Kapitel 12
Es klopfte. Unwillkürlich zuckte Rowenna zusammen.
„Da war es wieder", sagte sie leise, als hätte sie Angst, die Stille zu durchbrechen, obwohl genau das gerade geschehen war.
„Diesmal habe ich es auch gehört", meinte Legolas und sah zur Tür.
„Hallo?", schallte es vom Flur gedämpft herein.
„Ja, Moment!", rief Rowenna zurück und eilte zur Tür, froh, dass es sich diesmal nicht um eine Einbildung handelte, auch wenn sie keine Lust auf weiteren Besuch hatte. Draußen stand Donvan, der dunkelhaarige Elb, den sie bei der Versammlung kennen gelernt hatte, und schaute sie ernst an.
„Ich habe eine wichtige Sache mit Euch zu besprechen", setzte er an und deutete hinter sie. „Kann ich eintreten?"
„Natürlich." Sie machte den Weg frei und schloss die Tür wieder. Erst jetzt bemerkte Donvan, dass er nicht der einzige Gast war und verbeugte sich leicht vor dem Prinzen, obwohl man ihm ansah, dass er keine wirkliche Ehrfurcht empfand. Um seine Lippen zuckte es amüsiert und ein wenig herablassend, doch sie war sich nicht sicher, ob ihr das nur so vorkam.
„Tut mir Leid, mein Prinz, aber ich dachte, die Dame allein aufzufinden. Ich habe etwas Dringendes mit ihr zu besprechen, das nicht für andere Ohren bestimmt ist. Wenn es Euch etwas ausmacht, uns allein zu lassen, kann ich zu einer späteren Zeit noch einmal wiederkommen."
Rowenna konnte sehen, wie es hinter Legolas' Stirn arbeitete.
„Mach schon, dass du raus kommst!", forderte sie ihn lächelnd auf, um die Sache abzukürzen. Er sah ihr noch einmal zweifelnd in die Augen, es war offensichtlich, dass er lieber noch mit ihr über das eben Gehörte geredet hätte. Doch dann nickte er noch kurz und verließ das Zimmer.
„Setzt Euch doch!" Rowenna wies mit der rechten Hand auf einen Stuhl und als sich der Elb gesetzt hatte, ließ sie sich selbst an der Stelle des Bettes nieder, auf der bis gerade noch Legolas gesessen hatte. Die Decke war noch warm, auch wenn diese Wärme durch die verschiedenen Lagen ihres Kleides nur leicht zu spüren war. Wieder einmal wünschte sie sich, hier die gleiche Kleidung tragen zu können, mit der sie aufgewachsen war.
„Weshalb ich hergekommen bin", begann Donvan, „ist das Folgende: Ihr habt der Versammlung beigewohnt und wisst, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis es zu der entscheidenden Schlacht kommt. Die meisten Völker sind bereit, ihre Krieger zur Unterstützung zu schicken, doch Ihr wisst so gut wie ich, dass das nicht viel ändert. Ich wurde hierher gerufen, da ich mich mit geistlichen Kräften auskenne, wie Ihr sie besitzt und meine Aufgabe ist es, Euch vorzubereiten und Euch dabei zu helfen, sie zu kontrollieren. Mir wurde bereits von einigen Dingen berichtet, doch vielleicht wollt ihr mir selbst noch einmal schildern, was bis jetzt alles vorgefallen ist."
Rowenna wiederholte einige der Dinge, die sie vor einigen Minuten schon Legolas anvertraut hatte. Jetzt kamen sie ihr viel leichter von den Lippen, als hätte die Tatsache, sie einmal ausgesprochen zu haben, eine innere Barriere gelöst. Sie fing mit dem Verlassen ihres Körpers an, als sie in jene andere Welt eingetaucht war, die nur aus schwarz und weiß und deren Mischungen bestand, und in der sie sowohl diese Kälte als auch eine gleichermaßen extreme Wärme empfunden hatte. Sie erfuhr, dass die Welt, durch die sie nach Hause und wieder hierher gelangt war, Minemair hieß und des Weiteren, dass nur wenigen die Fähigkeit vergönnt war, sie zu durchschreiten. Trotzdem fühlte sie sich nicht besonders glücklich darüber; sie hätte diese und viele weitere Fähigkeiten mit Freuden gegen ihr altes, normales Leben eingetauscht, dass ihr damals vielleicht manchmal öde und langweilig, jetzt aber ruhig und gemütlich erschien.
Viele Dinge hatte sie selbst schon nach einigem Nachdenken verstanden, wie zum Beispiel an dem Abend, als ihr Badewasser plötzlich gekocht hatte. Sie wusste, dass sie es nicht geschafft hatte, ihre Energien rechtzeitig unter Kontrolle zu bringen, und hatte an den folgenden Tagen mit kleineren Wassermengen geübt. Sie brachte das Geschehnis kurz zur Sprache, doch keiner der beiden ging näher darauf ein. Schnell kam sie zu einem Punkt, über den sie sich schon so manche Stunde den Kopf zerbrochen, aber zu keinem Ergebnis gekommen war. Es war der Abend des Festes, an dem sie nach unzähligen Gläsern Wein plötzlich wieder nüchtern gewesen war.
Donvan überlegte einen Augenblick und deutete dann auf ihre Kette. „Habt ihr die an jenem Abend getragen?"
Erst jetzt bemerkte Rowenna, dass der Stein des Anhängers wieder zu leuchten begonnen hatte, zwar nicht so grell wie zeitweise an anderen Tagen, aber trotzdem gut sichtbar.
Sie bejahte die Frage und wartete auf eine Antwort.
„Ich weiß nicht, um was für einen Anhänger es sich handelt, doch es scheint mir kein Fauler Zauber zu sein. Manchmal beschützen Ketten ihre Träger. Und oft stellen sie den Schlüssel zu anderen Dimensionen dar.
Der Wein, den Ihr getrunken habt, benebelte lediglich Euren Körper, Euer Geist hingegen blieb frei. Bei Menschen oder Elben, egal, bei welchem Volk auch immer, sind Körper und Geist normalerweise stark aneinander gekettet und deshalb ist bei ihnen nach einem hohen Weingenuss das Denkvermögen mehr oder minder stark angeschlagen oder ausgeschaltet. Bei Euch jedoch haben sie sich schon so weit voneinander getrennt, dass sie sich unabhängig voneinander bewegen können. Ich glaube, dass diese Kette Euch dabei hilft, diese Trennung vorzunehmen, egal, ob beabsichtigt oder durch Zufall. Das würde diesen Abend erklären."
Ja, das würde es erklären. Es gibt für alles eine Erklärung – gibt es auch für die Erklärungen eine Erklärung?
Den Vorfall während des Festes ließ sie unerwähnt – sie konnte selbst nicht genau sagen, warum. Vielleicht war sie sich zu unsicher, dass es wirklich passiert war, nachdem alle beteuert hatten, dass dies nicht der Fall gewesen war.
Letzten Endes zeigte sie Donvan noch, was sie schon gelernt hatte, das Bewegen von Gegenständen zum Beispiel. Eine Vase zerschellte an der Wand und fiel in tausend Scherben zu Boden, nachdem sie es nicht rechtzeitig geschafft hatte, sie abzubremsen, aber sonst lief alles ohne größere Probleme.
Die zweite Vase… Vielleicht ist ja heute einheitlicher Vasenbruchtag.
Nach mehreren Stunden verabschiedete sich der Elb und ließ eine müde Rowenna zurück, die froh war, endlich ihre Ruhe zu haben. Aus dem Abend war Nacht geworden und ein empfindlich kalter Wind wehte durch das Fenster herein, das sie geöffnet hatte, um zwischendurch ein bisschen frische Luft zu schnappen.
Sie ging fast sofort ins Bett, doch zuerst kramte sie noch einmal in ihrer Reisetasche und holte einen bunt bedruckten Pyjama heraus. Egal, wie weit sie auch von zu hause fort war, alleine diese Kleinigkeit schaffte es, dass sie sich ein wenig wohler fühlte.
Der nächste Tag begann wie jeder hier. Irgendwann nach Sonnenaufgang schneite Nûemyn herein und brachte das Frühstück, welches jedoch noch einige Zeit auf dem Tisch stehen und auf seinen Verzehr warten musste. Rowenna wachte einmal kurz auf, schlief aber sofort wieder ein, ohne auch nur ans Essen denken zu können. Sie schlief unruhig und träumte wirres Zeug, an das sie sich hinterher aber kaum noch erinnern konnte. Wieder schien die Sonne; sie fing langsam an sich zu fragen, ob es hier überhaupt Regen gab.
Nachdem sie aufgestanden war, sich angezogen und etwas gegessen hatte, verließ sie ihr Zimmer und streifte ziellos durch die Gänge.
Die ganze Zeit begegnete ihr niemand, und da ihr das sinnlose Herumlaufen nach einer Weile langweilig wurde, suchte sie den Weg nach draußen. Mittlerweile kannte sie sich recht gut aus und fand sogar die kleine Tür zu dem Hinterhof, auf dem sie gestern Legolas mit ihren Schussübungen in den Wahnsinn getrieben hatte. Wieder übten viele jüngere Elben mit Schwertern, doch der Teil des Platzes mit der Zielscheibe lag verlassen da.
Langsam schlenderte Rowenna zu den Übenden und setzte sich auf die Bank an der Palastwand. Sie schaute zu und grinste manchmal, wenn ein Schüler in den Dreck fiel oder seine Waffe verlor. Natürlich handelte es sich nur um Holzschwerter, sodass sich niemand verletzen konnte.
„Warum bist du hier so alleine?"
Überrascht sah sie zur Seite und entdeckte Karîmà, die sich neben ihr niedergelassen hatte und mit beiden Händen eine alte Puppe festhielt.
„Ich weiß nicht", antwortete sie. „Vielleicht wollte ich nur für einen Moment meine Ruhe haben."
„Aber hier ist es doch gar nicht ruhig!", sagte das kleine Mädchen verwundert. „Wenn ich meine Ruhe haben will, dann gehe ich in den Wald, aber manchmal habe ich auch Angst. Dann beschützt mich Rosi!" Sie hielt ihre Puppe in die Höhe, zog sie aber sofort wieder an ihre Brust.
„Du?", fragte sie dann bedächtig. „Wirst du denn den Legolas heiraten?"
„Wie kommst du denn darauf?"
„Ich dachte nur so, weil er doch bald heiraten soll, sagt meine Mami, und weil ich euch beide doch so lieb hab. Ich will nicht, dass er eine von diesen vornehmen Elben heiratet, weißt du."
Rowenna schluckte. „Ach, soll er das?"
„Ja, weil er ist doch ein echter Prinz und Prinzen müssen immer heiraten. Weißt du das denn nicht? Das weiß doch jedes Kind!"
Erleichtert seufzte sie auf. Es gab also noch keine genaueren Pläne.
„Nein, ich glaube nicht, dass ich Legolas heiraten werde. Wie du schon gesagt hast ist er ein Prinz, und Prinzen heiraten immer eine Prinzessin. Das weiß doch auch jedes Kind." Sie lächelte etwas schief.
„Schade", meinte das Kind daraufhin nur und widmete sich wieder seiner Puppe. Dabei sagte sie leise Worte vor sich hin, die Rowenna nicht verstehen konnte.
Sie dachte an das Gespräch mit Donvan und daran, dass sie vergessen hatte ihm davon zu erzählen, als sie an einem Abend plötzlich spitze Ohren gehabt hatte. Sie nahm sich vor, das sofort nachzuholen und verabschiedete sich von Karîmà, die jedoch kaum aufschaute. Mittlerweile versuchte sich auch ein junger Bogenschütze an der Zielscheibe, doch seine Pfeile gingen oft meterweit daneben und so war Rowenna recht froh, aus der potentiellen Gefahrenzone herauszukommen. Im Palast fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wo sich das Zimmer des Elben befand. Sie lief ein wenig durch die Gänge in der Hoffnung, ihn oder jemand anderen zu finden, den sie nach dem Weg fragen konnte. Doch genau zu dieser Stunde war es dort wie ausgestorben und sie begegnete niemandem. Resigniert ging sie zurück zu ihrem Zimmer und traf dort auf Nûemyn, die gerade die Bettdecke ausschüttelte.
Auf die Frage, wo sich Donvans Zimmer befand, konnte sie jedoch auch nur mit einem Schulterzucken reagieren.
„Ich mache zurzeit nur wenige Zimmer, deswegen weiß ich nie, wer in welchem wohnt. Aber ich kann nachfragen gehen, wenn es wichtig ist. Du kannst natürlich auch deinen Lieblingsprinzen fragen gehen, der hilft dir doch bestimmt gerne." Sie zwinkerte ihrer Freundin leicht zu. „Übrigens habe ich ihn gestern ganz betrübt und grüblerisch durch die Gänge schleichen sehen. Ich weiß ja nicht, was du ihm erzählt hast, aber es war ein bisschen hart für ihn."
„Ich habe ihm eigentlich nur die Wahrheit gesagt, aber das hat wohl schon gereicht. Ach ja, und dann ist noch Donvan gekommen und hat ihn aus meinem Zimmer geworfen – das hat ihn anscheinend in seiner Ehre gekränkt."
Nachdenklich sah Nûemyn aus dem Fenster und wischte dabei in sämtlichen Ecken gleichzeitig Staub. Rowenna musste immer wieder aufs neue staunen, wie die Elbin es schaffte, scheinbar so entrückt zu wirken und dabei mehrere verschiedene Arbeiten wie auf Knopfdruck zu verrichten, und das dazu in einer Schnelle und Sorgfalt, die normalerweise einiges an Konzentration erforderte.
„Wer ist eigentlich dieser Donvan genau? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich bin ihm noch nie begegnet", fragte die Bedienstete gerade und stellte dabei zwei Stühle zurück an ihren Platz, während sie mit der anderen hand einen Besen über den Boden führte.
„Ich weiß es selber nicht so genau. Irgendein Gelehrter, der sich mit Magie auskennt oder so… Jedenfalls soll er mir wohl irgendwie mit meinen Fähigkeiten helfen können."
„Na ja, davon verstehe ich nichts. Ich muss jetzt gehen, heute bin ich beim Kochen zugeteilt und bei den vielen Gästen kannst du dir ja vorstellen, wie es da zugeht. Wir sehen uns dann später, ich komme heute Abend noch mal vorbei." Und schon war sie mitsamt ihrer Putzgegenstände verschwunden.
Erst als sie schon einige Sekunden weg war fiel Rowenna wieder ein dass sie nun immer noch nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte. Genauso unentschlossen wie vor einer halben Stunde trat sie wieder auf den Gang und hatte das Glück dort Gimli anzutreffen, der sie zu dem gewünschten Zimmer führen konnte. Dort angekommen verabschiedete er sich rasch wieder und murmelte irgendetwas von einer ‚dringenden Verabredung' in seinen üppigen Bart.
Rowenna wollte klopfen, hielt jedoch inne, als seltsame Geräusche durch die Tür nach außen drangen. Es hörte sich ein wenig an wie Buschtrommeln, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Bei allen Dingen, die ihr in letzter Zeit durch den Kopf schwirrten hätte es sie nicht gewundert. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und tatsächlich hörte sie danach nichts mehr. Sie schlug mit ihren Handknöcheln einige Male gegen das dunkle Holz der Tür, wartete auf eine Antwort und trat dann ein.
Das Zimmer war fast identisch mit ihrem. Die Einrichtungsgegenstände waren die selben, nur waren sie anders verteilt. Auf einer großen Kommode stand die gleiche Vase, die sie aus versehen und Stücke gesprengt hatte und die Bettpfosten waren auf die gleiche Art verziert, wenn auch mit leicht abgewandelten Motiven, was man aber nur bemerkte, wenn man etwas genauer hinsah. Der Elb saß über ein Buch gebeugt an einem Tisch in Fensternähe und schaute kaum auf. Verlegen schloss Rowenna die Tür hinter sich und als noch immer keine Reaktion kam, sagte sie vorsichtig: „Ich habe nach unserem Gespräch gestern noch etwas nachgedacht und mir ist noch etwas eingefallen, das ich gerne noch mit Euch besprechen würde, falls Ihr einen Augenblick Zeit habt."
Endlich legte Donvan das Buch zur Seite und drehte sich um. „Sicher." Er wirkte müde und unter seinen Augen waren deutliche Ringe zu erkennen, was Rowenna ein wenig verwunderte. Erst jetzt viel ihr auf, dass sie noch keinen Elb in einem solchen Zustand gesehen hatte, was auch immer der Grund dafür war. Bis auf dem Fest nach einigem an Wein wirkten alle Elben immer vital und gesund, und selbst da hatte keiner so ausgesehen.
Zögernd stellte sie ihm ihre Frage und wartete gespannt auf eine Antwort. Sie sah, wie sich seine Miene weiter verdunkelte. Schließlich sagte er fast schroff: „Von solch einem Vorfall habe ich noch niemals gehört. Wahrscheinlich war Eure Wahrnehmung durch zu hohen Weinkonsum getrübt und Ihr wusstet nicht mehr, was Ihr saht. Bitte lasst mich jetzt alleine, ich habe wichtigeren Fragen nachzugehen."
Damit wandte er sich wieder seinem Buch zu und ignorierte sie erneut. Ein enttäuschtes Seufzen unterdrückend verließ sie das Zimmer.
Die Sonne hatte gerade ihren Höchststand überschritten und zog nun weiter ihre Bahn Richtung Westen. Sie schien heiß auf das Blätterdach Düsterwaldes, während es unter den schützenden Bäumen angenehm kühl blieb. Rowenna hatte sich entschieden, ein wenig spazieren zu gehen und das schöne Wetter zu genießen, hauptsächlich deshalb, weil sie nichts Besseres zu tun wusste. Sie hatte es aufgegeben, das Bogenschießen lernen zu wollen, es war ihr mir zu viel Arbeit verbunden, es wirklich zu lernen, wo sie die Pfeile doch ganz ohne Bogen viel bequemer an ihren Bestimmungsort bringen konnte. Ihre Gedanken schwebten so frei umher wie die Vögel oder die Schmetterlinge, und so merkte sie gar nicht, dass ihre Füße sie wie ganz von alleine zu dem kleinen See trugen, der eine solch starke Anziehungskraft auf sie ausübte.
Wie immer schien er in einem leichten Nebel gefangen zu sein, ein wenig entrückt von der Wirklichkeit und emporgehoben in eine andere Welt. Die Sonnenstrahlen brachen sich in den feinen Tautröpfchen, die sich auf allen Blättern und Gräsern abgesetzt hatten und das Zwitschern der Vögel klang hier dumpf und wie von weit her.
Rowenna war gefangen in dem Zauber dieses Ortes und spürte nicht das kalte Wasser das sie umgab, als sie zu der winzigen Insel schwamm. Sie fror nicht, denn ihr Körper wurde unwichtig, als sie ihren Geist öffnete.
Wie schon einmal zuvor schwebte sie davon über die riesigen Wälder, beobachtete Elben und Tiere und manchmal sogar Menschen auf der Durchreise. Einmal sah sie einen Zwerg und sie bemerkte, dass sie sich über dem Palast befand und der Zwerg niemand anders war als Gimli, der sich im Park mit Legolas unterhielt. Sie schwebte nicht näher heran um das Gespräch zu hören, denn ihre Stimmen hätten die wunderbare Stille durchbrochen.
Irgendwann, nach Stunden oder Tagen, jedes Zeitgefühl war inzwischen verloren gegangen, fand sie sich auf der Insel wieder. Das Kleid war nass und kalt und ihr Körper klamm und verspannt. Der Zauber war verschwunden und der Nebel hatte sich in der Sonne aufgelöst. Verwirrt und müde stand Rowenna auf und schwamm zurück zum Ufer – plötzlich kam ihr dieser Ort ungastlicher vor als jeder andere. Sie lief den Weg zurück und war froh, dass sie niemandem begegnete, bis sie schließlich den Palast erreichte. In Park herrschte Hochbetrieb, die vielen Gäste wandelten über die sauber angelegten Wege und konnten sich an einem Tisch mit Essen und Getränken versorgen, den eine Gruppe Bediensteter aufgebaut hatte.
Der Stand der Sonne war noch immer hoch – es konnte höchstens eine Stunde vergangen sein seit Rowenna den Palast verlassen hatte. Komisch, es kommt mir vor, als wären Stunden vergangen… Aber das ist anscheinend nur Einbildung.
Der Hinterhof war jedoch so gut wie leergefegt, in der warmen Sonne hatte niemand wirklich Lust zu körperlichen Anstrengungen. Rowenna nutzte die Möglichkeit und verschwand durch die kleine Tür ins Innere des Gebäudes, wo es ihr in ihrem nassen Gewand unangenehm kalt wurde. Auf ihrem hastigen Weg durch die Gänge hinterließ sie eine feuchte Spur auf dem Steinfußboden.
Sie begegnete niemandem, und das war ihr auch recht. Sie riss die Tür ihres Zimmers auf und huschte hinein, da sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Reflexartig zuckte sie zusammen, doch es war nur Legolas, der schon länger zu warten schien, seiner Miene nach zu urteilen.
„Was ist denn mit dir passiert?", fragte er und musterte sie von oben bis unten. Beschämt stellte Rowenna fest, dass ihr das Kleid wie eine Pelle am Körper klebte und nach einem raschen Blick in den nahen Spiegel sah sie auch, dass sich mehrere Algen und Äste in ihren Haaren verfangen hatten.
„Nichts", hoffte sie ihn abzuwimmeln. „Es ist nichts. Wieso bist du hier?"
Sofort wurde sein Gesicht wieder ernst. „Es ist etwas geschehen und wir mussten eine Sonderversammlung einberufen. Sie sollte vor ungefähr einer halben Stunde begonnen haben, also beeilst du dich besser mit dem Umziehen. Baden kannst du hinterher, dafür ist jetzt keine Zeit." Damit wandte er sich wortlos ab und verließ taktvoll das Zimmer, ohne ihr noch die Chance zu einer Frage zu geben.
Und ich hatte gehofft, einen kurzen Augenblick für mich zu haben. Aber das werde ich wohl für einige Zeit zurück stellen müssen.
Sie seufzte kurz auf und entledigte sich dann ihres Kleides. Wie gerne wäre sie jetzt nach einem warmen Bad in ihre Lieblingsjeans und ein bequemes T-Shirt geschlüpft, doch damit konnte sie sich unmöglich bei der Versammlung zeigen. Also blieb ihr nichts anderes als ein weiteres zwar sehr schönes und gut gearbeitetes aber auch langes und umständliches Kleid aus dem riesigen Kleiderschrank.
Nachdem sie sich umgezogen und den Hauptteil der Ästchen aus ihren Haaren entfernt hatte, blickte sie noch einmal prüfend in den Spiegel. Sie war nicht zufrieden, aber das musste jetzt reichen; die anderen warteten sicher schon ungeduldig auf sie.
Ohne viel nachzudenken schlug sie den Weg zur Bibliothek ein, immerhin war das der einige Ort, an dem sie bisher einer Versammlung beigewohnt hatte. Fand sie anderswo statt, würde sie jemanden suchen müssen, der sie hinführte. Doch sie hatte Glück, sie hatte richtig getippt.
Einige erleichterte Seufzer ertönten aus verschiedenen Ecken, als sie eintrat. Endlich konnte begonnen werden und jeder hoffte wohl auf die Klärung seiner eigenen wichtigen Fragen.
Thranduil sprach wie immer als erster, kaum, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Rowenna setzte sich auf den letzten freien Platz, der sich wieder einmal neben Legolas befand, der ihr ermutigend zunickte. Ich hasse diese Versammlungen, ich hasse sie, hasse sie… Sie zwang sich zu einem Lächeln. Und versuchte nebenbei, Thranduil zuzuhören.
„… sehr erschüttert… großer Verlust… tapferer Mann…"
Sie konnte einfach nicht richtig zuhören, irgendetwas war da, das sie ablenkte. Ihr erster Gedanke galt Legolas, doch sie schaute ihn gar nicht an, und es fühlte sich eher an, als würde etwas sie rufen, das nicht irdischen Ursprungs war.
„… harter Schlag… in dieser Zeit…"
Endlich schaffte sie es, einige Wortfetzen aufzuschnappen und einigermaßen zu verarbeiten, doch sie verstand den Sinn noch nicht ganz. Wieder zerrte etwas an ihr und wollte sie nicht loslassen, bis sie es mit aller Kraft schaffte, es so weit zurückzudrängen, dass sie wieder die Welt um sich herum wahrnahm. Sie schaute zu Legolas, doch der sah nur betroffen auf seine Fingerspitzen.
Rowenna pfiff leise durch die Schneidezähne, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, womit sie bewirkte, dass sich sämtliche der anwesenden Elben zu ihr umdrehten. Sie hatte ganz vergessen, dass deren Ohren so viel feiner waren als ihre und spürte nun unangenehm, wie sich ihre Gesichtsfarbe ins rötliche veränderte. Die Elben sahen sie schockiert und empört an als hätte sie etwas weitaus schlimmeres getan als nur zu pfeifen. Sie versuchte ein entschuldigendes Grinsen, erreichte damit aber auch nicht mehr. Endlich drehten sich die Anwesenden wieder Thranduil zu und Rowenna rutschte wie sie hoffte unauffällig zu Legolas. „Wasilo?", flüsterte sie aus Angst, wieder jemanden zu verärgern so leise, dass sie es selbst nicht verstanden hätte. Er bedeutete ihr mit einem Schulterzucken, dass er sie nicht verstanden hatte. „Was ist los?", fragte sie nun etwas lauter. Er legte nur den Finger auf die Lippen und sah sie verständnislos an, doch bevor sie sich noch ärgern konnte, spürte sie wieder dieses Ziehen in ihrem Kopf. Sie sah, dass Legolas die Lippen bewegte, doch sie konnte kein Wort hören, weil ein Rauschen alles übertönte.
Sie hatte in der letzten Zeit schon oft genug Reisen durch die Welten unternommen, um zu wissen, dass das diesmal nicht die Ursache war. Prüfend hob sie ihren linken Arm. Wenn sie in eine andere Welt rutschte, verlor sie die Kontrolle über ihren Körper, doch jetzt war in dieser Hinsicht alles in Ordnung. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Wieder kam etwas Neues, Unbekanntes hinzu, an das sie sich gewöhnen musste und wieder einmal hatte sie keine Ahnung davon, was es war und wie man damit umging. Es fühlte sich anders an als all die anderen Male, wenn sie eine neue Kraft entdeckt hatte. Sonst hatte sie die Kraft spüren können, die durch ihren Körper floss und sich bündelte; oder sie hatte zumindest gemerkt, dass sich irgendetwas in ihr rührte. Jetzt war es mehr so, als dränge eine Kraft von außen in sie ein, um in ihr etwas zu verändern.
Sie versuchte, diese Kraft mit den Mitteln zu vertreiben, die auch bei den Schatten in der Zwischenwelt gewirkt hatten – der Gedanke an Licht und der pure Wille, alles Schlechte zu verdrängen.
Doch es rührte sich nichts, das Gefühl blieb und wurde sogar noch stärker.
Das kann doch nicht sein. Da ist etwas in meinem Kopf, in mir, und ich kann nichts dagegen tun? Bis jetzt gab es auf alles eine Lösung, und es wird auch hier eine geben… Wenn mir nur jemand sagen könnte, welche…
Sie zwang sich, nachzudenken, wobei ihr Blick auf die Elben in der Runde am Tisch fiel. Ihr links gegenüber saß Donvan. Auch er wirkte wie die anderen etwas entrückt und betroffen, doch dann blickte er zufällig zu ihr herüber. Ich muss ihn fragen, was ich tun soll. Er kennt sich mit solchen Sachen aus, er wird mir helfen können. Ich muss ihn nur fragen, auch wenn dann wieder alle so komisch gucken…
Sie wollte etwas sagen, doch ihre Zunge bewegte sich nicht. Soviel dazu, dass ich meinen Körper unter Kontrolle habe…
Sie hob ihre Hand wie in der Schule, wenn sie etwas sagen wollte. Sofort wandten sich ihr alle Gesichter zu und sie wollte etwas sagen, doch sie konnte nicht.
„Was ist denn los?", fragte Legolas leise neben ihr, nahm ihre ausgestreckte Hand und drückte sie langsam wieder nach unten. Ich muss irgendetwas sagen, damit sie mich nicht für bescheuert halten…
Noch einmal wehrte sie sich gegen das, was sie hielt und bekam diesmal etwas zu fassen. Fast konnte sie körperlich spüren, wie sich etwas bewegte, wie es floh. Reflexartig klammerte sie sich daran, und als würde es etwas nützen, ballte sie dabei ihre Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft in das Fleisch ihrer Hände bohrten.
Plötzlich sah sie den Raum aus einer anderen Perspektive. Sie sah sich selbst in dem riesigen Sessel und stellte fest, wie verloren ihre zusammengekrümmte Gestalt darin wirkte. Dieser Moment dauerte kaum länger als ein Wimpernschlag, zu kurz, um sich an genaueres zu erinnern als daran, dass sie nicht durch ihre eigenen Augen gesehen hatte. Schon war alles wie zuvor und sie hatte Mühe, sich selbst zu glauben, dass sie nicht langsam verrückt wurde nach allem, was geschehen war.
„Ich…", stotterte sie und erschrak selbst beim Klang ihrer Stimme. Jeder Druck aus ihrem Kopf war verschwunden, und jetzt sah sie klar und deutlich die Gesichter vor sich, die sie alle anstarrten und eine Antwort auf die ungestellt im Raum schwebende Frage erwarteten.
„Ich…", wiederholte sie und setzte dann noch einmal neu an. „Mir ist nicht gut. Entschuldigung."
Damit stellte sie sich vorsichtig auf ihre zitternden Beine und schlängelte sich zur Tür. Ohne noch einmal zurückzublicken rannte sie hinaus und den Gang entlang zu einer Wendeltreppe von der sie nicht wusste, wohin sie führte. Sie stolperte die Stufen hinab, tiefer und tiefer in den endlosen, schmalen Windungen.
Irgendwann, nachdem ihr schon einigermaßen schwindelig war, erreichte sie einen weiteren Gang. Er musste sich ungefähr fünf Stockwerke tiefer als die Bibliothek und damit weit unter dem Palast befinden. Erschöpft setzte sich Rowenna mit dem Rücken zur Wand auf den Fußboden, dessen Steine hier noch um einiges kälter waren als anderswo im Gebäude. Sie zitterte noch immer, ein Zustand, an den sie sich langsam gewöhnte, auch wenn er ihr zuwider war, weil sie sich so schwach fühlte.
Erst nach einer Weile, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, stand sie auf und sah sich um. Es war fast stockdunkel, denn nirgendwo brannte eine Kerze oder eine Fackel. Sie mobilisierte noch einmal ihre Kräfte, um ein Licht herbeizurufen, das vor ihr in der Luft tanzte. Das war eines der wenigen Dinge, die sie mittlerweile zu beherrschen gelernt hatte.
Die Wände waren kahl und aus großen, grobschlächtigen Steinen errichtet, die teilweise einige Zentimeter aus dem gesamten Mauerwerk hervorstanden. Der Gang war nicht ganz so eng wie die Treppe, doch er hätte nicht ausgereicht, damit zwei Männer nebeneinander gehen könnten. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Gestalt, die ebenfalls die Treppe herunter kam. Sofort wollte sie das Licht löschen, denn sie wollte keine Gesellschaft und wer immer dort war würde vielleicht wieder gehen wenn er alles verlassen vorfand. Doch es war schon zu spät, denn er hatte schon die unterste Stufe erreicht. Sie erkannte Legolas im Schein einer Fackel, die er wohl in Erwartung eines dunklen Flures mit herunter genommen hatte.
„Was tust du hier unten?", fragte er leise, fast flüsternd, denn in der Stille wirkte alles ungeheuer laut.
„Ich weiß nicht. Nachdenken vielleicht", antwortete sie unbestimmt und zuckte mit den Schultern.
„Das solltest du besser oben tun. Ich weiß nicht, ob du dich schon umgesehen hast, aber dies ist kein Platz für eine Dame."
„Und ich dachte, dass du mich mittlerweile so gut kennen würdest dass du wüsstest, dass ich keine Dame bin." Sie schlang die Arme um ihren Körper, denn ihr war plötzlich kalt.
„Ja, ich weiß."
Eine kurze Pause folgte, bis er wieder das Wort ergriff.
„Was war eben los? Ich hatte das Gefühl, als ob du gar nicht wirklich da gewesen wärst."
„Nichts", log sie gewohnheitsmäßig, korrigierte sich dann aber noch: „Ich weiß es nicht. Aber es ist wieder vorbei, und das ist die Hauptsache." Sie wandte sich ab und ging zwei Schritte in die von ihrem Licht erhellte Dunkelheit, bevor sie wieder stehen blieb. „Du brauchst dir um mich keine Sorgen machen, wirklich", sagte sie bestimmt, ohne sich umzudrehen. „Ich weiß, dass du wenig Zeit hast. Geh wieder zurück zur Versammlung und regle, was zu regeln ist. Ich kann dabei eh nichts bewirken, weil ich mich nicht auskenne. Ich komme schon zurecht – ich brauche nur ein wenig Zeit zum Nachdenken."
Sie hörte, wie er seine Fackel in eine dafür vorgesehene Vorrichtung in der Wand steckte und dann von hinten an sie heran trat.
„Die Versammlung wurde aufgelöst. Und es stimmt nicht, dass du dabei nichts bewirken kannst, denn falls du es noch nicht bemerkt hast: es dreht sich mittlerweile alles nur noch um dich."
„Aber das macht mir Angst", sprach sie das aus, was sie schon die ganze Zeit dachte. „Es macht mir Angst, weil ich nicht weiß, ob ich das schaffen kann, was ich tun muss. Ich war noch niemals zuvor in meinem Leben in einer solchen Situation und es ist einfach zu viel für mich." Sie starrte in das Licht, dass immer noch in dem gleichen Abstand vor ihr schwebte, denn es hatte sich mit ihr zwei Schrittlängen vorwärts bewegt. Im Kern war es heller und wurde nach außen hin blasser. Hin und wieder flackerte es leicht auf, immer dann, wenn Rowenna sich ein Stück vor oder zurück bewegte.
„Ich kann das sehr gut verstehen. In mich werden auch Erwartungen gesetzt, die ich nicht erfüllen kann, auch wenn es bei dir natürlich um mehr geht. Jeder kann nur sein bestes geben und ich bin überzeugt, dass du das tun wirst. Alles andere ist nicht von belang. Ich weiß, dass du stark genug bist, denn sonst wärst du nicht für diese Aufgabe ausgesucht worden. Und egal was passiert, wir stehen hinter dir, du musst das nicht alleine durchstehen."
Sie schluckte. „Ich weiß."
Er stand so nah hinter ihr, dass sie noch immer seinen warmen Atem an ihrem Ohr fühlen konnte. „Ich weiß", wiederholte sie, teils nur, um etwas zu sagen, und teils, um es sich selbst ein bisschen klarer zu machen, denn sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wusste.
Sanft drehte er sie zu sich um und nahm sie in die Arme. „Ich stehe immer hinter dir", flüsterte er zärtlich in ihr Haar und streichelte mit einer Hand ihren Rücken. Das Licht schwebte über ihnen und erleuchtete eine grob behauene Decke, die von Spinnweben überzogen war und von der immer wieder kleinste Gesteinsbröckchen herunterfielen und sich als Staub auf den Kleidern der beiden fast unbeweglich dastehenden absetzte.
Schließlich löste sich Rowenna als Erste. Sie musste unbedingt erfahren, was vorgefallen war, denn die einzigen Worte, die sie bei der Versammlung aufgefangen hatte, waren wieder aus ihrem Kopf verschwunden oder ergaben einfach keinen Sinn. Sie fragte danach und erntete betroffenes Schweigen.
„Ich hatte gehofft, es nicht aussprechen zu müssen, denn damit muss ich mir eingestehen, dass nicht alles nur ein schlechter Traum ist. Als du weg warst… ist Gandalf gestorben. Er hat nach dir gerufen, ich habe es gehört, denn ich habe seinen Todeskampf mit ansehen müssen. Er sagte, du würdest ihm helfen, würdest ihn retten. Seine Rufe wurden immer leiser." Legolas brach ab und wischte sich verstohlen über die Augen. Dann sah er Rowenna fest in die Augen und sie konnte eine einzelne Träne sehen, die sich in den seinen bildete.
„Das macht mich so sicher, dass du es schaffst. Er hätte dir sein Leben anvertraut, und wenn er an dich glaubte, so kann ich es nicht verantworten, das nicht zu tun."
„Aber ich war nicht da…" Es war kaum mehr als ein heiseres Kratzen, das sich aus ihrem Mund löste, ihre Stimme klang tonlos und blechern. „Ich war nicht da und er ist gestorben. Wie kannst du mir denn da vertrauen, wenn jemand daran gestorben ist, es zu tun?"
Ich war im Wald, ich bin darüber hinweg geflogen und ich habe mich gut dabei gefühlt. Und in dieser Zeit ist jemand gestorben, weil ich nicht da war. Das ist so schwer zu begreifen…
„Dass er es tat ist alles, was ich wissen muss."
Er vertraut mir wirklich. Er glaubt, dass ich eine Macht besiegen kann, die so immens ist… Ich weiß nicht, ob ich diesen Kampf überleben will, denn wenn ich es nicht schaffe werde ich niemandem jemals wieder in die Augen schauen können. Niemandem, der dann noch lebt…
Zum ersten Mal wurde ihr das volle Ausmaß dessen bewusst, in das sie hineinschlitterte, nein, in dessen Mitte sie sich schon längst befand. Es würde Tote geben, mehr als nur diesen einen und fast wünschte sie, sie würde dazugehören…
Kälte drang durch ihre Haut und kühlte sie bis auf die Knochen aus. Sie fühlte sich elend und verlassener, als wenn sie ganz allein gewesen wäre, denn die Bürde der Verantwortung lastete so schwer auf ihr, dass sie nicht wusste, wann sie darunter zusammenbrechen würde. Sie merkte nicht, dass das Licht über ihr an Leuchtkraft verlor und den dunklen Gang immer weniger erleuchtete, bis er fast nur noch aus Schatten zu bestehen schien. Ihr Herz schlug zu schnell und pumpte zu viel Blut durch ihren Körper, sodass es in ihren Ohren rauschte und ihren Kopf fast zum Platzen brachte. Sie wünschte sich, dass alles wieder normal war, und sie verzweifelte daran, dass es nie mehr so sein würde.
