war noch genauso, wie sie ihn am Morgen verlassen hatte: voller Kleider, die in ihren Augen recht prunkvoll wirkten, aber im Vergleich zur hier üblichen Mode mehr für den Alltag gedacht waren. Nur eines stach daraus hervor: Es war dunkelrot und in verschiedenen Schichten gearbeitet, doch wenn man es bewegte, so schimmerte es bald violett, bald in einem zarten rosé.

Rowenna nahm es heraus und zog es rasch an. Sie drehte sich vor dem Spiegel, doch so recht wollte ihr der Anblick noch nicht gefallen. Das Kleid war herrlich – es war die Art, von denen kleine Mädchen träumen, wenn sie sich wünschen, eine Prinzessin zu sein. Die Schultern blieben frei, die mehrschichtigen Träger legten sich sanft um die Oberarme und verliehen allem so eine elegante, glamouröse Note.

Aber was soll ich bloß mit meinen Haaren machen? Ich kann sie unmöglich so offen lassen.

In dem Moment kam Nûemyn herein und blieb wie angewurzelt stehen. Rowenna stürzte sich sofort auf sie. „Dich schickt der Himmel! Du darfst niemandem auch nur ein Wort sagen, hörst du? Es ist wirklich wichtig."

Die verdutzte Nûemyn sah nicht so aus, als hätte sie viel verstanden, doch dann nickte sie zögernd. „Soll ich dir die Haare machen?", fragt sie dann. Das ‚du' kam noch einigermaßen zögerlich, doch sie gewöhnte sich allmählich daran.

„Ja! Du bist meine Rettung!"

Wie leicht hätte jetzt alles scheitern können, an so einer Kleinigkeit! Ich hätte wirklich vorher ein bisschen besser nachdenken sollen, was wäre gewesen, wenn Nûemyn jetzt nicht aufgetaucht wäre?

Nach einer Viertelstunde bewunderte Rowenna verzückt das Ergebnis im Spiegel. Die Bedienstete hatte ihre Haare mit einer Unmenge kleiner Klämmerchen hochgesteckt und so raffiniert frisiert, dass man es mit einer Dose Haarspray und anderen Hilfsmittel nicht besser hätte hinbekommen können. Alles blieb genau da, wo es bleiben sollte, sogar, wenn sie den Kopf ruckartig bewegte.

„Danke, danke, danke!", rief sie glücklich und drückte Nûemyn einen dicken Kuss auf die Wange. Dann wurde sie etwas kleinlauter. „Meinst du, sie werden mich erkennen und hinauswerfen?", fragte sie ängstlich.

„Nicht, wenn du dich unter die Leute mischt. Fast der ganze Palast redet über dich, aber kaum einer weiß, wie du aussiehst, und die meisten der Gäste kommen von außerhalb. Du darfst nur nicht jemandem in die Arme laufen, der dich kennt", lautete die Antwort nach einer kleinen Weile Bedenkzeit, „aber das wird schon nicht passieren, wenn du ein wenig aufpasst."

„Das war eine ganz dumme Idee! Vielleicht sollte ich das Kleid wieder ausziehen und mich als Bedienstete tarnen, das ist weit unauffälliger."

„Ach nein, jetzt bist du so weit gekommen. Du schaffst das schon, ich weiß es."

„Aber was ist, wenn mich jemand erkennt?"

„Dich wird niemand erkennen."

Seit sie das Zimmer verlassen und sich auf den Weg zum Ballsaal gemacht hatten, wurde Rowenna immer mulmiger zumute. Nûemyn versuchte sie nach Kräften aufzumuntern, während sie ihr den Weg wies. Schon von weitem hörten sie die laute Musik und die Stimmen der Gäste.

Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das, versuchte sie sich in Gedanken selbst Mut zuzusprechen. Sie überlegte noch, ob sie nicht doch umkehren sollte und sich etwas anderes ausdenken sollte, als sie schon mitten im Geschehen war. Durch eine Tür hatte sie den Saal schon betraten, ohne es zu bemerken.

Der Saal war riesig, noch viel größer, als sie es sich ausgedacht hatte, und doch war er so voll, dass die tanzenden Paare nicht allzu viel Spielraum hatten und sich nur langsam durch den Raum bewegen konnten. Er war mehrere Stockwerke hoch und bestand zum Teil aus zwei Etagen, die durch eine breite, goldverzierte Treppe verbunden waren.

Rowenna stand auf dem oberen Teil und hatte so einen guten Überblick über das Geschehen.

Sie beschloss, erst einmal hier stehen zu bleiben und abzuwarten, was passierte. An dieser Stelle endete ihr Plan schon, von nun an musste alles improvisiert werden.

Gelangweilt nippte Legolas an seinem Glas und versuchte, so interessiert wie möglich auszusehen. Er wusste nicht, wer sein Gegenüber war, er hatte seinen Namen wieder vergessen. Alles, was er wusste war, dass es sich um einen Grafen oder etwas Ähnliches handelte.

„Aha", warf er ein, obwohl er gar nicht zugehört hatte, „das war sicher sehr spannend."

So hatte er schon einige Gespräche gemeistert: Hin und wieder ein kleines ‚ja', ‚nein' oder ‚danke' wirkte Wunder, und bis jetzt hatte ihn noch niemand durchschaut.

Zum Glück erzählen die Leute lieber, als dass sie zuhören. Ich wüsste nicht, was ich ihnen erzählen sollte.

Also ließ er alles Gesagte weiter an sich vorbeirauschen und trank gelegentlich einen Schluck. Als sein Glas geleert war, sagte er wieder seinen Spruch auf, den er an diesem Abend auch schon mehrere Male gebracht hatte: „Oh, mein Glas ist schon leer. Ich werde mir wohl ein neues holen gehen. War wirklich nett, mit Euch geplaudert zu haben."

Er ignorierte, dass direkt neben im ein Bediensteter gefüllte Weingläser verteilte und wandte sich zum Buffet. Das war sein Schema: Ein Glas trinken, sich währenddessen mit einem Gast „unterhalten", ein neues Glas holen, einem neuen Gast zuhören, Glas leeren...

Je mehr der Abend fortschritt, desto unsicherer wurde sein Gang, und desto schneller ließ er sich neu einschenken. So verging die Zeit, die Sonne verschwand endgültig, Mond und Sterne erschienen am Himmel und die Unterhaltungen wurden immer ausgelassener.

Ich hasse Feste.

Das war nicht wahr, er liebte Feste. Aber heute hatte er ein mulmiges Gefühl.

Entweder, ich sollte schleunigst mit dem Trinken aufhören oder gerade weitermachen. Es ist sehr unpassend, gerade noch so weit bei Sinnen zu sein, dass man weiß, wie betrunken man ist.

Er entschied sich für letzteres und trank mit einem großen Schluck das nächste Glas aus. In dem Moment, als er nach einem weiteren greifen wollte, hielt jemand seinen Arm fest.

„Was ist nur mit dir los? Ich beobachte das jetzt schon den ganzen Abend."

Es war Thranduil, der Legolas noch immer den Weg zum Wein versperrte. Mürrisch wollte der ihn beiseite schieben. „Lass' mich los, Vadda. Ich weiß gar nich', was de meins'."

„Jetzt ist Schluss damit! Ich will, dass du sofort den Saal verlässt und versuchst, einen klaren Kopf zu bekommen. Wenn du dich dann noch fähig fühlst, kannst du wiederkommen, wenn nicht, dann schlaf deinen Rausch aus. Das kann man ja nicht mit ansehen."

„Aba ich hab doch gar nich' viel g'trunk'n. Glaubscht du, ich b'sauf mich vor meine eig'ne Vadda?"

Entnervt winkte Thranduil einen Bediensteten herbei, der daraufhin das Tablett, das er gerade trug, wegstellen und den Prinzen an die frische Luft schaffen musste. Zuerst versuchte er verzweifelt, höflich zu bleiben, doch hinterher schleifte er den maulenden Legolas mit aller Gewalt hinter sich her. Im Garten angekommen dirigierte er ihn direkt vor den künstlerischen Springbrunnen und gab ihm einen kleinen Stoß. Die Flüche, die daraufhin ertönten, störten ihn nicht sonderlich. Hinter den beiden Männern ertönte ein helles Lachen.

Rowenna stand gelangweilt an der Balustrade des oberen Teils und ließ sich ein Glas in die Hand drücken. Erst nach einem mehr als deutlichen Räuspern sah sie hoch und erblickte Nûemyn, die mit einem Tablett voller Gläser neben ihr stand.

„Was machst du denn hier?", fragte sie erstaunt.

„Na was wohl? Ich hab mich rein geschlichen, um mal ein Auge auf dich zu werfen. Das ist ja alles so aufregend!"

„Äh... Nûemyn?"
"Ja?"

„Du siehst in diesem Kleid etwas seltsam aus."

„Ich weiß. Es ist von meiner Mutter. Ich konnte ja nicht in meinem alten abgetragenen Kleid hier erscheinen, dann wäre ich wirklich aufgefallen. Ist schon etwas passiert?", erkundigte sie sich dann und senkte vorsichtshalber die Stimme. Rowenna hatte ihr von ihrer Vision erzählt, kurz bevor sie ihr Zimmer verlassen hatten.

„Nein, nichts. Ich stehe hier einfach nur... und komme mir total fehl am Platze vor."

„Dann tanz doch ein bisschen. Du findest sicher schnell einen Partner. Ich muss jetzt wieder los, sonst bekomme ich ein Donnerwetter zu hören, dass sich gewaschen hat. Viel Spaß noch, ich drück dir die Daumen!"

Damit verschwand sie in der Menge und bahnte sich ihren Weg zur Tür.

„Würdet Ihr mir diesen Tanz schenken?"

Verwirrt blickte Rowenna auf und sah einen jungen Elben, der sie fragend ansah.

Oje, der meinst wirklich mich! Aber ich kann diese Tänze doch gar nicht, was soll ich nur machen?

„Sehr gern", hörte sie sich selbst sagen und verfluchte sich anschließend dafür.

Was, wenn ich ihm auf den Fuß trete? Das ist ja so peinlich! Damit falle ich bestimmt auf.

Zu ihrem Glück wurde gerade ein langsamer Tanz gespielt, so dass sie ganz gut zurechtkam.

„Mein Name ist Elladan, darf ich auch den Euren erfahren? Ich habe Euch noch nie zuvor gesehen, und dabei kenne ich fast alle hübschen jungen Elbinnen in ganz Mittelerde."

„Dann habt ihr nicht richtig aufgepasst, sonst hättet Ihr schon längst gemerkt, dass ich keine Elbin bin."

„Was wollt Ihr damit sagen, Ihr seid keine Elbin? Ich sehe doch ganz deutlich Eure spitzen Ohren."

Unwillkürlich fuhr Rowennas Hand zu ihren Ohren und tasteten deren Muschel ab. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, doch was sie fühlte, war ganz normal. Nicht die geringste Spitze, nur die ganz normale Form.

„Ihr scherzt", meinte sie leise und spürte, wie ihr sie Röte ins Gesicht schoss. Wie hatte sie nur auf so einen blöden Trick hereinfallen können? Sie schaute auf ihre Schuhe und versuchte krampfhaft, nicht aus dem Takt zu kommen.

„Was soll das heißen, ich scherze?", fragte Elladan ehrlich verwirrt, „oder habt Ihr vielleicht schon zu tief ins Glas geschaut um zu wissen, welcher Gattung Ihr angehört?"

Was soll das denn jetzt? Was er sagt, hört sich so ehrlich an, und nach allem, was ich hier schon erlebt habe... Aber das ist wirklich ein blöder Trick. Es ist ja schon peinlich, dass ich mir darüber überhaupt Gedanken mache.

Trotzdem, es ließ sie nicht los.

„Entschuldigt mich", sagte sie, seine Bemerkung ignorierend. Sie wandte sich ab und verließ den Saal durch die gleiche Tür, durch die sie ihn auch betreten hatte, auch wenn dies einen Umweg darstellte. Andernfalls war die Möglichkeit zu groß, dass sie sich verlief, und das war nun wirklich das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Nachdem sie die unmittelbare Nähe des Saales verlassen hatte, schlüpfte sie aus ihren Schuhen und rannte zu ihrem Zimmer. Sicherlich gab es auch im Ballsaal große Spiegel an den Wänden, aber sie wollte vorsichtshalber lieber allein sein.

Es ist bestimmt alles normal. Du hast nur ein bisschen zu viel getrunken und nimmst Dinge ernst, die du sonst niemals in Betracht ziehen würdest, redete sie sich selbst zu, du schaust jetzt in den Spiegel da und gehst dann zurück nach unten. Du bist schließlich nicht zum Spaß hier.

Als sie den Blick endlich hob, war sie überrascht. Überrascht, aber nicht wirklich erschrocken, als sie die spitzen Ohren sah, die deutlich sichtbar waren, da ihre Haare hochgesteckt waren und sich nur langsam wenige Strähnen lösten. Haarspray wäre wohl doch besser gewesen, aber jetzt ist es nicht mehr zu ändern.

Erneut fuhr sie mir einem Finger über sie Spitze und auch jetzt fühlte sie nichts Ungewöhnliches. Die Hand ihres Spiegelbildes glitt einfach durch die Spitze hindurch, als wäre sie gar nicht da, und beschrieb eine Wölbung.

Vielleicht ist sie wirklich nicht da. Nur eine... eine optische Täuschung oder etwas in der Art.

Jetzt ist wohl nicht die richtige Zeit, darüber nachzudenken, ich sollte lieber schnell wieder gehen. Wer weiß, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist.

Natürlich kam es, wie es kommen musste: Rowenna verlief sich hoffnungslos in den Gängen. Sie hatte zwar die ungefähre Richtung im Kopf, doch die vielen Abzweigungen und Treppen verwirrten sie. Endlich erreichte sie eine Stelle, an die sie sich erinnern konnte: Den Gang zur Küche. Warum kann ich mich eigentlich immer nur an die Küchen erinnern? Sollte mir das jetzt zu denken geben?

Sie kämpfte sich durch die Küche, in der immer noch Hochbetrieb herrschte. Niemand achtete auf sie, als sie durch die kleine Tür, die ihr schon vorher aufgefallen war, ins Freie trat. Wenn sie jetzt am Palast entlang lief, musste sie irgendwann am Ballsaal ankommen.

Endlich sah sie die Lichter, die noch einen kleinen Teil des Parks erleuchteten. Sie beschleunigte ihren Schritt noch ein wenig, doch durch die dünnen Schuhe, die mehr an Pantoffeln erinnerten, spürte sie jeden Stein.

„Hmpf!"

Sie kam näher und erkannte einen Springbrunnen, vor dem sich zwei Personen aufhielten. Gerade tunkte einer den Kopf des anderen in den Brunnen, der daraufhin unartikulierte Geräusche von sich gab. ‚Hmpf' und ‚blubb' waren noch die verständlichsten.

Rowenna musste lachen und blieb stehen, um den Schauspiel noch einen Augenblick zuzusehen.

„Du bis' g'feuert, un swar sofford!"

Sie erkannte Legolas, dessen Haare nass an seinem Kopf klebten und über die Wasser auf seine Kleidung rann.

„Tunk ihn noch mal rein!", entfuhr es ihr, als sie sah, wie der andere Mann zögerte, „Keine Angst, du behältst deine Arbeit."

Zufrieden sah sie den Kopf des Prinzen erneut im Brunnen verschwinden und eilte dann in den Saal.

Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Warum muss ich mich nur immer ständig von allem ablenken lassen?

Sie setzte den ersten Fuß auf die unterste Treppenstufe zum Saal, als drinnen die Musik abbrach. Voller Panik rannte sie den restlichen Weg und stürzte hinein, doch das Bild des Schreckens blieb aus. Stattdessen wandten alle Anwesenden ihre Blicke einem kleinen Podest zu, das in der Mitte des Raumes aufgebaut worden war. Einige drehten sich zu ihr um, als sie heftig atmend stehen blieb. Sie warfen ihr einige empörte Blicke zu und kümmerten sich dann nicht mehr um sie.

„Meine Damen und Herren, wir haben uns heute hier versammelt, um uns an einen Sieg zu erinnern, wie ihn Mittelerde zuvor noch nicht gesehen hat."

Die Menge klatschte und rief unverständliche Dinge.

„Aber wir wollen auch den Opfern gedenken, die dieser Krieg gefordert hat."

Sofort waren alle still. Rowenna wartete darauf, dass die Rede fortgesetzt wurde und versuchte, möglichst unauffällig die Knitterfalten ihres Kleides zu glätten.

Es ist ja schön, dass er nicht plappert wie ein Wasserfall, aber diese Pause dauert jetzt doch ein wenig zu lang...

Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören, ohne dass man seine Ohren anzustrengen brauchte.

Oh mein Gott...

Es war das eingetroffen, wovor sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Alle Gesichter zeigten starr nach vorne, die Augen wirkten leer und müde. Ich muss etwas tun, ich muss sofort etwas tun.

Die ganze Zeit lang hatte sie gehofft, sie wüsste im Notfall, was zu tun sei, doch jetzt war ihr Kopf vor Panik wie leergefegt.

Beeil dich, los jetzt! Es kann nicht mehr lange dauern, und...

Das erste Augenpaar begann in seinen Höhlen zu rollen.

Oh mein Gott, oh mein Gott! HILFE!

Doch niemand kam, natürlich nicht. Die grauen Nebelschwaden färbten sich schwarz und streckten ihre Fühler jetzt auch nach Rowenna aus. Sie bemerkte, dass sie ihnen gegenüber vielleicht nicht so empfindlich war wie die anderen, aber trotzdem nicht immun. Es kam ihr vor, als kühle ihr Körper aus und ihre schützende Hülle begann zu zerfallen.

So kalt...

Nun hielt sich der Nebel nicht mehr bei ihrem Körper auf, sondern waberte durch ihre Gedanken, nahm ihr nicht nur die Sicht ihrer Augen. Ihre Gefühle stumpften immer weiter ab und die Welt versank in grau und schwarz...

Es ist so kalt.

Rowenna schwebte. Ihre Augen starrten wie von selbst geradeaus und sahen nur schwarz. Überall war das gleiche, und doch veränderte es sich, setzte sich immer wieder neu zusammen zu grauenhaften Schatten.

Es kam ihr alles so bekannt vor, so als wäre sie schon einmal hier gewesen.

Aber ich war doch schon hier, und das nicht nur einmal. Ich erinnere mich noch genau daran, doch damals war es hier hell... und warm.

Ihre letzte Erinnerung an das Licht schien Ewigkeiten her, doch mit ein wenig Anstrengung konnte sie den Gedanken daran wieder hervorrufen.

Licht. Es soll hier nicht so dunkel sein, dieser Ort ist nicht dazu bestimmt.

Aus dem Nichts bildete sich plötzlich ein Schimmer um ihre Hand, als würde sie eine Kerze halten. Es war ein sanftes Licht, das unbeständig flackerte, doch es wuchs und verdrängte die Dunkelheit um es herum. Rowenna hielt es hoch und schwenkte es herum, damit es sich gut verbreiten konnte. Dort, von wo die Schatten schon gewichen waren, erkannte sie Gestalten, die ziellos umher trieben. Sie hielt ihnen ihr Licht entgegen, sie nahmen es und reichten es weiter, bis nach kurzer Zeit alles leuchtete.

So muss es sein. Keine Dunkelheit, keine Schatten. Dies ist ein Ort des Lichts.

Nach und nach verschwanden die Gestalten der gepeinigten Seelen und Rowenna wusste, sie hatte es geschafft. Sie hatte ihnen den Weg zurück in ihre Welt gezeigt, dorthin, wohin sie gehörten.

Ich sollte glücklich sein. Ich habe gerade hunderte von Seelen gerettet und sie in ihre Welt geschickt. Meine Arbeit ist getan, also warum kann ich nicht froh sein und mich davon erholen?

Jetzt war sie die einzige, die noch da war, doch sie dachte nicht daran, schon zu gehen.

Sie wusste nicht, wohin.

Jeder hatte eine Bestimmung, einen Platz im Leben. Doch wo war ihrer? In der Welt, in der sie ihr Leben lang getäuscht worden war, oder in der anderen, die sich ihr so geheimnisvoll und voller Magie geöffnet hatte?

Ich werde einfach hier bleiben. Niemand wird mich vermissen, wenn ich nicht zurückkomme.

Niemand kann hier lange bleiben. Dies ist kein Ort zum Verweilen.

Da war wieder diese Stimme in ihr, die scheinbar alles wusste, als hätte sie es schon einmal erlebt. Sie hinterließ wie jedes Mal die Gewissheit, dass es richtig war, was sie gesagt hatte.

Rowenna konnte sie nicht ignorieren, und so wandte sie ihre Gedanken wieder dem Ort zu, von dem aus sie hierher gekommen war.

„... auf! Bitte, wach doch endlich auf!"

Wie aus einem besonders tiefen Schlaf kam Rowenna langsam wieder zu Bewusstsein. Sie lag auf hartem Seinboden, während Nûemyn neben ihr kniete und ihr immer wieder vorsichtig wie Wange tätschelte.

„Ist ja gut, ich bin ja da", versetzte sie unwirsch, weil sie sich lieber noch einen Moment ausgeruht hätte. „Wo sind wir hier überhaupt?"

„In deinem Zimmer, wie du siehst, wenn du endlich die Augen öffnest."

„Ach ja, und warum liege ich dann auf dem Boden?"

„Weil... na ja, sie selbst."

Rowenna erhob sich widerwillig und sah Legolas, der sich auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Seine Haare waren noch immer tropfnass, soweit das Wasser noch nicht in den Laken versickert war, und sein Mund stand halb offen.

„Wir haben dich zusammen hoch getragen, aber dabei hat sich unser Prinz wohl etwas überanstrengt. Wir waren kaum im Zimmer, da hat er dich fallen lassen und ist in dein Bett gehüpft. Ich konnte ihn keinen Zentimeter von der Stelle bewegen als ich versucht habe, ihm eine Decke für dich zu entreißen."

„Oh... Na ja, lassen wir ihn halt einfach liegen. Wurde das Fest abgebrochen?"

„Oh nein, alles ist ganz normal. Wieso sollte es abgebrochen worden sein?"

„Aber..."

„Das einzig ungewöhnliche, das passiert ist, ist, dass du plötzlich zusammengebrochen bist. Vielleicht war deine Vision etwas... nun ja..."

„Nûemyn?"

„Ja?"

„Ich bin nicht verrückt. Vielleicht hast du nichts gesehen, vielleicht hat niemand etwas gesehen, aber es ist passiert."Sie hob hilflos die Hände und ließ sie wieder fallen.

„Ich werde jetzt jedenfalls noch einmal hinunter gehen. In mein Bett kann ich ohnehin nicht, und ich glaube, ein paar Gläschen Wein würden mir jetzt recht gut tun."

Sie verließ das Zimmer und fand zum ersten Mal seit sie sich erinnern konnte auf Anhieb den richtigen Weg.