Kapitel 17 - Der Anfang vom Ende

"Würdest du mir jetzt bitte einmal verraten, was wir hier tun?", fragte Elrohir nun schon zum wiederholten Male. Langsam wurde ihm wirklich alles zu viel! Zuerst die Sache mit Rowenna, dann die seltsamen Anweisungen von dieser Dienstbotin. Er wusste gar nicht, warum er überhaupt auf sie hörte. Doch natürlich tat er das, immerhin war sie bei Legolas gewesen, doch der benahm sich genauso seltsam. Er schien ein bestimmtes Ziel zu haben, und so folgte Elrohir ihm einfach, verwirrt und verärgert.

"Sei einfach still und tu, was man dir sagt!", schimpfte Legolas sofort und beschleunigte seinen Schritt noch ein wenig. Schließlich waren sie am Ende des Flures angekommen und standen vor einer der vielen verschlossenen Türen, die in die jeweiligen Gästezimmer führten. Beinahe wäre Elrohir in den plötzlich abbremsenden Legolas hineingelaufen, konnte sich jedoch kurz vorher noch fangen. "Und nun?", fragte er und bemühte sich, seinen Ärger nicht durchschimmern zu lassen. Da er ein Elb war, gelang es ihm natürlich perfekt, doch Legolas war nun ebenfalls ein Elb und hörte es trotzdem. "Wenn du mich nicht ständig mit deinen völlig sinnlosen Fragen nerven würdest, dann hättest du schon einige Antworten bekommen", meinte er ungehalten und fixierte die Tür mit zusammengekniffenen Augen. "Wir müssen da rein", erklärte er dann, ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu rühren.

"Und warum stehen wir dann noch hier?", wagte Elrohir zu fragen, was er sofort wieder bereute, als nun er das Ziel von Legolas' Blick wurde. "Ich frage ja nur", beschwichtigte er ihn sofort. "Also was tun wir als nächstes?" Er versuchte, seiner Stimme einen optimistischen Klang zu geben, was jedoch ein wenig misslang.

"Du öffnest", bestimmte Legolas und trat nun doch ein Stück zur Seite, um dem anderen Elben Platz du machen. Dieser wollte schon etwas erwidern, verschluckte es aber, als er erneut Legolas' Blick begegnete. Allmählich begann er zu begreifen, was Nûemyn mit 'mach ihn unter keinen Umständen wütend' gemeint hatte. ER wusste zwar nicht, was los war, aber er musste etwas tun. Also ging er zögernd auf die Tür zu, einen Schritt nach dem anderen, und blickte sich zögernd um. Irgendetwas gefährliches musste dahinter sein, wenn Legolas so ein Aufhebens um sie machte, und fast sah er sich schon in den Fängen eines schleimigen, grünen Ungeheuers, das ihn mir seinen acht Armen umschlungen hielt und ihm die Luft aus den Lungen presste.

Doch dann stoppte er plötzlich. Irgendetwas ließ ihn zögern, und es war nicht die Angst vor dem, was hinter der Tür lauern mochte. Er konnte es nicht beschreiben, aber es war ihm unmöglich, diesen Türknauf zu berühren.

"Was ist?", fragte Legolas hinter ihm ungeduldig.

"Ich...Ich weiß nicht", stotterte Elrohir, nun noch verwirrter als zuvor. "Ich kann es nicht... irgendwie." Er schämte sich. War er nicht einmal in der Lage, eine simple Tür zu öffnen? Das konnte doch nicht alles sein. Er hatte schon einige Schlachten geschlagen und auch im Ringkrieg gekämpft, aber nun spürte eine seltsame Furcht, die ihn lähmte und von jedem Denken oder Handeln abhielt.

"Sehr verdächtig, nicht wahr?", meinte Legolas, machte jedoch keine Anstalten, es selbst zu versuchen.

"Und nun?", erkundigte sich Elrohir und stellte fest, dass seine Stimme zitterte. Schnell brachte er einen Abstand von einigen Schritten zwischen sich und die Tür, und gleich darauf fühlte er sich schon besser.

Eine Pause stillen Schweigens entstand, und ihre gemeinsame Ratlosigkeit schwebte fast greifbar über ihnen zwischen den hohen Wänden des Ganges. Doch plötzlich wurde diese Stille von schnellen Schritten unterbrochen, die durch den Flur hallten und rasch näher kamen. Schon wenige Augenblicke später erschien Nûemyn und kurz darauf Rowenna an der Biegung, die der Gang kurz vor Ende noch einmal machte. "Wir kommen", rief Nûemyn unnötigerweise, da sie nicht viel schlechter zu hören gewesen waren ein eine Horde Olifanten. Rowenna humpelte einige Schritte hinter ihr her und hielt dabeit ihr verrutschtes Kleid mit beiden Händen an Ort und Stelle. Anscheinend hatten die beiden Frauen nicht mehr die Zeit gehabt, die Schnüre wieder ordnungsgemäß zu verknoten, sondern waren auf direktem Wege hierher geeilt.

"Na endlich", seufzte Legolas erleichtert auf, obwohl die Zeit wohl für Elrohir schlimmer gewesen war. Als Rowennna näher kam, wich sie den beiden Elben kontinuirlich aus und hielt auch die Augen gesenkt. Sie ging schnurstracks auf die Tür zu und streckte die Hand danach aus. "Ich habe ihr ein Paar Schuhe von Euch gegeben", wandte sich Nûemyn an Elrohir. "Sie sind ihr zwar ein wenig zu groß, aber die Fußbodenheizung lässt hier doch sehr zu wünschen übrig und da dachte ich mir, die sind besser als gar keine." Der Elb nickte geistesabwesen und sah gebannt zur Tür hin. Einen Moment lang hatte er wieder die Vision von dem grünen Monster vor sich, doch dann schob er sie beiseite und atmete einmal tief durch, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen.

Rowenna fühlte sich, als hätte sie mindestens seit einer Woche nicht geschlafen, hätte genauso lange nichts gegessen oder getrunken und wäre dann mehrere Stunden lang Achterbahn gefahren. Ihr Kopf war einigermaßen leer, doch die Erinnerungen, die sie hatte, trugen nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Nûemyn hatte ihr gesagt, dass sie diese Tür öffnen musste, doch sie verstand das Problem nicht. Es war eine ganz nomale Tür, der gleich, die in ihr eigenes Zimmer führte. Zwar hatte sie einige Zweifel, schließlich musste ja nicht ausgerechnet sie kommen, nur um eine Tür zu öffnen. Doch bevor sie noch weiter grübeln konnte trat sie einfach vor, streckte ihre Rechte nach dem Knauf aus und...

...drehte ihn herum. Die Tür sprang auf und offenbahrte ein normal aussehendes Zimmer, das mit ähnlichen, aus dunklem Holz gefertigten Möbeln bestückt war wie auch sämtliche andere. Es war ein wenig kleiner als Rowennas Zimmer, doch ansonsten fast identisch: der Fußboden war steinern, wurde jedoch größtenteils von einem kunstvollen, wie die Möbel in dunklen Tönen gehaltenen Teppich bedeckt, der zu zwei Seiten in hellen Fransen endete. An der linken Wand stand ein Himmelbett mit zurückgebundenen, grüngemusterten Gardinen, die aus dem gleichen Stoff waren wie die an den hohen Fenstern. Gegenüber dem Bett stand an der anderen Wand ein wertvoll aussehender Sekretär, auf dem das pure Chaos herrschte. Bücher und lose Blätter lgen dort ohne den Hauch einer Ordnung wirr durcheinander, der Stuhl davor war verschoben und auch auf ihm stapelte sich das Papier. Niemand hielt sich in dem Zimmer auf, und auch das angrenzende Badezimmer schien leer zu sein, soweit das durch die halb offene Tür zu erkennen war.

Nûemyn fasste sich als Erste wieder. "Seht ihr, war doch gar nicht so schwer", meinte sie und trat ein. Die anderen folgten ihr zögernd, zuerst Legolas, dann Rowenna. Elrohir folgte einen Moment später, nachdem er sich noch einmal überzeugt hatte, dass wirklich nichts auf ihn lauerte, und setzte erst dann seinen Fuß üder die Schwelle. Eine Weile herrschte Schweigen, da niemand so genau wusste, was sie als nächstes tun sollten. "Und nun?", war es schließlich wieder einmal Nûemyn, die die Gedanken aller aussprach. Rowenna trat an den Schreibtisch und sah sich die darauf liegenden Dokumente genauer an, doch sie konnte die Schrift auf ihnen nicht lesen. Zögernd nahm sie eines in die Hand und betrachtete es genauer, doch es wollte sich ihr einfach keine Lösung offenbaren. Schließlich ging sie zu Nûemyn und zeigte ihr das Blatt, dass sie gerade in der Hand hielt und fragte: "Was steht da? Ich nehme an, das ist Elbisch oder so?" Nûemyn runzelte die Stirn. "Die Schrift sieht so ähnlich aus, aber ich kann es auch nicht lesen. Legolas?", rief sie. "Schaut Euch das doch mal an. Welche Sprache ist das wohl?" Während dieser sich damit beschäftigte, wühlte sich Rowenna schon weiter durch alles, was sie auf dem Tisch fand. Sie legte sämtliche losen Blätter zu einem ordentlichen Stapel zusammen, sodass sie auch an die Bücher kam, die weiter unten lagen. Doch alles war in der gleichen Schrift geschrieben; sie konnte sich nur ausmlen, was dort wohl stand. Doch dann stieß sie auf etwas, das sie zuerst ebenso wie die anderen Dinge auf einen Stapel legen wollte: ein gut erhaltenes Buch, dem man aber auch seine vielen Jahre ansah. Es besaß einen schwarzen Einband mit geschwungenen Zeichen auf dem Rücken.

Es war das Buch, das in der Bibliothek gefehlt hatte, als sie mit Legolas dort gewesen war.

Er befand sich auf einem Kontrollgang. Er wusste, dass es icht nötig war, doch er weidete sich an den Früchten seiner Taten. Endlich, nach so langer Zeit war es so weit. Seine Schritte hallten in den verlassenen Gängen und er gab sich keine Mühe, unauffällig zu sein. Viel zu lange hatte er sich verstecken müssen. Doch bald würde er wieder aufsteigen, bald konnte er wieder erhobenen Hauptes sein Reich regieren, ein noch größeres, als er jemals besessen hatte.

Je weiter er ging, desto lauter drangen Stimmen und andere Geräusche an sein Ohr. Er näherte sich dem Thronsaal, bis er schließlich vor der weit geöffneten Tür stehen blieb. Das Geschrei der Leute erregte ihn, er liebte es sich vorzustellen, wie sie vor Schmerz schrieen, wenn sie ihre gerechte Rache erhielten. Und er würde keine Gnade walten lassen, dessen war er sich sicher. Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, an der Schwerter und Degen als Dekoration aufgehängt waren. Doch trotzdem waren sie nicht minderwertig, ihre Schneiden waren geschärft und glänztem im Licht. Was konnte er alleine mit diesen Waffen schon alles tun... Vielleicht sollte er sich schon einen kleinen Spaß gönnen. Eines der Schwerter von der Wand nehmen und im Fleisch eines verwichlichten alten Elben versenken. Zusehen, wie er schließlich in seinem eigenen Blut zusammenbrach, das aus mehreren tiefen und weniger tiefen Wunden auf den Boden getropft war. Der Gedanke ließ ihn erzittern. Doch er durfte nicht voreilig sein, durfte sich keinen Fehler erlauben. So lange hatte er gearbeitet, viel zu lange hatte er jegliches Vergnügen entbehren müssen. Nun durfte er sich das alles nicht durch seine Gelüste verderben. Nach dieser Nacht könnte er tun und lassen, was ihm gefiel, doch bis es soweit war, musste er sich in Geduld üben.

Er hatte dem Geschehen im Saal lange genug zugesehen um zu wissen, dass hier alles nach Plan lief. Er konnte sich getrost abwenden und wieder einige Schritte weit in den Gang zurückgehen. Niemand hatte ihn bemerkt, jeder war zusehr mit sich selbst beschäftigt.

Vielleicht sollte er sich ein wenig ausruhen. Nur noch wenige Stunden, sagte er sich, bevor er durch eine der riesigen Türen nach draußen in den Park trat.

"Sieben", murmelte Rowenna und strich über den Einband des Buches. "Die sieben Sünden..."

Plötzlich stand Elrohir hinter ihr und sah ihr über die Schulter. "Ich dachte, Ihr könnte kein Elbisch", meinte er und deutete auf die Aufschrift.

"Nein", antwortete sie. "Legolas jat mir das einmal übersetzt."

"Aber wofür brauchtet Ihr ein schwarzes Buch? Wenn ich mich nicht irre stammt es aus dem verbotenen Teil der Bibliothek..."

"Das ist wahr, aber..."

Sie brach ab. Elrohir stand nah hinter ihr, um ihr über die Schulter sehen zu können. Sein Atem kitzelte sie im Nacken und sie roch seinen Duft. Einen Moment stand sie wie versteinert da, dann riss sie sich mit aller Kraft zusammen. "Geh weg", presste sie zwischen den Lippen hervor. "Geh irgendwo anders hin, aber komm nicht in meine Nähe."

Erschrocken wich der Elb zurück. "Was ist denn?", fragte er verwirrt, tat aber, was sie gesagt hatte. Rowenna zwang sich zu einem schiefen Grinsen. "Nur meine Sünde", erklärte sie. "Vorerst sollte mir kein männliches Wesen irgendeiner Art in den Weg kommen. Ich lasse Euch das Buch hier liegen, nehmt es Euch."

Sie legte das Buch zurück auf den Tisch und ging zu Nûemyn hinüber, die sich zusammen mir Legolas über eines der vielen Blätter gebeugt hatte. Sie zog ihre Freundin am Kleid zur Seite, um nicht zu sehr in Legolas' Nähe zu kommen, bevor sie sich erkundigte: "Habt ihr etwas herausgefunden?"

Doch die Elbin schüttelte bedauernd den Kopf. "Wir können diese Schrift nicht lesen. Hast du etwas entdeckt?"

"Mehr oder weniger. Sag Legolas, dass ich das Buch gefunden habe, das in der Bibliothek gefehlt hat. Ich glaube, ich kann hier vorerst sowieso nichts mehr ausrichten, also gehe ich lieber woanders hin und sehe mich mal um. Und außerdem kann ich keine Minute länger mit zwei Männern in einem Raum bleiben, ohne durchzudrehen", fügte sie erklärend hinzu. Bevor Nûemyn noch etwas sagen konnte, war sie schon aus der Tür.

Auf dem Gang musste sie erst einmal einige Male tief durchatmen. Sie zitterte vor Anspannung am ganzen Körper. Die ganze Zeit musste sie gegen inre immer wieder aufbrodelnden Gefühle ankämpfen. Es ist so seltsam, dachte sie, ich weiß, dass das nicht meine Gefühle sind. Und trotzdem sind sie viel schwerer zu beherrschen, als wenn sie es wären. Ich hoffe nur, dass ich es schaffe durchzuhalten, egal, wie lange es dauert. Sie ging ein paar Schritte, bevor ihre Beine endgültig nachgaben. Schnell setzte sie sich auf den Boden, bevor sie fallen konnte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Steinwand und spührte schnell, wie sich die Kälte durch ihre Kleidung fraß.

Sie wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte, wusste nicht, was als nächstes geschehen würde. Sie hasste dieses Gefühl, absolut keine Kontrolle zu haben. Vielleicht geschah gleich etwas - vielleicht auch sogar schon in diesem Moment, wovon sie nichts wusste - und sie konnte nichts tun als zuzusehen. Immer deutlicher fühlte sie, wie ihr alles aus den Händen glitt. Anfangs, als sie hierher gekommen war, war ihr nicht klar gewesen, wie sie enden würde. Alles war ihr ein wenig wie ein Spiel vorgekommen, trotz aller Achterbahnfahrten, die sie in dieser Zeit gefühlsmäßig durchmachen musste. Und nun musste sie sich plötzlich fragen, ob sie das hier überhaupt überleben würde - ob das überhaupt irgendjemand tun würde. Alles hatte mit einem Mal eine Ernsthaftigkeit, jede Geste, jeder Satz, den sie sagte oder gar nur dachte.

Und dann spürte sie etwas, das wohl in keinem Moment unpassender hätte sein können: sie hatte Hunger. Ihr magen machte sich deutlich bemerkbar, als wolle er sich über alle Strapatzen der letzten Stunden und Tage beschweren und entsprechende Entschädigungen einfordern. Rowennas erster Impuls war, ihn einfach zu ignorieren, doch das bohrende Gefühl des Hungers wurde immer stärker und ließ sie unruhig auf dem Boden hin und her rutschen. Also beschloss sie, kurz in der Küche vorbeizuschauen, sich etwas zu Essen zu holen und dann gleich dort weiter zu machen, wo sie aufgehört hatte. Was nicht besonders viel war, wie sie sich eingestehen musste. Seufzend richtete sie sich auf und machte sich auf den Weg. Sie begegnete niemandem, als sie schnell die Treppen in die unterste Etage herunterschlich. Sie war auch nicht besonders böse darüber und machte sich keine weiteren Gedanken. Auch die fast gespenstige Stille, wo sonst Stimmen und andere Geräusche des Lebens vorherrschten, fiel ihr gar nicht auf. So sehr konzentrierte sie sich, ihre Gefühle zu ordnen. Mit diesem Chaos in ihrem Kopf konnte sie unmöglich klar denken.

Als sie vor der Küche ankam, hielt sie inne. Endlich fiel ihr die Stille auf. Sonst schallte ihr, sobald sie auch nur in die Nähe der Küche kam, das Geklapper von Töpfen und das Geschnatter von Mägden und Köchinnen entgegen. Doch jetzt war da nur noch ein leerer Raum, es war, als hätte er seine Seele verloren. Die sonst warme Atmosphäre war einer anonymen Kälte gewichen. Töpfe waren umgekippt und lagen verstreut auf dem Fußboden, sodass Rowenna um sie herumlaufen musste. Gemüse war überall zerstreut, heruntergefallenene Äpfel waren zertreten und verteilten nun ihren faulig-süßen Geruch. Der herd war ausgegangen, nur die übrig gebliebene Asche schwelte noch ein wenig. Der kleine Nebenraum, in dem sie schon einige Male gesessen hatte, sah nicht viel anders aus. Stroh bedeckte fast den ganzen Boden, war aber an vielen Stellen auch zur Seite geschoben und legte den Anblick des nackten Bodens frei. Seine Farbe war dreckig von vielen Füßen, die darüber gehastet waren.

Rowenna fröstelte. Das war nicht mehr den Ort, den sie als die Küche des Palastes kennengelernt hatte. Aber wenn sie darüber nachdachte war nichts mehr so, wie sie es kannte. Eine kalte Wut stieg in ihr auf. Wer wagte es, so über alles zu bestimmen? Er wollte Krieg? Nun gut, den konnte er bekommen.

Es herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Legolas brütete noch immer über dem gleichen Blatt, Nûemyn huschte geschäftig hin und her und versuchte, sich irgendwie nützlich zu machen und die anderen mit Sprüchen aufzuheutern, und Elrohir stand am Fenster und starrte hinaus. Noch immer hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihn in alles einzuweihen und so konnte er auch nichts tun. Das Klügste war da noch, entscheid er, nicht im Weg herumzustehen.

"Das ist Dûredmór!", unterbrach schließlich Legolas die Stille. "Ich wusste, dass ich solche Zeichen schon einmal gesehen habe."

Elrohir wandte sich vom Fenster ab. "Die dunkle Sprache? Aber sie existiert schon seit einigen Zeitaltern nicht mehr, und niemand weiß wirklich, ob es sie überhaupt jemals gab. Sie ist nur eine Sage, ein Mythos. Wie kannst du dir so sicher sein, dass sie es ist, und wo hast du sie schon einmal gesehen?"

"Ich hatte während des Ringkrieges einige Einblicke, die ich lieber vergessen würde", erwiderte der Prinz knapp. "Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich kann sie nicht verstehen, also bringt uns diese Erkenntnis rein gar nichts. Wo ist Rowenna?", verlangte er barsch zu wissen.

"Die ist eben gegangen", klärte Nûemyn ihn auf. "ich weiß nicht genau, wo sie hinwollte."

"Das darf ja wohl nicht wahr sein! Sie kann doch jetzt nicht einfach verschwinden, wenn wir sie brauchen! Da wir hier nicht weiterkommen, muss sie es irgendwie versuchen. Das ist momentan die einzige Möglichkeit, die mir einfällt. Gehen wir sie also suchen."

Zu dritt verließen sie das durchwühlte Zimmer. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Spuren zu verwischen. Sie wussten, dass ihnen die Zeit dazu nicht blieb. Wenn sie etwas erreichen wollten, mussten sie sofort handeln, zu langen Überlegungen reichte es nicht mehr.

Elrohir trottete hinter den beiden anderen her. Zwar hatte er alle Gespräche mitgehört, doch die Puzzlestücke in seinem Kopf wollten sich noch nicht recht zusammenfügen. Er schloss die Tür hinter ihnen, doch mehr aus Langeweile als aus Notwendigkeit, denn der Gang war leer und es würde wohl auch in nächster Zeit niemand vorbeikommen. Das Krachen, als sie ins Schloss fiel, hallte durch das verlassene Gebäude und erschien in der Stille ein vielfaches lauter zu sein. Legolas und Nûemyn waren schon ein Stück vorausgegangen und Elrohir musste laufen, um sie einzuholen.

Rowenna war einfach nur noch wütend. Gegen ihren Hunger hatte sie sich ein Stück von einem Laib Brot abgerissen, den sie auf dem Boden gefunden hatte, doch das konnte sie nicht besänftigen. Was dachte sich dieser... diese Kreatur nur dabei? Was hatte sie mit den Elben gemacht, die den Palast mit Leben erfüllen sollten, und woher nahm sie das recht, in den Gefühlen anderer Leute herumzupfuschen? Komm du mir in die Quere, und ich mache Hackfleisch aus dir!

Alle Melancholie und alle Zweifel waren verschwunden. Sie hatte so viel in so kurzer Zeit verloren, sie war bereit, auch das letzte zu geben.

Zu gerne wäre sie jetzt einfach zu dem Verantwortlichen gestürmt, doch sie wusste zum einen nicht, wer das war, und zum anderen war ihr bewusst, wie töricht das war. Sie hatte schon einige Male unfreiwilligen Kontakt zum Feind gehabt, und wie unangenehm das auch war, sie musste es tun. Sie setzte sich auf den schmutzigen Boden und versuchte sich ein wenig zu entspannen. Als sich ihr Atem beruhigt hatte, versuchte sie, den Kontakt herzustellen. Sie begann ganz langsam, ihr Bewusstsein zu erweitern und sich nur noch auf ihren Geist zu beschränken. Mittlerweile hatte sie darin schon ein wenig Übung, sodass es ihr nicht allzu schwer fiel. Und dann verlor sie das letzte bisschen Gefühl für ihren Körper...

Das nächste, was sie sah, war sie selbst. Und das erste, was sie fühlte, war eine Erleichterung. Die Bürde der Sünde war von ihr verschwunden, natürlich, schließlich betraf sie nur den Körper und nicht den Geist. Doch nachdem sie diese Entdeckung gemacht hatte, war die Aufzählung der positiven Dinge auch schon beendet. Denn das hier war ja nicht das, was Rowenna hatte erreichen wollen. Sie hatte den Feind finden wollen, doch so konnte sie sich lediglich selbst beim Schlafen zusehen. Das war sicher sehr spannend, aber eben nicht das gleiche. Hätte sie einen Körper gehabt, hätte sie jetzt wohl enttäuscht geseufzt, doch so schwebte sie nur einige Momente ratlos im Raum herum. Was sollte sie als nächstes tun? Vielleicht sollte sie es einfach noch einmal versuchen. Doch bevor es dazu kam, hörte sie plötzlich Stimmen, die sie aufhorchen ließen. Das hatte einen ganz einfachen Grund: sie riefen ihren Namen. Und nachdem sie sich ein wenig darauf konzentriert hatte erkannte sie auch, dass es sich um Legolas und Nûemyn handelte. Natürlich, um wen sonst. Immerhin waren sie so ziemlich die einzigen, die noch bei einigermaßen klarem Verstand waren.

Rowenna überlegte kurz. Wahrscheinlich brauchten ihre Freunde ihre Hilfe, sonst würden sie nicht so lautstark nach ihr suchen. Also kehrte sie erst einmal wieder in ihren Körper zurück, um ihnen antworten zu können. Bis es so weit war, waren auch die Stimmen näher gekommen; sie konnten nicht mehr weiter entfernt sein als einige Meter. Endlich kam Rowenna zu ihrem Seufzer, stieß ihn aus und rief dann ergeben: "Hier bin ich!"

Keine fünf Sekunden später tauchten dann zwei Köpfe im Türrahmen auf. "Da bist du ja endlich!", sagte Nûemyn erleichtert. "Wir haben schon den ganzen Palast auf den Kopf gestellt."

"Doch dann habe ich überlegt, wo man dich wohl finden könnte, und da kam mir die Küche in den Sinn", fügte Legolas schmunzeld hinzu. Es schien ihm wieder besser zu gehen, doch jeder er Anwesenden wusste, dass das nicht lange halten konnte.

"Sehr witzig", entgegnete Rowenna, lächelte jedoch dabei. Sie stand auf und fuhr sich mit der Hand über den Rücken. Der Boden und die Wand, an der sie gelehnt hatte, waren beide hart und kalt gewesen, was sich jetzt bemerkbar machte.

"Also, was steht an?", wechselte sie das Thema. "Habt ihr schon etwas herausgefunden?"

"Ehrlich gesagt hatten wir gehofft, dass du uns weiterhelfen könntest", meinte Nûemyn. "Wir wissen jetzt, dass sämtliche der Dokumente in dem Zimmer auf Dûredmór verfasst sind. Dummerweise spricht das keiner von uns und wir werden wohl auch niemanden finden, der das kann. Also dachten wir, vielleicht könntest du irgendwie ausfindig machen, wer genau unser Feind ist, und vor allem, wie wir an ihn herankommen."

"Ich dachte, das sei schon geklärt", wunderte sich Rowenna. "Dass wir es mit Sauron zu tun haben, meine ich. Ihr müsstet doch besser als ich wissen, wer das ist. Und was das sonst noch betrifft war ich gerade bei der Arbeit, bevor ihr mich gestört habt." Dass sie nicht besonders weit gekommen war, verschwieg sie lieber.

Nûemyn überlegte kurz. "Dann schlage ich vor, dass du dort weitermachst, wo du aufgehört hast. Können wir dir dabei irgendwie helfen?"

"Eigentlich nicht. Aber wenn ich etwas herausgefunden habe, müsst ihr da sein, damit wir sofort beginnen können." Rowenna ließ suchen ihren Blick durch den Raum schweifen. "Wo ist eigentlich Elrohir?"

Auch die anderen beiden sahen sich nun um. Schließlich meinte Nûemyn ein wenig schuldbewusst: "Ich habe gar nicht bemerkt, dass er nicht mehr da ist. Vielleicht sollten wir ihn suchen. Aber wir können ja schlecht an zwei Orten zur gleichen Zeit sein. Ich weiß nicht, bleiben wir hier oder suchen wir ihn?" Sie blickte fragend erst Rowenna und dann Legolas an. Der war es schließlich, der den Vorschlag machte: "Du könntest ihn suchen gehen und ich bleibe hier. Keine Angst", meinte er, als er ihren skeptischen Blick sah. "Wie zwei können uns ganz gut unter Kontrolle halten. Um ganz sicher zu gehen, kann ich ja für eine Weile nach nebenan gehen. Trotzdem solltest du dich aber beeilen."

Nûemyn war noch nicht ganz überzeugt. In den letzten Stunden hatte sie automatisch die leitende Rolle eingenommen und fühlte sich für die anderen verantwortlich. Doch dann fügte Rowenna noch hinzu: "Wenn ich erst mal bei der Arbeit bin, besteht gar keine Gefahr mehr, zumindest nicht von meiner Seite. Und wenn es mit Legolas ganz schlimm wird kann ich versuchen, ihn zu beruhigen." Sie dachte daran, wie sie einmal in den Feind gefahren war und auch seine Gedanken hatte beeinflussen können. "Mir wird schon was einfallen. Und ein weiterer Kämpfer ist bestimmt nicht das verkehrteste, was wir gebrauchen können. Also geh, wir schaffen das hier schon."

"Na gut, aber... passt auf." Mit dieser Warnung drehte sich Nûemyn um und lief aus der Küche. Man hörte ihre Schritte noch kurz, bevor sie im Gang verschwanden. Legolas und Rowenna standen ratlos da, bis sie schließlich die Initiative ergriff. "Setz du dich irgendwo hin, wo du mich nicht störst", orderte sie an. Dann setzte sie sich wieder an die gleiche Stelle, an der sie sich schon vorher ihre Rückenschmerzen geholt hatte. Aber hier gab es keinen anderen Platz und sie hatte auch nicht die Zeit, sich etwas Bequemeres zu suchen. Als sie sich so hingesetzt hatte, dass ihr möglichst nichts weh tat, fing sie genau dort wieder an, wo sie vor einigen Minuten aufgehört hatte. Doch diesmal konzentrierte sie sich nicht wieder darauf, ihren Geist zu verstärken, sondern sie versuchte, eine direkte Verbinding zum Feind aufzubauen. Als sie erneut die Kontrolle über ihren Körper verlor, sah sie als nächtes nicht sich selbst oder auch nur die vertraute Umgebung der Küche.

Stattdessen befand sie sich nun - ja, wo eigentlich? Irgendwo im Palast, denn die Wände um sie herum waren mit Wandteppichen behängt, die man nicht verwechseln konnte. An die meisten, an denen sie vorbei kam, konnte sie sich erinnern. Sie befanden sich irgendwo in der Nähe der Gästezimmer, vielleicht auch nahe der Küche.

Nein, nicht bei der Küche. Der Gang ist nicht so ausgeschmückt wie dieser hier, schließlich wird er fast nur von Personal betreten. Es muss also bei den Gästezimmern sein...

Rowenna konnte nichts tun als abzuwarten, was als nächstes geschah. Doch dabei zog sie jeden Anblick, der sich ihr bot, in sich auf. Jedes kleine Detail konnte hinterher hilfreich sein. Und dann konnte sie sich plötzlich wieder orientieren. Sie bewegte sich genau auf das ZImmer zu, das sie eben durchsucht hatten. Kein Zweifel, so musste es sein.

Aber - hier bin ich doch schon einmal gewesen! Nicht heute, auch schon davor!

Fieberhaft verfolgte sie diesen Gedanken weiter. Wann war das gewesen? Und vor allem: Wessen Zimmer war das? Die Antwort huschte ihr durchs Gedächtnis und wäre beinahe wieder verschwunden, hätte sie nicht krampfhaft an ihr festgehalten. Eine Stimme pochte in ihrem Kopf: Donvan.

Sofort, nachdem sie diese Erkenntnis gewonnen hatte, kehrte Rowenna in ihrem Körper zurück. Was nützte es, noch weiter Zeit zu verschwenden, wenn sie doch wusste, wohin sie gelangt wäre? Wie immer brauchte sie einen kurzen Moment, um sich zu sammeln, bevor sie schließlich aufstehen konnte. Legolas saß am anderen Ende des Raumes auf dem Boden und kaute an einer Karotte, die er offensichtlich irgendwo gefunden hatte. Keine große Kunst, wenn überall Lebensmittel verstreut herumlagen. Als er bemerkte, dass Rowenna wieder wach war, warf er die Karotte achtlos zur Seite und kam zu ihr herüber. "Und, sind wir jetzt schlauer als vorher?", fragte er.

"Donvan", war das einzige, was sie von sich gab. Damit rief sie jedoch nur ein Stirnrunzeln auf dem Gesicht des Prinzen hervor. "Do... - wer?"

"Donvan. Dieser seltsame Elb, der mir mit meinen Kräften helfen sollte, erinnerst du dich?"

"Ach ja - der hat mich doch mal aus deinem Zimmer geworfen, nicht wahr? Ja, ich erinnere mich. Das ist also der, den wir suchen?"

"Er wohnt in dem Zimmer, in dem wir eben die ganzen Bücher und so gefunden haben. Und er ist gerade auf dem Weg dorthin. Wir sollten lieber schnell Nûemyn suchen und uns was überlegen."

"Ich hasse diese elendige Herumsucherei", seufzte Legolas. "Also gut, gehen wir."

Durch einen glücklichen Zufall kamen gerade, als sie die Küche verlassen wollten, Nûemyn und Elrohir dort an.

"Da seid ihr ja", begrüßte Rowenna sie. "Wir müssen wieder hoch in des Zimmer. Alles andere erzähle ich dir gleich."

Auf dem Weg weihte sie die Elbin dann in das ein, was sie gesehen hatte. "Was ein Glück, dass ihr gerade jetzt kamt, sonst hätten wir euch auch noch suchen müssen", fügte sie hinzu, als sie geendet hatte.

"Ja, das ist es wohl. Ich habe Elrohir in diesem Zimmer gefunden. Er hatte wohl schon eine Ahnung, dass wir wieder dorthin zurück müssten." Sie zuckte die Schultern. "Da wären wir."

Rowenna hatte gar nicht bemerkt, dass sie schon angekommen waren. Ohne Zögern ging sie in das Zimmer, fand es jedoch leer vor. Das war ja klar, immer ein bisschen zu spät. Glückwunsch, Rowenna, auf dich ist echt Verlass.

In dem Moment, in den sich schon wieder gedrückte Stille ausbreiten wollte, dröhnte ein Geräusch an die Ohren der Anwesenden. Es war das Geschrei Vieler, und es kam aus der Richtung des Thronsaales. "Oje", meinte Nûemyn und fuhr sich mit einer hand übers Gesicht. "Jetzt drehen sie vollends durch. Vielleicht sollten wir uns das einmal ansehen."

"Ja, das ist gut", warf nun auch Elrohir ein. Erstaunt drehte sich Rowenna zu ihm um. Er hatte die ganze Zeit nur schweigend bei ihnen gestanden und niemals irgendeine Meinung verlauten lassen. Doch nun fuhr er schon fort: "Gehen wir schnell hin und sehen nach. Wer weiß, was dort vor sich geht. Und hier können wir jetzt auch nichts ausrichten."

Nach einer Weile murmelten die anderen zustimmend. Sie verließen das Zimmer und wandten sich Richtung Thronsaal.

Nûemyn lief vorneweg - sie hatte ihre Rolle als Führerin schon in dem Moment wieder eingenommen, als sie mit Elrohir im Schlepptau in der Küche aufgetaucht war. Hinter ihr gingen erst Legolas, dann Rowenna, und als Schlusslicht Elrohir. Nach ein paar Metern schloss Rowenna zu Legolas auf.

"Dieses Buch", fing sie an. "Das, das aus der Bibliothek stammt - du weißt ja, welches ich meine? Das mit der sieben." Sie wartete sein Nicken nicht ab. "Du konntest doch den Titel lesen. Also ist es doch in Elbisch geschrieben, oder nicht?"

"Sindarin."

"Wie bitte?"

"Die Sprache heißt Sindarin. Und ja, es ist darin geschrieben."

"Ist doch egal, wie die Sprache heißt. Vielleicht steht dort etwas, was nützlich sein könnte. Du hast dir natürlich wieder mal nur das vorgenommen, was du nicht verstehen konntest. Aber in unserer Situation müssen wir wohl mit dem Vorlieb nehmen, was wir kriegen können."

Legolas antwortete nicht, und erst als Rowenna schon ungeduldig nachhaken wollte, grummelte er: "Ich glaube nicht, dass uns das weiterhelfen wird. Es steht nichts darin, was wir nicht schon wissen."

"Aber - woher weißt du denn das?"

"Ich habe es gelesen. Das einzige, was dort Wissenswertes steht ist, dass die Sünden nicht zusammenkommen dürfen, aber das habe ich ja schon einmal gesagt. Und außerdem baut das ganze Buch auf Legenden und Sagen auf, deshalb weiß ich nicht genau, ob man allem Glauben schenken kann."

Mittlerweile waren sie an den Türen des Saalen angekommen. Das Geschrei war fast unerträglich laut, doch trotzdem gingen sie hinein. Niemand bemerkte ihr Kommen, und hätte sie jemand bemerkt, hätte er sich wohl nicht für sie interessiert. Obwohl es draußen schon seit Stunden dunkel war, war der Saal hell erleuchtet - dies mussten die Kerzenbestände des ganzen Palastes sein. "Wie spät haben wir wohl?", fragte sich Rowenna laut und war fast erschrocken, als sie tatsächlich eine Antwort erhielt.

"Es muss wohl kurz vor Mitternacht sein", meinte Legolas und ließ dabei nicht seine Augen vom Geschehen um ihn herum. Einer der großen Tische war umgestürzt, die Anwesenden redeten und schrieen wild durcheinander, während sie ihre Finger in den überall herumliegenden Gold- und Silberschätzen vergruben. König Thranduil saß nicht länger auf seinem Thron, er hatte stattdessen einen Stuhl auf den noch stehenden Tisch gestellt. Darauf stand er nun, mit ausgebreiteten Armen und einem zufriedenen Gesicht. "Ja, meine Freunde", schrie er immer wieder. "Das sind alles meine Schätze. Mein Reichtum!"

"Oh mein Gott", stieß Nûemyn aus, als sie wieder alle beieinander standen. "Das ist ja noch schlimmer als eben! Da haben wir wohl hinter einiges aufzuräumen!"

Niemand beachtete ihn. Er stand auf einem kleinen, etwas versteckt liegenden Balkon des Saales und schaute auf die wilde Menge aus Elben, Menschen und anderen Geschöpfen herunter. Und dann wandte er seinen Blick zur Tür und konnte sich vor Freude fast nicht mehr beherrschen: Drei weitere Zahnräder seines gigantischen Planes waren soeben eingetroffen. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bis dieser Tag sein Ende fand. Noch wusste niemand, dass dies auch das Ende von Mittelerde sein würde.

Es hatte lange gedauert, diese Idee zu entwickeln und auszubauen. Zuerst hatte er daran gedacht, alle Sünden in einer Person zu vereinigen, doch schon bald hatte er herausgefunden, dass dies nicht gereicht hätte. Er brauchte die Kraft von sieben, um die ganze Welt unter seien Herrschaft zu bringen. Die Herrschaft über die verhältnismäßig kleine Zwischenwelt konnte er zwar beibehalten und würd es auch tun, aber sie war nichts im Vergleich hierzu. Hier waren reale Lebewesen, nicht nur ihre Seelen, die man nicht greifen konnte. Denen man nicht den Hals umdrehen und den Schmerz in ihre Augen sehen konnte. Nein, dies hier war viel größer und auch er würde größer werden als er jemals gewesen war. Größer - und grausamer.

Und wenn es erst so weit war sollte es auch kein Problem mehr sein, wieder einen eigenen Körper herzustellen. Mit Macht ließ sich alles bewerkstelligen, und er war es leid, immer die Körper anderer zu benutzen.

Keiner der drei wusste wirklich, was zu tun war - fast schon ein Dauerzustand in der letzten Zeit. So hatte Rowenna genügend Zeit, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatten noch immer erst sechs der Sünden gefunden, erinnerte sie sich. Eine ist also noch unentdeckt. Vielleicht ist es einer von ihnen... Sie ließ den Blick über die Menge schweifen. Ja, das war wahrscheinlich. Immerhin waren alle anderen im Palast und wie sie nach genauerem Hinsehen erkennen konnte auch hier im Saal. Aber es dürfen doch nicht alle Sünden zusammenkommen... und jetzt sind schon sechs davon hier und die siebte lässt vermutlich auch nicht lange auf sich warten.

Sie hörte hinter sich einen lauten Knall, der sie zusammenzucken ließ. Er schreckte sie aus ihren Gedanken auf, sodass sie sich an Nûemyn wandte, die hr am nächsten war. "Wir müssen hier raus", schrie sie durch den Lärm. Nûemyn nickte und schrie mindestens ebenso laut zurück: "Daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich fürchte, dafür ist es wohl zu spät." Sie deutete hinter sich. Die große Tür war zu und Rowenna erkannte, dass dies wohl der laute Knall gewesen war. Sie brauchte nicht an den Griffen zu rütteln um zu wissen, dass sie von niemandem mehr geöffnet werden konnte.

Sie saßen in der Falle.

Ergeben sah sie sich um. "Wo ist Elrohir schon wieder?", fragte sie, ohne dass sie an der Antwort sonderlich interessiert war. Wenn er Glück gehabt hatte, war er vielleicht noch draußen vor der Tür und konnte von dort... Ihre Hoffnung wurde jäh zerschlagen, als sie hinter sich seine Stimme hörte: "Ich bin hier! Aber wo ist Legolas?"

Das ist mittlerweile schon egal, dachte Rowenna verzweifelt. Er kommt hier genausowenig raus wie wir. Wieder versank sie in Gedanken und mekrte dabei nicht, wie Elrohir sie am Arm nahm und langsam in die Mitte des Saales führte. Es ist ungefähr Mitternacht, hat Legolas gesagt. Vielleicht spielt das auch eine Rolle. Aber da ich eh keine Uhr habe, kann es mir auch egal sein...

Die Menge war an die Seiten zurückgewichen und hatte in der Mitte einen Kreis freigemacht, auf den Rowenna nun ihne es zu merken zusteuerte. Nûemyn blieb die ganze Zeit neben ihr und schien ebensowenig auf ihre Umwelt zu achten. Plötzlich blieb Rowenna abrupt stehen.

"Wo hast du gesagt, hast du Elrohir eben gefunden?"

Nûemyn starrte sie erst verwirrt an, doch dann klärte sich ihr Blick wieder. "In dem Zimmer. Er wollte wahrscheinlich noch..." Dann verstand sie. Rowenna hatte gesehen, wie der Feind in dieses Zimmer ging. Und Nûemyn hatte Elrohir genau dort gefunden. Rowenna sah nach rechts, wo der betreffende Elb noch immer neben ihr war. Etwas an seinem Blick hatte sich verändert und ihr wurde bewusst, dass er die ganze Unterhaltung mit angehört hatte. Sie riss ihren Arm von ihm los und schlug damit nach ihm, doch ihr Schlag war unkoordiniert und er lachte nur. "Kleine, dumme Mädchen", meinte er lächelnd, doch seine Augen waren kalt. "Jetzt ist es für solche Überlegungen wohl zu spät." Rowenna starrte ihm wütend hinterher, als er sich abwandte und ein Stück ging. Erst da merkte sie, dass sie in der Mitte des freien Kreises stand - ebenso wie Legolas, Aragorn, Elrond, dessen Taschen vor lauter Schmuckstücke in ihrem Innern schon kurz vorm Reißen waren, Thranduil, der sich freute wieder einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu sein, und Sam, auf dem Boden kriechend mit vollen Backen und Händen mit Tortenresten beschmiert. Mit mir sechs, zählte sie. Wer ist es also noch? Elrohir - beziehungsweise Sauron - selbst? Doch dann lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Nûemyn stand noch immer an ihrer Seite.

Er hatte schon viel früher damit gerechnet, dass sie ihm auf die Schliche kamen. Dass es bis gerade gedauert hatte, hatte seine Arbeit noch erleichtert. Denn jetzt konnten sie mit diesem Wissen auch nichts mehr anfangen, es war bereits zu spät. Alle sieben standen isoliert von den anderen, und bevor sie auch nur daran denken konnten, sich wieder unters Volk zu mischen, legte er einen Zauber über sie. Mit leisem Murmeln sprach er eine Formel, die sie alle an ihrem Platz festhielt. Nun musste er nur noch warten, bis sie alle ihren Versuchungen erlegen waren. Bei den vieren war das schon der Fall, der Prinz war kurz davor. Wer ihm am meisten Sorgen bereitete, das war die Bedienstete. Er hatte sie für die Trägheit ausgesucht, da dies sonst nicht ihrer Person entsprach. Von Anfang an hatte ihn alles an ihr gestört: ihr Lächeln, ihre aufgeweckten Augen, ihr Fleiß. Dass sie alle Arbeiten erledigte, als wäre dies das Schönste, was man sich nur wünschen konnte. Doch er hatte auch ihre innere Energie erkannt, und er wusste, wie viel ihm diese Energie bringen konnte, wenn er sie erst einmal gebrochen hatte. Doch bis jetzt waren an ihr noch keine Anzeichen zu sehen. Nun gut - er hatte sich dieses besondere Vergnügen bis ganz zum Schluss aufgehoben, doch bei keinem der anderen hatte es so lange gedauert. Doch dann beruhigte er sich selbst. Auch sie würde nicht widerstehen können, es war nur noch eine Frage der Zeit...