So, jetzt erst mal lieben Dank an: Shiva, Hexenlady, MorganAbKynan, darklayka und Enessa für die Reviews alle abbussel und umarm lasst euch nicht davon abhalten, auch zum neuen Kap wieder nen Kommentar abzugeben!! ;-)

Kapitel 14

Das Nächste verschwamm vor ihren geschlossenen Augen, bis nur noch ein Strudel aus Farben und Eindrücken übrig blieb. Und dann sah sie wieder etwas, ohne die Augen geöffnet zu haben und sie wusste, sie war am Ziel.

Nach einigen Sekunden hatte sie ihre Gedanken soweit geordnet, dass sie sich auf ihr Umfeld konzentrieren konnte. Sie erkannte die Bibliothek, die dunklen Bücherregale, die bis zur Decke reichten, und die in der gleichen Stilrichtung gehaltenen Tische und Sessel. Direkt vor ihr war ein Bücherregal; die vielen Buchrücken, die dort in Reih und Glied standen, waren allesamt schwarz und trugen Aufschriften in einer seltsam verschnörkelten Schrift, die Rowenna nicht lesen konnte.

Eine Hand fuhr über die Bücher und zog ruckartig eines heraus. Es unterschied sich vom Aussehen nicht von den anderen, war ebenso schwarz und war mit goldenen Lettern betitelt. Die Augen senkten sich auf die ersten Seiten und überflogen ein paar Zeilen.

Plötzlich durchbrach eine leise Stimme die Stille. „Darf ich Euch etwas bringen, Herr?" Kurzes Schweigen, dann: „Was tut Ihr dort bei den schwarzen Büchern? Wisst Ihr nicht, dass niemand sie…"

Rowenna wurde fast schwindelig, denn sie war nicht darauf vorbereitet, dass sich ihr Gesichtsfeld so rasend schnell drehte. „Schweig!", glaubte sie einen Moment selbst zu brüllen, doch dann bemerkte sie, dass es nur der Körper war, in dem sie sich befand.

Das Mädchen, das nur einige Meter entfernt stand, riss schockiert die Augen auf. „Ich denke, ich werde dann lieber…", stammelte sie erschrocken und wollte sich abwenden.

„Nichts wirst du!" Bevor Rowenna begreifen konnte, was geschah, sah sie einen gleißend blauen Blitz und das Mädchen fiel leblos zu Boden. Ihr Gesicht zeigte noch die Überraschung und den Schrecken, den es nie wieder ablegen würde.

Rowenna wäre erstarrt, hätte sie nur einen Körper gehabt. Sie musste zurück! Hektisch zog sie sich zurück und wachte in Legolas Zimmer wieder auf.

Ärgerlich schaute er auf den leblosen und seltsam verrenkten Körper des Mädchens herunter. Gerade hatte er das richtige Buch gefunden, und dann kam diese Göre und störte ihn. Jetzt musste er sie so schnell wie nur möglich wegschaffen, bevor noch jemand kam und sie sah. Er ließ das Buch auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Bücherregal liegen und schulterte die Leiche. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, er hatte sie nicht laufen lassen können. Er kannte diese Mädchen; kaum sahen sie etwas, wusste es wenige Minuten später jeder im Umkreis von zehn Meilen, und nichts durfte seine sorgfältige Planung jetzt noch durcheinander bringen. Zum Glück hatte er vorher tagelang alle Pläne des Palastes studiert, die er hatte bekommen können, ohne auffällig zu werden. So wusste er, dass die Dienstbotengänge so gut verzweigt waren wie die Katakomben unterhalb des Palastes, und das man durch sie sämtliche Räume erreichen konnte. Gezielt marschierte er zu einer nahezu unsichtbaren Tür, die durch die getäfelte Wand perfekt getarnt war. Schnell ging er hindurch und schloss sie wieder hinter sich. Die fast totale Dunkelheit wurde durch ein kleines Öllämpchen erhellt, das kurz hinter der Tür auf dem Boden stand; das Mädchen musste damit hergekommen sein. Seufzend bückte er sich und hob es auf; so gut, dass er sich im Dunkel zurechtfinden könnte, waren die Karten nicht gewesen.

Er schleppte den toten Körper durch die schmalen Gänge, bis er zu einem Ausgang kam, der direkt zum Wald führte. Er lief noch ein gutes Stück weit und ließ seine Last dann einfach auf der Spitze eines kleinen Hügels fallen, sodass sie auf der anderen Seite wieder herunterrolle. Zufrieden schaute er sich um und ging dann schnellen Schrittes zurück. Es war nicht mehr viel Zeit bis zum finalen Schlag, und er wollte sich so optimal vorbereiten, wie es eben möglich war.

Als er wieder in die Gänge trat, war das Lämpchen ausgegangen und er musste sich im Dunkeln vortasten. Der Mord des Mädchens hatte mehr Kraft verschlungen, als er gedacht hatte und er wollte nicht noch mehr sinnlos verlieren, indem er ein Licht heraufbeschwor. Vielleicht war er doch noch nicht wieder so stark, wie er gedacht hatte. Doch er musste es schaffen, denn alles hing davon ab, dass sein Plan ohne Fehler ausgeführt wurde.

„Wie schön ist es doch, wieder einen Körper zu haben", flüsterte er vor sich hin, als er an der Bibliothek anlangte. Er nahm das Buch wieder auf, versteckte es unter seinem Mantel und verließ das Zimmer diesmal auf dem normalen Weg.

Mit einem zufriedenen, aber teils auch besorgten Gesicht ging er unbemerkt über die Gänge des Palastes davon.

„Was ist passiert?", fragte Legolas, kaum dass Rowenna die Augen aufgeschlagen hatte.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte und nahm dankbar die Decke entgegen, die er über ihr ausbreitete. Doch sie half natürlich nicht, denn das Zittern wurde nicht durch die Kälte verursacht.

„Er hat sie umgebracht", flüsterte sie geschockt.

„Wen?"

„Dieses Mädchen. Sie hat doch nichts getan; einfach umgebracht!" Eine Träne löste sich und fand ihren Weg über Rowennas Wange, bis sie am Kinn hängen blieb. Wieder und wieder sah sie die Szene vor sich und fast fühlte es sich so an, als wäre sie es gewesen, als hätte sie das Mädchen getötet. Sie setzte sich auf und schilderte Legolas mit bebender Stimme die Vorfälle, während er sich neben sie setzte und schützend seinen Arm um ihre Schultern legte. Diese kleine Geste half ihr ein bisschen, sich wieder zu beruhigen, auch wenn sie sich noch mehrere Tränen aus den Augen wischen musste.

Als sie geendet hatte, sprang Legolas ruckartig auf. „Dann müssen wir jetzt sofort in die Bibliothek und herausfinden, wer es war. Vielleicht hat ihn jemand gesehen…"

„Jetzt ist er doch längst weg", wandte Rowenna ein. „Er wird sich nicht seelenruhig an einen der Tische setzen und ein verbotenes Buch lesen. Es war wieder einmal umsonst." Niedergeschlagen starrte sie auf ihre Hände. Wieder einmal hatte sie so viel riskiert, um keinen Schritt weiter zu kommen, wieder hatte sie nichts erreicht, als sich ein bisschen schlechter zu fühlen. Vielleicht war der Gedanke Aragorns aus seiner Sicht doch gar nicht so abwegig. Immerhin brachte sie niemals etwas Hilfreiches zustande, obwohl sie sich anscheinend bemühte – und das bei ihren Kräften. Aber ich bin unschuldig und ich werde ihm das auch beweisen.

Legolas zögerte und setzte sich dann wieder hin. „Du hast recht", meinte er. „Aber trotzdem können wir hier doch nicht einfach herumsitzen. Wir könnten wenigstens nachschauen gehen, welches der Bücher fehlt."

Sie verließen gemeinsam das Zimmer und begegneten auf dem Gang Aragorn, der von den Gemächern des Königs kam; anscheinend hatten sie noch etwas besprochen. Rowenna spürte, wie sein Blick kurz auf ihr lastete, bevor er weiter zu Legolas wanderte und diesen fragend musterte. Legolas schüttelte nur unmerklich den Kopf und ging mit Rowenna voran, den Flur entlang, und führte sie dann zielsicher bis zu der massiven Holztür, die zur Bibliothek führte. Aragorn war schon eine Weile vorher an einer anderen Stelle abgebogen und Rowenna war froh, dass er ihnen nicht mehr im Nacken saß, denn dann fühlte sie sich immer unangenehm beobachtet.

Sie trat hinter Legolas durch die Tür und wie erwartet lag der große Raum leer vor ihnen. Der Prinz zeigte ihr den Weg um einige Ecken, bis sie zu einem etwas abseits stehenden Regal zum stehen kamen, dessen Bücher alle schwarz waren, so wie Rowenna es gesehen hatte. Doch so genau sie auch schaute, nirgendwo schien ein Exemplar zu fehlen, jede Reihe war ausnahmslos bis zum Rand gefüllt und es wäre kaum genug Platz gewesen, um noch ein einzelnes Blatt zwischen die Bücher zu schieben.

„Komisch", murmelte sie vor sich hin und fuhr mit einem Finger über die Buchrücken, um eventuelle Unebenheiten auszukundschaften. Sie hatte keine Hoffnung, irgendetwas zu bemerken, doch ihr viel nichts anderes ein, was sie hätte tun können. Plötzlich hielt sie inne. War da nicht eine Lücke gewesen? Sie schaute auf die Stelle, doch auch dort standen die Bücher Seite an Seite. Vorsichtig fuhr sie noch einmal mit dem Finger darüber und wieder spürte sie die Vertiefung.

„Legolas?"

„Ja?" Er drehte sich wieder ihr zu, nachdem er einen Augenblick lang ratlos auf und ab geschritten war.

„Hier fehlt ein Buch."

„Wo?" Sie zeigte ihm die Stelle. „Aber das stimmt doch gar nicht, die Reihe ist mehr als nur komplett, ich wüsste nicht, was dort fehlen sollte."

„Versuch einmal, dieses Buch hier zu berühren", forderte sie ihn auf und wartete gespannt auf seine Reaktion, die jedoch ausblieb.

„Was ist mit dem Buch? Für mich fühlt es sich ganz normal an."

Dann habe ich es sicher verwechselt, es war bestimmt das daneben. Prüfend legte sie wieder ihren Finger an die Stelle und spürte den leeren Platz dort, wo Legolas behauptete, das Buch zu fühlen. Das kann doch nicht wahr sein. Warum kann er es berühren, und ich nicht?

„Was steht auf dem Einband?", fragte sie, da sie die Schriftzeichen auch bei genauerem Hinsehen nicht entschlüsseln konnte. Sie vermutete, dass sie in der seltsamen Sprache geschrieben waren, die sie die Elben manchmal untereinander sprechen hörte.

„Da steht nur eine Zahl, Odog – Sieben."

„Sieben? Ist das der Name des Buches?"

„Ich nehme es an, immerhin steht es dort. Was sollen wir jetzt tun?"

„Was schon, zieh es heraus, wenn du es doch schon berühren kannst. Ich bin sehr gespannt darauf, ob dir das möglich ist, immerhin befindet es sich gar nicht hier."

„Du meinst, dies ist nur so eine Art… Erscheinung, Trugbild?"

„Ja, das denke ich. Versuch es einfach mal, wir werden sehen."

Einen Augenblick sagte niemand etwas, dann fragte sie: „Warum nimmst du es nicht heraus?"

„Ich… ich kann nicht. Immer, wenn ich die Hand ausstrecken will, bekomme ich ein Gefühl, dass ich es lieber nicht tun sollte…"

„Das ist dann wohl der Zauber, damit niemand den Schwindel bemerkt. Moment, ich versuche es einmal, vielleicht passiert ja bei mir etwas anderes…"

Beherzt griff sie erneut nach dem Buch und wieder war da nichts. „Da kann mal wohl nichts machen", bedauerte sie ehrlich. Zu gerne hätte sie erfahren, wovon es handelte.

„Aber wir können doch auch nicht gar nichts machen und einfach abwarten, bis wieder etwas geschieht", gab Legolas zu bedenken und tigerte wieder von einer Stelle zur anderen.

„Ich fürchte, für den Moment bleibt uns nichts anderes übrig, bis wir einen neuen Plan haben. Aber ich hätte da noch eine Frage: Wie ist Aragorn auf die Idee gekommen, dass es einen Verräter geben muss? Ich meine, ich verstehe ja mittlerweile, wie er auf mich gekommen ist, aber was hat ihn überhaupt auf die Idee gebracht?"

Er überlegte einen Augenblick und antwortete schließlich, während er sich mit einer Hand am Kinn kratzte. „Das weiß ich auch nicht so genau, aber er wird schon seinen Grund gehabt haben. Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Gandalf hat mal so etwas verlauten lassen. Ihm selbst war die Zeit ja nicht vergönnt, selbst danach zu forschen, also hat wohl Aragorn den Gedanken an seiner Stelle weitergesponnen."

Rowenna gab sich mit der Antwort zufrieden und wandte sich dann zur Tür. „Wir sollten wieder gehen, hier können wir ja doch nichts mehr ausrichten. Ich würde mich gerne noch ein Weilchen hinlegen; es war alles ein bisschen viel eben. So etwas habe ich schließlich zum ersten Mal gemacht und ich hatte keine Ahnung, wie anstrengend es ist." Tatsächlich musste sie in genau dem Moment ein Gähnen unterdrücken.

„Gut, dann höre ich mich in der Zeit ein weinig um, vielleicht hat ja jemand etwas bemerkt."

„Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn du mitkommen könntest. Ich meine, ich will ja nicht, dass der Verdacht wieder auf mich fällt, wenn in der Zeit, in der ich alleine bin, wieder etwas geschieht", fügte sie hastig hinzu. In Wirklichkeit wollte sie einfach nicht allein sein. Sie hatte immer das Gefühl, dass weniger passierte, wenn jemand anders in der Nähe war.

„Auch gut, also gehen wir. Nûemyn wird jetzt ja wohl fertig sein."

Strengstens darauf bedacht, dass ihn niemand bemerkte, schlich er über die Flure und kam endlich zu der kleinen Treppe. Sie lag etwas versteckt und bis vor kurzem hatte er darauf gezählt, dass niemand sie mehr benutzen würde. Immerhin führte sie nur zu den alten, kleinen Verließen tief unter dem Palast, die längst nicht mehr in Betrieb waren. In Friedenszeiten gab es kaum einen Gefangenen, und wenn dies doch der fall war, so wurde er in den neueren Gefängnissen untergebracht.

Diese alten Räume, in die er jetzt hinunter stieg, waren der tiefste Punkt des Palastes und wahrscheinlich ganz Düsterwaldes; sie lagen einige hundert Meter unter der Erdoberfläche. Die lange Wendeltreppe machte den Gang nach unten beschwerlich und verursachte ein leichtes Schwindelgefühl, doch er ließ sich davon nicht beirren.

Gestern hatte er beobachtet, wie dieses Mädchen hier heruntergestiegen war und nun konnte er nur hoffen, dass sie sich nicht genauer umgesehen hatte. Für andere mochte dieser Ort ungastlich wirken, doch für ihn hatte er etwas vertrautes, heimeliges. Er lachte leise auf. Ein Heim hatte er schon lange nicht mehr und er brauchte auch keines. Alles, was er gebraucht hatte war sein Schatz gewesen und sie hatten ihn vernichtet. Fünf Jahre hatte er gebraucht, um sich so weit zu erholen, dass er diesen neuen Plan schmieden und bis zum jetzigen Punkt erfolgreich in die Tat umsetzen konnte. Im Moment war es das Wichtigste dafür zu sorgen, dass dieses Mädchen in nicht vereitelte. Er hatte Rache geschworen, und er würde sie üben, ganz egal, was der Preis dafür war. Er verabscheute sein Leben, das man kaum so nennen konnte. Er war nur noch ein Wrack, ein Schatten seiner selbst, und dessen war er sich auch vollkommen bewusst. Sie hatten ihm alles genommen, das sein Leben lebenswert gemacht hatte, und nun würde er ihnen alles nehmen, was sie hatten. Er würde ihnen das Kostbarste nehmen, das sie besaßen: Ihr irdisches Leben. Er würde sie auf ewig in die Dunkelheit verbannen und sich daran laben, wie ihre gequälten Seelen um Erbarmen flehten und ihre Schmerzensschreie würden ihn in den Schlaf wiegen…

Bei diesem Gedanken fühlte er eine befriedigende Erregung in sich aufsteigen. Oh ja, er würde es schaffen und er würde jeden aus dem Weg räumen, der ihn stoppen wollte. Vielleicht würde er niemals wieder so glücklich werden, wie sein Schatz ihn gemacht hatte, doch er würde dafür sorgen, dass auch niemand anderes es war.

Als er die letzte Stufe erreichte und den kleinen Durchgang passierte, hatte sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausgebreitet, das in der Dunkelheit unterging.

Unruhig warf sich Rowenna hin und her, was ihr einige besorgte Blicke von Legolas einbrachte, der am Fenster saß und in einem Buch blätterte, das er sich aus der Bibliothek mitgebracht hatte.

Seit fast einer Stunde lag sie jetzt schon auf ihrem Bett und versuchte, sich zu entspannen. Sie war fast zu erschöpft, um wieder aufzustehen, doch der Schlaf wollte sich trotzdem nicht recht einstellen. Die Decke rutschte an einer Seite halb herunter und Legolas stand auf, um sie wieder richtig auszubreiten. „Danke", murmelte Rowenna leise und kuschelte sich tiefer in die Kissen. „Hoffentlich wirst du nicht krank", meinte Legolas besorgt und setzte sich auf die Bett kante. Vorsichtig strich er ihr eine Strähne ihres Haares aus der Stirn und ließ dann seine Hand auf ihrem Kopf ruhen.

Rowenna fühlte sich wirklich, als hätte sie die Grippe; sie war müde und fühlte sich so krank wie sonst meistens nur im tiefsten Winter. Dann bemerkte sie Legolas' Hand auf ihrem Gesicht und lächelte mit geschlossenen Augen. Wie hatte sie ihn auch nur einen Moment lang verdächtigen können? Ständig war er besorgt um sie und kümmerte sich so liebevoll um sie…

Sie Hand blieb liegen und ein angenehmes Gefühl der Wärme durchfuhr ihren Körper. Sie fühlte sich schon viel besser, auch wenn sie wusste, dass das nur Einbildung sein konnte. Drei Minuten später fühlte sie sich so wach, als hätte sie mindestens zehn Stunden geschlafen. Verwundert schlug sie die Augen auf.

„Was machst du da?", fragte sie argwöhnisch.

„Wieso fragst du das? Ich sitze einfach nur hier, wie du siehst."

„Aber du tust irgendetwas… was hast du denn da?" Sie schaute zu dem kleinen leuchtenden Gegenstand, den er in der freien Hand hielt.

„Nur deine Kette, sie lag hier auf dem Tisch." Er ließ das funkelnde Schmuckstück vor ihrer Nase hin- und herbaumeln und schloss es dann wieder in seiner Hand ein.

„Gib mal bitte", bat sie und nahm die Kette, als er sie ihr bereitwillig hinhielt. Sofort wurde der Energiefluss, den sie schon die ganze Zeit schwach gespürt hatte, stärker. Also ist diese Kraft von der Kette durch Legolas auf mich übertragen worden, schloss sie daraus. Aber wie kann solch eine Macht von so einem kleinen Gegenstand ausgehen? Das ist ja schon fast unheimlich.

Schwungvoll schlug Rowenna die Decke zurück, denn ihr wurde plötzlich warm. Sie legte die Kette um und ließ Legolas den Verschluss zumachen. „Wir müssen weiter versuchen, etwas herauszufinden", sagte sie, als er fertig war. Mit einem Mal konnte sie gar nicht mehr verstehen, dass sie sich eben noch hatte ausruhen wollen.

„Es muss irgendetwas mit diesem Buch zu tun haben", meinte sie nach einer Weile des Schweigens. „Es geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Sieben. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Wovon gibt es denn sieben, sieben Zwerge?", sinnierte sie leise vor sich hin.

„Sieben Zwerge?", hakte Legolas verwundert nach. „Es gibt weit mehr als sieben Zwerge, auch wenn ich mich mit den genauen Zahlen nicht auskenne."

„Das ist nur ein Märchen aus meiner Kindheit, aber hiermit hat es nichts zu tun. Ich denke nur laut nach, und das könntest du auch mal tun. Sieben was?"

Noch bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, klopfte es.

Legolas wollte öffnen, doch Rowenna hinderte ihn daran und legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Ich bin nicht da", flüsterte sie. „Wenn wir jetzt wieder gestört werden, kommen wir nie zu irgendetwas."

Legolas nickte und bewegte sich auf gewohnt leisen Sohlen zum Fenster. Unwillkürlich musste Rowenna daran denken, was wohl passierte, wenn man einem Elben ein Glöckchen an den Fuß band. Konnte er sich trotzdem noch genauso lautlos bewegen? Sie bezweifelte es, hätte es aber trotzdem gerne einmal ausprobiert.

Es klopfte noch einmal, und als sie wieder keine Reaktion zeigten, öffnete sich nach einem Moment die Tür. Eine Gestalt schlüpfte hastig herein und schloss schnell die Tür hinter sich, noch bevor sie merkte, dass sie nicht allein war.

„Aragorn!", rief Legolas erstaunt aus. „Was tust du hier?"

Verlegenheit breitete sich auf dem Gesicht des ehemaligen Waldläufers aus und er geriet in Erklärungsnot. „Ich… äh…"

„…wollte nur das Zimmer ausspionieren und nach Hexenutensilien suchen", vollendete Rowenna den Satz und trieb ihrem Gegenüber damit die Schamesröte ins Gesicht.

„Ich… es ist nur…", versuchte er sich zu rechtfertigen, wurde jedoch sofort unterbrochen.

„Ist schon okay", resignierte Rowenna und warf mit einer gleichgültigen Geste die Arme in die Luft. „Ich weiß mittlerweile, dass niemand mir traut, egal, was ich tue. Ich bin aber auch außergewöhnlich verdächtig", fügte sie zynisch hinzu und begann an ihren Fingern abzuzählen: „Ich tauche hier ohne Vergangenheit auf." Sie tippte zuerst mit der rechten Hand an ihren linken Zeigefinger und ging dann zum Mittelfinger über. „Ich habe seltsame Kräfte, die allen irgendwie Angst einjagen." Wieder sprang sie zum nächsten Finger. „Und durch diese Kräfte bin ich stärker als ein normaler Kämpfer und damit auch als Ihr…" Sie sprach die förmliche Anrede bewusst respektlos aus und musterte aufmerksam das Gesicht Aragorns.

Ein winziges, kaum wahrnehmbares Funkeln tauchte kurz in dessen Augen auf und verschwand sofort wieder. Doch Rowenna war es nicht entgangen, auch wenn sie nicht über die scharfen Augen der Elben verfügte. Das war es, was sie hatte erreichen wollen. Sie wusste nicht genau, warum, doch auf irgendeine Weise wollte sie ihn auf die Probe stellen. Mutig ging sie noch einen Schritt auf ihn zu. Sie wartete auf etwas, doch erst als es eintrat wusste sie, was es war: Das mittlerweile gut bekannte Aufflackern eines fremden Geistes in ihrem Kopf. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten mehr, ihm zu folgen, ihren Körper zu verlassen, um sich in dem fremden des Feindes wieder zu finden. Auch an dieses Gefühl hatte sie sich zwar noch nicht ganz gewöhnt, doch es bereitete ihr auch keine Probleme mehr.

In diesem Moment, in diesen wenigen Sekunden, die kaum mehr waren als ein Atemzug, war ihr alles egal. Sie hatte so hart gekämpft und so vieles erlitten, jetzt wollte sie nichts anderes, als den dafür Verantwortlichen zu finden. Alles geschah aus Reflexen heraus; sie brauchte nicht einen Wimpernschlag lang nachzudenken. Ihr Körper hatte die neuen Kräfte vollkommen aufgenommen und akzeptiert und konnte sie fast schon ohne das Zutun ihres Geistes richtig einsetzen.

In dieser Trance fühlte sie auch keine Verwunderung mehr, als sie das Zimmer erneut durch die Augen eines anderen sah. Irgendwo hatte sie schon mit allem gerechnet, was wahrscheinlich oder auch fast unmöglich war. Auf eine seltsame Weise hatte sie alles gewusst und konnte so fast wie eine Maschine funktionieren.

Sie sah Legolas in der Nähe des Fensters und aus den Augenwinkeln sich selbst. Sie hörte den dumpfen Aufschlag, als ihr Körper den Boden erreichte, denn die nun leere Hülle konnte sich allein nicht aufrecht halten. Legolas stürzte herbei, ging neben ihr auf die Knie und fühlte besorgt ihren Puls. Plötzlich hielt er inne und drehte sich langsam um. Einen Augenblick lang hatte Rowenna schon die absurde Befürchtung gehabt, er hätte keinen Puls mehr gespürt. Aber wie absurd war das wirklich? Konnte es tatsächlich geschehen, dass ihr Körper starb, während sie nicht in ihm war?

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie Legolas' Blick begegnete, der sie erkennen ließ, welcher Gedanke den Prinzen jetzt aufstehen und langsam näher kommen ließ.

Seine Augen versprühten die verschiedensten Emotionen, doch dann waren sie alle wieder verschwunden und klare blaue Augen blickten sie starr an, als wäre nur ein lästiger Schleier von ihnen gezogen worden.

„Ich will die Wahrheit hören", verlangte er mit angespannter Miene. „Was hast du mit dieser Sache zu tun? Antworte!" Er hob seine Stimme und kann bedrohlich näher. Zum ersten Mal sah Rowenna Legolas als Krieger, mit den entschlossenen Falten um den Mundwinkeln und der angespannten Körperhaltung eines Tigers, der zum Sprung ansetzt. Nichts deutete mehr darauf hin, wie er noch vor wenigen Tagen mit ihr gelacht – oder wie er sie geküsst hatte.

Wieder drifteten Rowennas Gedanken ab und sie zwang sich energisch, sie wieder zu sammeln. Sie musste etwas tun, doch was? Vielleicht sollte sie wieder in ihren eigenen Körper zurückkehren; dort hatte sie immerhin aktive Kräfte.

Du hättest beinahe alles zerstört, aber du wirst mich nicht aufhalten!

Erschrocken hielt Rowenna inne. Sie wollte gerade versuchen, sich wieder zurückzuziehen, immerhin hatte sie nun ihr vorläufiges Ziel erreicht: Sie wusste, dass Aragorn der Spion war. Auch wenn sie nichts über seine genaue Rolle wusste, so hatte sie doch im Augenblick hier nichts mehr zu tun.

Doch dann zuckte ihr dieser Gedanken durch den Kopf. Nein, es ist ja gar nicht mein Kopf. Und es ist auch nicht mein Gedanke. Aber wenn ich seine Gedanken lesen kann… kann ich sie dann auch lenken

Doch noch bevor sie von ihrer neuen Entdeckung profitieren konnte, spürte sie wieder eine Veränderung. Etwas spannte sich an, schien sich bereit zu machen, aufzuladen. Bilder des leblosen Dienstmädchens zogen an ihr vorbei. Hatte sie damals nicht auch so ähnlich gespürt, bevor dieser Blitz sie getötet hatte? Legolas stand etwa einen Meter entfernt von ihr – oder eher, von ihm. Sie musste etwas tun. Legolas hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr er sich befand. Trotz der ernsten Situation kam Rowenna nicht umhin daran zu denken, dass der Prinz schon einige Male falsch gelegen hatte und sie musste sich unwillkürlich fragen, wie er wohl zu einem solch legendären Ruf als Krieger gekommen war. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie sich auf dem Boden liegend wieder fand, Aragorn und Legolas nur wenige Meter von ihr entfernt. Schon nahm sie das verräterische blaue Glitzern, das den tödlichen Blitz ankündigte, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie war hektisch, dass sie noch nicht vollständig in ihrem Körper war; nie zuvor war sie so schnell zurückgekehrt. Sie konnte nicht einmal die Augen schließen, als Aragorn die Hand hob und –

- mit einem Stöhnen auf die Knie sank. Verwirrt starrte Rowenna auf den am Boden liegenden König und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ebenso schien es Legolas zu ergehen, doch er fasste sich schneller wieder und sprang auf seinen „Freund" zu, um dessen Arme auf den Rücken zu drehen und ihn somit wehrlos machte.

„Was…", murmelte Rowenna fassungslos; alles lief viel zu schnell vor ihren Augen ab, als dass sie es hätte verstehen können.

Dann sah sie zu ihrer Verwunderung Nûemyn in der Tür stehen, den Besen noch über ihrem Kopf erhoben, bereit ihn noch einmal einzusetzen, falls das nötig sein sollte.

Noch immer verwirrt schaffte sie es, sich einigermaßen aufzurappeln und wieder in die vertikale zu gelangen, doch ihr war noch immer schwindelig.

Schon stürmten zwei Wachen herbei, die wohl den Lärm gehört haben mussten und staunten nicht schlecht, als sie den König von Gondor am Boden liegen sahen, zudem noch mit Legolas über sich. Dieser gab auf Sindarin ein paar knappe Befehle und sorgte so dafür, dass Aragorn, der bedrohlich schwankte, abgeführt wurde und schließlich wieder Ruhe einkehrte, die bedrohlich in Rowennas Ohren rauschte. Nûemyn schaute noch kurz nach ihr und verließ dann mit den anderen das Zimmer, den Stiel ihres Besens noch immer fest umklammert. Fast schien es als wollte sie dafür sorgen, dass die Soldaten ihre Arbeit auch richtig erledigten und ihnen kein Fehler unterlief.

Rowenna stand am Fenster und sah hinaus. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und hatte schon vor mehreren Stunden auch die letzten Sonnenstrahlen vollends verschluckt. Nur der Mond und vereinzelte Sterne erhellten den dunklen Himmel und sorgten dafür, dass der Wald vor ihrem Fenster in Schatten versank. Immer wieder sah sie die Szene vor ihren Augen und wieder fühlte sie sich hilflos und ohnmächtig. Sie hatte nutzlos dagelegen, nicht in der Lage, schnell genug einzugreifen. Hatte sie alle ihre Kräfte überschätzt? Vielleicht.

Nûemyn war in der letzten Sekunde gekommen; einen weiteren Atemzug und es wäre vermutlich schon zu spät gewesen.

Sie konnte es immer noch nicht ganz begreifen. Bis jetzt war alles immer so unwirklich gewesen, doch je mehr sie begriff und je mehr sie erlernte, desto grausamer und realer wurde es für sie. Anfangs hatte sie sich noch einbilden können, sie würde nur träumen und bald aufwachen, doch nun war es nicht mehr so einfach.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es war Legolas, der vorsichtig seinen Kopf durch die Tür steckte. Als er sie am Fenster stehen sah, trat er ein.

„Ich dachte, du würdest schon schlafen und wollte kurz nach dir sehen", sagte er leise und kam näher.

„Ich kann nicht schlafen", erwiderte sie und schlang die Armen um ihren Oberkörper. Sie trug nur ein Nachthemd und darüber einen seidenen Morgenmantel; sie hatte bis jetzt nicht bemerkt, wie kalt es eigentlich war.

„Du solltest wieder ins Bett gehen und dich zudecken. Es nützt uns nichts, wenn du dich erkältest."

„Danke für den Rat, Mama", gab sie ironisch zurück und lächelte ein wenig. Sie sah wieder aus dem Fenster. Alles war so still und schien so friedlich; nur eine Fassade, die letzte Ruhe vor dem Sturm.

„Was habt ihr mit ihm gemacht?", fragte sie schließlich nach einer Weile.

„Vorerst wird er im Verließ von mehreren Mann bewacht, bis wir mehr herausgefunden haben. Wenn das an die Öffentlichkeit kommt… Ich will gar nicht daran denken, was dann passiert."

„Kann ich zu ihm?"

Erstaunt schaute Legolas auf. „Was glaubst du, erreichst du damit? Ich weiß nicht, ob es so…"

„Lass uns gehen", forderte Rowenna und unterbrach damit seinen Satz. „Wir können es doch nicht einfach auf sich beruhen lassen und abwarten, bis wieder etwas passiert", fügte sie hinzu, als sie Legolas' Zögern bemerkte.

„Na gut, aber…"

Doch schon war Rowenna an der Tür, kehrte noch einmal um, um ihre Pantoffeln anzuziehen und stürmte dann auf den Gang. Er bemühte sich, sie einzuholen, als sie zielstrebig den Weg zu den alten Verließen einschlug, in die sie schon einmal versehentlich gelangt war.

„Warte!", rief er so leise wie möglich, da er niemanden aufwecken wollte. „Er ist nicht im alten, sondern im neuen Verließ. Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass das alte schon lange nicht mehr genutzt wird."

„Und wo ist das neue?"

Rowenna wurde immer ungeduldiger, denn wieder drängte sie etwas, das sie nicht beschreiben konnte und sie wusste nicht, wie lange das noch anhalten würde. Vielleicht würde sie schon in einer Minute wieder ratlos dastehen und keinen Schritt weiterwissen, und bevor das geschah, wollte sie wenigstens etwas erreicht haben.

Sie marschierte ein Stück hinter Legolas her und war froh, als sie endlich den Eingang der Verließe erreichten. Auch diese lagen weit unter dem Palast und konnten nur über schmale Wendeltreppen erreicht werden, doch mit der Tiefe der Alten waren sie nicht vergleichbar.

Unten angekommen erkannte Rowenna im Schein mehrerer Fackeln, dass der Gang hier viel breiter war und sich mehr Zellen aneinander reihten. Am Ende machte der Gang eine Biegung, wo er vermutlich zu weiteren Räumen führte. Vier Wachen standen an der Wand gelehnt oder saßen auf in den Stein gehauenen Mauervorsprüngen, doch alle stellten sich sofort gerade auf und verbeugten sich kurz, als sie die Anwesenheit ihres Prinzen bemerkten.

Man ließ die beiden Neuankömmlinge sofort durch und Rowenna konnte Aragorn sehen, der in einer der kleinen Zellen an die Wand gepresst auf dreckigem Stroh saß und sie blicklos anstarrte. Erschrocken von seinem Zustand blieb sie stehen und versuchte, in den weit geöffneten Augen etwas erkennen zu können.

„Lasst und einen Moment alleine", forderte sie leise von Legolas, der neben sie getreten war.

„Rowenna, das geht nun wirklich nicht. Wir wissen noch nicht genug, um dich in solch eine Gefahr…"

„Tu einfach, was ich sage und lass uns alleine. Ich weiß schon, was ich tue." Zumindest noch, fügte sie still in Gedanken hinzu. Wer weiß, wie lange das noch anhält.

Irgendetwas musste in ihrer Stimme gewesen sein, dass ihn wenigstens ansatzweise überzeugte. Er komplimentierte die Wachen zur Treppe und warf noch einen besorgten Blick zurück, bevor er ihnen folgte. „Aber du öffnest auf gar keinen Fall die Zelle, egal, was passiert", sagte er noch, bevor er verschwand. Rowenna nickte und wartete, bis die sich entfernenden Stimmen leiser geworden waren, bevor sie den großen Eisenschlüssel vom Haken nahm und genau das tat, was Legolas ihr gerade eben verboten hatte. Das harte Stroh piekte sie sogar durch ihre Schuhe hindurch und sie hoffte, dass sie niemals als Gefangene in solch einem Loch landen würde.

Zögerlich kniete sie sich vor dem zusammengekauerten Aragorn hin, der in dieser Situation wenig königlich erschien. Er sah eher verloren und verwirrt aus, seine Augen irrten umher und schienen sich auf keinen festen Punkt mehr konzentrieren zu können.

Rowenna versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen, um durch seine Augen mehr über sein Inneres zu erfahren. Sie wusste, dass sie sich nicht in Gefahr befand, auch wenn sie dafür wie für so vieles andere keine Erklärung hatte.

Endlich sah er ihr, wenn auch zögerlich und unruhig, in die Augen. Er wirkte wie eine verängstigte Maus, die auf eine sich nähernde Katze starrt und keinen Ausweg mehr findet.

Fast bedächtig langsam legte Rowenna eine Hand auf die Schulter des Königs, wo ihre Finger die Reste einer zerrissenen Tunika und darunter aufgescheuerte Haut zu spüren bekamen. Auf diese Weise versuchte sie, eine zusätzliche Verbindung aufzubauen.

So bewegungslos verharrte sie einige Minuten und bemerkte gar nicht, wie sich ihr Körper immer mehr verkrampfte und versteifte. Sie wandte ihren Blick nicht für den Bruchteil einer Sekunde ab und endlich schaffte sie es, eine Brücke zwischen ihrem und seinem Bewusstsein zu schlagen.

Zu ihrer anfänglich Verwunderung sah sie fast gar nichts. Sie war in seinem Kopf, doch er war so gut wie leer, wie ein ungeschützter Landstrich nach einem Orkan. Doch nach und nach verstand sie, dass der Geist, das, was diesen Menschen einmal ausgemacht hatte, nicht verschwunden, sondern nur verdrängt worden war. Fast körperlich konnte sie die Barriere spüren, hinter der die Seele eingesperrt war, die sie alleine nicht durchbrechen konnte.

Rowenna mobilisierte all ihre Kräfte, um diese Mauer zu zerstören. Sie war natürlich nicht materiell, doch beinahe war es, als müsse sie Händen und Füßen arbeiten, um ihr Ziel zu erreichen. Jeder andere Gedanke verschwand für dieses Augenblick und sie spürte und sah es, dass sie es schaffte. Die vorherige Stille wurde wieder mit Gedanken durchflutet und durch die ehemals trüben Augen konnte sie sich selbst sehen, ihre eingefrorenen Gesichtszüge und ihre starren Augen. Durch diese Verbindung fiel es ihr nicht mehr schwer, wieder in ihrem eigenen Körper zurückzukehren.

Das alles schien Stunden gedauert zu haben, doch in Wirklichkeit waren es nur wenige Minuten gewesen. Rowenna fühlte sich schwach und ausgelaugt, doch der wiederkehrende Glanz in den Augen ihres Gegenübers entschädigten sie dafür. Sie schaffte es nicht mehr, aufzustehen, und so ließ sie sich einfach nach hinten fallen; das Stroh stach durch den dünnen Stoff ihres Morgenmantels in ihren Rücken, doch es war ihr egal.

Kurze Zeit später kam Legolas erneut die Treppe herunter, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Als er sie in der Zelle auf dem Boden liegen sah erschrak er und stürzte herbei, doch er bemerkte schnell, dass sie nur müde war und es ihr sonst gut ging. Mit ihrer letzten Kraft versuchte sie ihm zu erklären, dass alles gut und sie in Sicherheit war, bevor ihr mitten im Satz die Augen zufielen. So bekam sie auch nicht mehr mit, wie er sie vom Boden aufhob und zurück zu ihrem Zimmer trug.

Wütend lief er zum bald hundertsten Mal hintereinander an derselben Stelle vorbei. Wie hatte so etwas nur passieren können? Es war nicht zu glauben, dass es ihm nicht möglich gewesen war, den Prinzen zu töten, und dass er davon ausgerechnet von einer Dienstmagd mit einem Besen abgehalten worden war, das war regelrecht eine Blamage. Zwar war sein großes Ziel noch nicht verloren, doch nun hatte er nicht mehr viel Zeit, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Dieses Mädchen hatte den Geist des törichten Menschen wieder freigesetzt, nachdem er sie so geschickt verbannt hatte. Es war aber auch ärgerlich, dass sie ihm immer dazwischenfunkte. Vielleicht wäre es das Beste, zuerst sie auszulöschen, bevor sie weiteren Schaden anrichten konnte. Und möglichst auch, bevor dieser König etwas ausplaudern konnte, das ihn gefährden könnte.

Er lief noch eine Runde vor dem Kamin hin und her und blieb dann nachdenklich stehen. Er musste sofort handeln, und er hatte nicht vor, noch mehr Zeit zu verschwenden.