Kapitel 19
Abschied
Nach und nach erwachte der ganze Palast wieder zum Leben. Legolas, Rowenna und Nûemyn hatten auch die letzten Krümel ihres Frühstücks verputzt und sahen nun zu, wie nach und nach die verschiedensten Personen hervorkamen. Sie fühlten sich ein wenig wie in einer Theatervorstellung, denn von ihrem Platz aus konnten sie fast die ganze Breite des Palastes überblicken. Kam wieder jemand vorbei, so ließen sie sich kichernd und scherzend über seine Haltung oder seine Kleidung aus. Was Rowenna am meisten verwunderte, war, dass alles seinen ganz normalen Lauf zu gehen schien. Niemand wirkte verstört, und nirgendwo bildeten sich Grüppchen, um über den gestrigen Abend zu diskutieren. Zwar sahen viele so aus, wie man es noch einer durchzechten Nacht erwartete, doch etwas Außergewöhnliches war nicht dabei.
Irgendwann erschien Aragorn im Eingang, und Legolas winkte ihn heran.
"Wie geht es dir?", fragte der Elb seinen Freund und bot ihm mit einer Handbewegung an, sich neben ihn auf den Rasen zu setzen. Aragorn ließ sich erst nieder, bevor er schlicht antwortete: "Mir brummt ganz gewaltig mein Schädel." Zur Unterstützung dieser Aussage fuhr er sich mit einer Hand über den Kopf. Er schien zu überlegen, dann: "Was ist gestern eigentlich geschehen? Das war doch kein übliches Fest, oder? Meine Erinnerung besteht nur noch aus einigen Fetzen, aber... Lasst mich versuchen, es zusammenzufassen: Elrohir hat uns alle verzaubert und wollte Mittelerde unterwerfen oder so ähnlich?"
Legolas lachte und klopfte Aragorn auf die Schulter, was dieser mit einem Stöhnen quittierte. "Mein Freund, ich glaube, du hattest etwas zuviel Wein. Das hört sich doch wirklich etwas seltsam an, oder etwa nicht?" Nach kurzem Zögern pflichteten Rowenna und Nûemyn ihm nickend bei. Wussten die anderen vielleicht wirklich nichts mehr? Glaubten sie sogar alle, dass ihre Erinnerungslücke am Wein gelegen hatte? Das war die einfachste Lösung, und wenn es so war, dann wäre Rowenna sehr dankbar dafür. Doch warum hatten Legolas, Nûemyn und sie dann noch ihre Erinnerungen? Vermutlich, weil wir am längsten bei Bewusstsein geblieben sind. Und Aragorn weiß ja auch noch etwas, nur dass er es nicht für wahr hält. Also müssen wir nur allen anderen das Gleiche einreden.
Legolas schien das Gleiche gedacht zu haben, denn als Sam mit Frodo an seiner Seite den Weg entlangging, rief er ihm fröhlich zu: "Na, mein Freund, auch zu viel getrunken?"
Sam sah in der Tat recht kränklich aus; sein Magen würde sich wohl erst in einigen Tagen wieder vollends erholt haben. "Mach du dich nur lustig", schrie er zurück. "Wenn ich ein Elb wäre, würde ich jetzt auch über diejenigen lachen, die es nicht so gut haben!"
Legolas lachte, doch innerlich war er voller Sorge. Er wusste nicht, ob sich nicht doch jemand an alles erinnern konnte und es womöglich ausplaudern würde, und er hatte Angst, dass es noch nicht vorbei war. Es war alles viel zu kurz gewesen, und es war kaum jemand zu ernstem Schaden gekommen. Für einen Krieg, egal auf welcher Ebene, erschein ihm das wie die Ruhe vor dem Sturm. Doch anscheinend schien niemand seine Gedanken zu teilen; alle wirkten fröhlich und ausgelassen. Nur in Rowennas Blick bemerkte er etwas Nachdenkliches, als wäre sie hier nur körperlich anwesend. Irgendwann stand sie einfach auf und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Sein erster Impuls war, ihr zu folgen, doch dann blieb er sitzen. Er beschloss, dass er ihr zuerst ein wenig Ruhe gönnen sollte, bevor sie über das Geschehene sprechen mussten. Also wandte er sich wieder Aragorn und Nûemyn zu, die mittlerweile ein Gespräch begonnen hatten, und hörte ihnen schweigend zu.
Rowenna lief unruhig durch die Gänge. Sie hatte versucht, einfach alles zu vergessen und mit den anderen fröhlich zu sein, doch sie konnte ihre Gedanken nicht so einfach beiseite schieben. Sie wusste noch immer nicht genau, was in der letzten Nacht alles passiert war. Und es gab auch niemanden, der ihre Wissenslücken auffüllen konnte, denn sie war ja alleine dort gewesen. Dort. Anders konnte sie es nicht beschreiben, denn sie kannte keinen Namen. Vielleicht gab es gar keinen.
Und vielleicht habe ich mir das auch alles nur eingebildet, dachte sie sarkastisch. Doch nein, dafür war es zum einen zu real gewesen und außerdem zweifelte sie zwar manchmal an sich selbst, aber solchen Dingen hatte sie gelernt zu glauben. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Sie musste wieder dorthin, musste wieder an diesen Ort so hoch über den Wolken gelangen und herausfinden, was er bedeutete.
Das ist deine Bestimmung.
Diese einfachen Worte hallten in ihrem Kopf wider, und fast meinte sie, ein Echo von ihnen mit ihren Ohren wahrnehmen zu können. Was war ihre Bestimmung? Und wie sollte sie sie befolgen, wenn sie sie nicht kannte? Wieder bog sie wahllos in einen anderen Gang ab, in der Hoffnung, die winzige, gewundene Treppe noch einmal zu finden. Doch sie wusste natürlich, dass sie sie nicht finden konnte. Es war keine einfache, eingemauerte Treppe gewesen, die jeder, der sie fand, hinaufsteigen konnte. Sie hatte sich Rowenna gezeigt, und wenn sie dies nicht wieder tat, dann gab es keine Möglichkeit, zu ihr zu gelangen. Frustriert blieb Rowenna stehen. Warum lief sie so ziellos hier herum? Denn ziellos war sie wirklich. Sie trieb von Tag zu Tag, ohne etwas, auf das sie hinarbeiten konnte. Bis gestern hatte sie wenigstens eine Beschäftigung gehabt, so grausam es in ihren Ohren auch klang, den Krieg als eine "Beschäftigung" zu bezeichnen. Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr vor der Wahrheit verstecken.
Sie gehörte nicht hierher.
Das war nicht ihre Welt. Es war die von Legolas und Nûemyn und auch die der Hobbits. Aber sie war hier fremd, ein ewiger Gast. Natürlich hatten alle stets dafür gesorgt, dass sie sich wohl fühlte, doch das war nicht das Gleiche wie ein Zuhause. Sie vermisste ihre Eltern und ihr Haus und all die Kleinigkeiten, die einmal so selbstverständlich für sie gewesen waren. Sie vermisste sogar, morgens von einem gräßlich piependen Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden und sich mit ihrem Bruder zu streiten. Michael. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wie es ihm ging. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, lag er nach dem Unfall im Krankenhaus. Vielleicht ist er tot. Rowenna zitterte, obwohl sie genau vor einem Fenster stand, durch das die warme Mittagssonne auf ihre Haut fiel. Sie musste zurück. Vielleicht sollte sie einfach gehen. Nûemyn und Legolas wären wohl die Einzigen, die sie vermissen könnten, und auch sie würden sie nach kurzer Zeit vergessen. Schließlich hatten sie sich nicht lange genug gekannt, und eine echte, tiefe Freundschaft aufzubauen. Ja, das wäre wohl das Beste. Der Weg dürfte ihr keine Schwierigkeiten machen, sie war ihn schon so oft gegangen, und diesmal wurde er nicht mehr von Sauron versperrt. Es wäre so einfach...
Entschlossen drehte sie sich um und suchte den Weg zurück zu ihrem Zimmer. Sie wollte all ihre persönlichen Gegenstände mitnehmen, damit nicht später jemand etwas fand, was nicht hierher gehörte. Sie beschleunigte ihre Schritte, denn sie wollte es schnell hinter sich bringen. Sonst begegnete sie vielleicht noch Legolas, und sie wusste, dass er der Einzige war, der sie wirklich von ihren Vorhaben abbringen konnte.
Legolas wurde langsam unruhig. Seit Rowenna gegangen war, hatte er kaum ein Wort gesagt, doch das war glücklicherweise keinem aufgefallen. Obwohl er beschlossen hatte, ihr noch etwas Ruhe zu gönnen, hielt er es bald nicht mehr aus. Ein unbestimmbares Gefühl machte sich in seinem Bauch breit, und er war sicher, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Also stand er nach einer Weile ebenfalls auf und ging in Richtung Palast. Er brauchte nur wenige Augenblicke, bis er vor Rowennas Tür stand, doch er zögerte noch einen Moment. Sie hatte wirklich unglücklich ausgesehen, vielleicht sollte er noch etwas warten. Doch dann schob er alle Zweifel beiseite. Gerade, wenn sie Probleme hatte, brauchte sie einen Freund zum Reden. Entschlossen griff er nach dem Türknauf.
Rowenna hatte schnell ihre Tasche aus dem Schrank genommen und auf das Bett gestellt. Mehr würde sie nicht mitnehmen. Dann fiel ihr Blick auf die Kette mit dem Anhänger, der auch jetzt wieder in einem hellen blau leuchtete. Sie überlegte kurz. Nein, sie konnte sie nicht mitnehmen, sie gehörte ihr gar nicht. Gegensätzlich zu ihren Gedanken nahm sie sie jedoch einfach und steckte sie in eine Tasche ihres Kleides. Dann setzte sie sich auf das Bett, hielt mit einer Hand den Griff ihrer Tasche umklammert und konzentrierte sich. In dem Moment drehte sich der Türknauf. Zum Glück hatte sie abgeschlossen, musste sich also gar nicht darum kümmern. Doch ob sie es wollte oder nicht, so wurde sie doch davon abgelenkt. Besonders, als sie Legolas' Stimme hörte, die leise nach ihr fragte. Nach kürzem Zögern beschloss sie jedoch, es trotzdem weiter zu versuchen. Wenn sie jetzt erst noch mit ihm sprach, konnte das wieder alles durcheinander bringen. Mit einem resignierten Seufzer schloss sie erneut die Augen, und mit einem Mal kamen ihr doch Zweifel. War es richtig, einfach zu gehen? Doch ein langer Abschied wäre für keine Seite gut. Wollte sie denn überhaupt gehen? Ihr war klar, dass sie in ihrer Welt kein normales Leben mehr führen konnte. Sie war für tot erklärt - ihr erneutes Auftauchen würde einige Fragen aufwerfen. Vielleicht würde es sogar Untersuchungen geben... Ihr wurde ganz schlecht, als sie an die verschiedenen Möglichkeiten dachte. Hier wäre es anders - hier konnte sie ihre Magie frei anwenden und musste sie nicht verstecken.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Genau davor hatte sie Angst gehabt: Vor ihren eigenen Zweifeln. Sie konnte nicht gehen, wenn sie sich nicht ganz sicher war. Aber ich kann doch gehen und wieder zurückkommen, wenn ich dort nicht mehr leben kann. Doch sie wusste, dass das nicht möglich war. Wäre sie erst einmal wieder bei ihrer Familie, würde sie sich nicht mehr von ihr trennen können.
"Rowenna?", fragte Legolas jetzt lauter. "Ist alles in Ordnung?"
Ohne es zu bemerken, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Nein, sie konnte nicht mehr zurück. Das hier war jetzt ihr Leben, realisierte sie. Das hier war nun ihr Zuhause, in der Welt, die einst ihre gewesen war, wäre sie wirklich fremd.
Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, erschien sogar ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie spürte, dass es der richtige Weg war, der einzig Mögliche. Endlich stand sie auf und ging zur Tür. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich erst einen Moment an der Wand abstützen musste, bevor sie wieder genügend Halt fand. Sie wischte sich noch einmal kurz mit der Linken die Tränen aus dem Gesicht und drehte dann den Schlüssel im Schloss um.
Legolas hörte das Klicken des Schlosses. Noch bevor er etwas tun konnte, öffnete sich die Tür schon von innen. Das erste, was er sah, war, dass Rowenna geweint hatte. Sie versuchte zwar zu lächeln, doch es bildeten sich noch immer neue Tränen. Er trat wortlos ein und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. Dann zog er sie in seine Arme und hielt sie fest. Was immer es auch war, das sie zum Weinen gebracht hatte, sie konnten später darüber reden.
Rowenna löste sich nach einiger Zeit aus der Umarmung. Legolas deutete mit einer Geste auf ihre Tasche. "Willst du weg?" Zögernd schüttelte sie den Kopf. "Nein."
Sie ging zum Bett, nahm die Tasche, und stellte sie zurück in den Schrank. Dann wischte sie mit einem Tuch die letzten Tränen weg. Sie wollte nicht mehr das beweinen, was sie nicht hatte, sondern sich an dem freuen, was sie hatte. Und das war ein Leben hier, auch wenn sie sich erst noch vollends daran gewöhnen musste.
"Nicht, wenn ich noch eine Weile hier wohnen darf", fügte sie noch hinzu.
Das ist deine Bestimmung, hallte es in ihrem Kopf.
Nûemyn seufzte resigniert. Es musste ja so kommen, dachte sie. Wie lange hatte sie nun Urlaub gehabt? Einen oder zwei Tage? Und schon wurde sie wieder voll eingespannt. Gut, sie musste zugeben, dass besondere Umstände herrschten: Die meisten Mädchen klagten über so schwere Kopf- und Gliederschmerzen, dass sie geschlossen in ihren Kammern blieben. Und dann lief Nûemyn daher, frisch und munter, das konnte ja nicht gut gehen. Sofort hatte sie wieder einen Stapel Bettwäsche auf dem Arm und den Auftrag, sich um sämtliche Zimmer zu kümmern, die sie erreichen konnte. Beinahe erwägte sie schon, sich auch krank zu stellen. Doch faul oder arbeitsscheu war sie noch nie gewesen, und sie würde auch heute nicht damit anfangen.
Einen Besen hatte sie sich unter den linken Arm geklemmt, ein Knäuel Putztücher unter den rechten. Wegen der Vorbereitungen für das gestrige Fest waren viele Arbeiten liegen geblieben, die nun sie zugeschoben bekam.
Endlich konnte sie wieder eine Tür hinter sich schließen und sich der nächsten zuwenden, wobei letzteres deutlich unbefriedigender war. Es war die letzte Tür auf diesem Gang, und sie war dankbar dafür. Aber trotzdem bedeutete das noch lange keinen Feierabend. Die Herrschaften wollten auch heute wieder wie jeden Tag rundum versorgt werden, und gerade in der Küche machte sich der Mangel an Personal besonders bemerkbar.
Sie steckte ihren Universalschlüssel in das Schloss der Tür und drehte ihn um. Dabei verfluchte sie innerlich die alten Schlösser, die von Tag zu Tag ein wenig mehr klemmten und niemals ausgetauscht wurden. Die Bettbezüge drohten ihr von den Armen zu rutschen, und sie musste den Besen fallen lassen, um sie noch festhalten zu können. Natürlich hatte sie sie nicht abgezählt und deshalb viel zu viele dabei, die sie nun auch wieder mit zurückschlappen musste. Während sie sich darüber noch aufregte, dauerte es noch einen Augenblick, bis sie sich überhaupt erst einmal umsah. Als sie es dann doch endlich tat, musste sie einen Schrei unterdrücken.
Noch bevor Rowenna Legolas' Lippen auf ihren spürte wusste sie schon, dass es so nicht weitergehen konnte. So hat es auch gestern angefangen, erinnerte sie sich, und ein kalter Schauer machte sich in ihrem Nacken breit. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Ein irrsinniges Gemisch von all dem, was ihr in den letzten Tagen widerfahren war, begleitet von Bildern, die mit ungeheurer Schnelligkeit vor ihren geschlossenen Augen vorbeirasten. Sie löste sich von Legolas und fing seinen fragenden Blick auf. Natürlich hatte er ihre Anspannung bemerkt, wie er immer alles sofort bemerkte. Immerhin war er ein Elb. Doch Rowenna hatte jetzt keine Lust auf langwierige Erklärungen. Zuerst musste sie sich selbst über einige Dinge klar werden, bevor sie mit jemand anderem darüber reden konnte. Also wich sie Legolas' Blick aus und ging zum Fenster hinüber. Wie spät war es eigentlich? Sie schätzte es auf frühen Nachmittag.
In dem Moment flog die Tür auf und Nûemyn stürmte herein. Innerlich war Rowenna froh über diese Störung, denn so wurde die unangeneme Stille durchbrochen.
"Rowenna... du musst... da ist...", keuchte die blonde Elbin und stützte sich dabei am Türrahmen ab. Erst jetzt bemerkte sie Legolas und hob kurz grüßend die Hand, beachtete ihn dann aber nicht weiter.
"Nun komm schon!", rief sie, nachdem die von ihr erhoffte Reaktion ausgeblieben war. Endlich löste sich Rowenna aus ihrer Starre und folgte Nûemyn. Legolas ließ sie einfach stehen.
Nûemyn führte Rowenna schnellen Schrittes zu dem Zimmer, das sie gerade hatte sauber machen wollen. Die Tür hatte sie im Schock weit geöffnet gelassen; jetzt scholt sie sich in Gedanken dafür. Zum Glück schien jedoch niemand vorbeigekommen zu sein. Rowenna erkannte das Zimmer sofort als das wieder, das sie an vorigen Abend durchsucht hatten. Im Türrahmen lagen verstreut Bettbezüge und Putztücher, die Nûemyn vor Schreck hatte fallen lassen. Rowenna stieg über das Hindernis und sah sich erst danach richtig um. Nûemyn wartete schon auf sie und sah sie ungeduldig an.
Im Zimmer herrschte Chaos. Die Bücher, in denen sie vortags nach Hinweisen gesucht hatten, lagen verstreut auf dem Boden. Seiten waren herausgerissen worden und flogen hin und wieder hoch, wenn eine Brise durch das halb geöffnete Fenster hereinkam. Der große hölzerne Schrank war umgestürzt; eine seiner Türen lag am anderen Ende des Zimmers halb an die Wand gelehnt auf dem Boden. Erst, nachdem sie dies alles und noch einiges mehr wahrgenommen hatte, lenkte Rowenna ihren Blick langsam zum Bett. Die Auflagen waren zerwühlt und zu einem dicken Knäuel zusammengeschoben worden; einzelne Federn hatten ihren Weg aus einem Loch im Kissen gefunden und schwebten nun herrenlos in der Luft. Sie gaben allem einen täuschend friedlichen, endgültigen Hauch, als sie fast Schnee ähnlich aufwirbelten und wieder herabsanken.
Doch das Gewirr aus Stoff und Federn war nicht das Einzige, was auf dem Bett lag. Es bedeckte nur vielleicht eine Hälfte der Matratze und wirkte fast wie ein riesiges Kopfkissen für den, der darunter lag. Rowenna brauchte nur wenige Sekunden, um den Anblick in sich aufzunehmen und einmal tief durchzuatmen. Dann stürmte sie zu dem leblosen Körper und fühlte nach seinem Puls. Doch schon bevor sie ihn überhaupt berührte, konnte sie schon sagen, dass es zu spät war.
Nûemyn war neben der Tür stehen geblieben. "Das habe ich auch schon versucht", sagte sie, und fügte dann etwas leiser hinzu: "Er ist schon kalt. Ich weiß, dass du da vermutlich auch nichts mehr tun kannst, aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte."
"Mach die Tür zu", sagte Rowenna und setzte sich auf die Bettkante. Sie konnte es wenigstens versuchen, auch wenn Nûemyn wahrscheinlich recht hatte. Es war schon lange zu spät. Trotzdem - aufgeben konnte sie immer noch. Sie bemerkte schon gar nicht mehr, dass auch Legolas jetzt das Zimmer betrat und einige Worte mit Nûemyn wechselte.
Nach einer Weile gab sie es endgültig auf. Erst jetzt sah sie sich den leblosen Körper wirklich an und erkannte Donvan. Natürlich - es war ja auch sein Zimmer. Sein Gesicht und seine Arme waren blutig geschlagen und aufgerissen; getrocknetes Blut klebte überall. Rowenna wandte den Blick ab, um aus dem Fenster zu sehen. Was hat er nur mit dir gemacht?, fragte sie den Toten lautlos.
Ich weiß es nicht mehr, aber es tut mir sehr leid, kam die Antwort, ebenfalls nur in ihren Gedanken. Ich wünschte, ich könnte das alles wieder gutmachen. Wenn ich nur eine zweite Chance bekommen würde... Auch wenn ich weiß, dass ich sie nicht verdient habe. Erst jetzt kam Rowenna der Gedanke, wer mit ihr sprach. Zuerst hatte sie geglaubt, sich selbst etwas vorzugaukeln. Und dann kam ihr eine Idee.
Du sollst deine Chance bekommen.
Rowenna fühlte sich schlecht. Mit einem Mal hatten alle um sie herumgestanden und sie so angesehen... als hätte sie ein Wunder vollbracht. Sie hörte kaum die Worte, die sie sagten. Ein Heiler wurde herbeigerufen, um die Wunden Donvans zu versorgen. Aber es ist nicht Donvan. Es ist nur noch sein Körper.
Wie in Trance trat sie aus dem Zimmer und folgte Legolas und Nûemyn, die wie selbstverständlich wieder den Weg zu ihrem Zimmer einschlugen. Umso verwirrter waren sie, als Rowenna plötzlich an ihnen vorbei in ihr Zimmer huschte und die Tür hinter sich zuschlug. Mit zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel im Schloss herum und ließ sich auf den Boden fallen. Was hatte sie da getan? Ich sage dir, was du getan hast, ertönte wieder die altbekannte Stimme in ihrem Kopf. Du hast einem Wesen, für dessen grausame Taten es keine Beschreibung gibt, die schrecklich genug wäre, wieder zum Leben erweckt. Und als wäre das noch nicht genug, hast du das so getan, dass dich alle für ein Wunder halten, weil du einen Toten wieder auferweckt hast.
Es war eine spontane Handlung gewesen. Sie hatte mal wieder nicht nachgedacht, und das in einem Augenblick, in dem es entscheidend gewesen wäre. Was, wenn Sauron nun, da er wieder einen Körper hatte, neue Schrecken über Mittelerde bringen würde? Obwohl sie direkt auf dem kalten Steinboden lag und schon fröstelte, bewegte Rowenna sich keinen Zentimeter. Mit leerem Blick starrte sie in den Raum und ignorierte weiter das Rufen von Legolas und Nûemyn, die noch vor der Tür standen und versuchten, sie zum Aufschließen zu überreden. Ihre Stimmen, auch wenn sie noch so krampfhaft versuchte sie auszublenden, riefen dennoch etwas in ihr wach, was sie nicht wahrhaben wollte. Nämlich, dass nicht Sauron es war, der ihr das Gefühl gab, dass nicht nur ihre Haut immer kälter wurde. Es ging keine Gefahr von ihm aus, es war geradezu lächerlich, wie gut sein Geist nach Verlust der Sünden geworden war. Das war es nicht, weshalb Rowenna ihre Tat bereute.
Es waren die Blicke gewesen. Zuerst Legolas und Nûemyn, dann alle, die herbeigerufen und mit knappen Worten von Nûemyn eingeweiht wurden. Der Heiler, einige Mädchen, die vom Lärm angelockt wurden. Wie komisch, dass Rowenna diesen Lärm gar nicht gehört hatte. Sie alle hatten um sie herumgestanden und keiner hatte ein Wort herausgebracht. Sie hatte einen Toten zurück ins Leben geholt, zumindest dachten sie das.
Aber wieso?, dachte Rowenna und schloss die Augen. Das Licht, dass die Sonne durch die Fenster schickte, blendete sie plötzlich. Ich habe doch Legolas auch wiedergeholt. Zwar war er noch nicht lange tot, aber trotzdem... Sie erinnerte sich wieder an den Tag, als die kleine Gruppe Orks den Palast angegriffen hatte. Sie erinnerte sich auch noch daran, wie erschrocken alle gewesen waren, als sie Legolas, nachdem sein Tod verkündet worden war, wieder lebendig sahen. Also war war jetzt anders? Sosehr sie sich auch zu konzentrieren versuchte, es wollte ihr einfach nicht einfallen.
Aber die Blicke ließen sie einfach nicht los. Sie konnte sie nicht einmal beschreiben. Sie waren erstaunt gewesen ... Nein, das traf es nicht ganz. Ehrfürchtig... schon eher. Furcht... das war es. Sie hatten Angst vor ihr gehabt, sogar Legolas und Nûemyn. Nur kurz, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde lang, doch jetzt, nachdem er sich in ihre Gedanken eingebrannt hatte, schien dieser Augenblick sich plötzlich ins Unendliche zu dehnen. Warum hatten sie Angst vor mir? Sie traute sich kaum aufzustehen, doch sie konnte hier nicht so liegen bleiben. Die Kälte war ihr schon in die Glieder gekrochen und hatte ihre Muskeln steif werden lassen, sodass ihr Körper bei jeder Bewegung schmerzte. Wie lange hatte sie denn hier gelegen? Es war ihr nur vorgekommen wie wenige Minuten. Doch das Klopfen und Rufen an der Tür hatte schon vor einer Ewigkeit aufgehört, und es schien ihr auch, als stünde die Sonne nicht mehr dort, wo sie gestanden hatte, bevor sie die Augen geschlossen hatte.
Sie zögerte, die Tür aufzuschließen. Sie hatte Angst, jemandem zu begegnen. Schließlich überwand sie sich und öffnete die Tür einen Spalt. Als nichts geschah, schob sie sie weiter auf, hielt jedoch inne, als sie das Geräusch von sich aneinanderreibender Kleidung hörte. Dann trat Legolas in ihr Blickfeld. Er hatte offensichtlich auf dem Gang gewartet. Zögernd ließ sie ihn ein und schloss nach einem letzten Blick auf den Gang die Tür hinter ihm. Es war an der Zeit, einige Dinge zu klären.
Nachdem Legolas wieder gegangen war, saß Rowenna einfach still auf ihrem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und dachte nach. Sie hatten hauptsächlich darüber gesprochen, wie sie Donvan - oder Sauron, dachte sie, doch davon wusste Legolas ja nichts, und sie hatte auch nicht vor, es ihm zu sagen - wieder zum Leben erweckt hatte. Ihr Gespräch hatte nicht besonders lange gedauert, auch wenn es ihr wie Stunden vorgekommen war. Nun wusste sie auch, weshalb die anderen sie auf diese Weise angesehen hatten, doch sie wusste nicht, ob es sie beruhigen sollte. Ein helles Licht, hatte Legolas es genannt. Und dann, als er versucht hatte, es weiter zu beschreiben: Wie aus einer anderen Welt. Obwohl er das in keinster Weise böse gemeint hatte, so hatte er ihr doch damit deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht hierher passte. Sie würde immer anders bleiben, selbst falls sie sich irgendwann einmal an die Umgangsformen gewöhnen sollte. Ihre Kräfte ließen einfach nicht zu, dass sie sich einer Gemeinschaft wirklich zugehörig fühlte, denn niemand konnte ihre Gefühle nachempfinden oder ihr helfen, wenn sie Probleme hatte.
Eine Träne löste sich aus ihrem Auge. Sie konnte so nicht leben. Zuerst musste sie sich über sich selbst klar werden und lernen, sich und ihre Kräfte zu beherrschen. Das konnte sie hier nicht tun, so gerne sie auch bei den beiden einzigen Freunden, die sie in dieser Welt hatte, geblieben wäre. Doch im Palast würde sie bei allem, was sie tat, Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie brauchte Ruhe und Abgeschiedenheit, doch das, was sie am meisten brauchte, war Zeit. Zeit, die sie sich einfach nehmen musste, und die nicht durch verhältnismäßig kleine Probleme gestört werden durfte. Doch wohin sollte sie gehen - außer hier im Palast kannte sie niemanden. Die ganze Zeit schon hatte sie sich mit diesen Gedanken gequält, Legolas gegenüber davon jedoch kein Wort erwähnt. Aber irgendjemanden musste sie ins Vertrauen ziehen, schließlich konnte sie nicht einfach aufbrechen und sehen, wohin sie kam. Rund um den Palast war überall Wald, und sie wusste nicht, wohin die Straßen führten. Außerdem hatte sie kein Geld und wusste nicht einmal, welche Beeren oder anderen Früchte man essen konnte und welche giftig waren. Ganz davon abgesehen konnte sie weder jagen noch kämpfen und wäre sicher schnell einer Bande Räuber - oder noch schlimmer, Orks - zum Opfer gefällen. Nein, sie musste mit jemandem reden. Und in diesem Moment fiel ihr ein Sprichwort ein: Eine Hand wäscht die andere. Es gab da doch noch jemanden, der ihr einen sehr großen Gefallen schuldig war.
Sie fand Donvan - sie zwang sich dazu, ihn nicht mehr Sauron zu nennen, sonst wäre ihr der Name vielleicht irgendwann versehentlich herausgerutscht - in einem der Gästezimmer wenige Türen weiter von seinem ursprünglichen. Anscheinend waren seine Verletzungen nicht so schlimm gewesen, dass er rund um die Uhr bewacht werden musste, denn als Rowenna ankam, fand sie ihn alleine vor. Die schweren Vorhänge waren halb zugezogen und tauchten den Raum in ein schummriges Halbdunkel, in dem man aber noch genug erkennen konnte, um nicht vor Möbelstücke zu stoßen. Zögernd trat Rowenna ein und ging zu dem Bett hinüber. Sein Kopf war das einzige, was unter der Decke herausschaute, doch als sie näher kam, setzte er sich mühevoll auf. Anscheinend hatte er noch Schmerzen, denn seine Züge verhärteten sich bei jeder Bewegung. Doch dann lächelte er herzlich. "Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, mich bei dir zu bedanken", brachte er hervor, und seine Stimme hörte sich noch etwas rauh an. "Was du für mich getan hast... ist so unglaublich. Ich hatte jede Hoffnung auf Leben schon aufgegeben..." Er stockte mehrmals und schluckte dann. Rowenna goss etwas Tee aus einer Kanne, die auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand, in eine Tasse und reichte sie ihm. Er lächelte dankbar und trank einen Schluck. Dann stellte er die Tasse auf das Nachtschränkchen und hätte dabei beinahe ihren Inhalt verschüttet. Bevor er zu einer weiteren Dankeshymne ansetzen konnte, ergriff Rowenna schnell das Wort: "Ich habe viel nachgedacht", begann sie zögernd. Es fiel ihr nicht leicht, sich diesem praktisch völlig Fremden anzuvertrauen, selbst wenn sie nicht näher ins Detail gehen würde. "und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich hier nicht bleiben kann." Sie wartete sein verständnisvolles Nicken ab um zu sehen, dass er sie verstanden hatte. "Ich würde gern für eine Weile - oder für immer - weggehen. Doch ich kenne mich hier nicht aus und habe auch keinerlei Mittel. Mir gehört nicht einmal das Kleid, das ich trage", meinte sie und versuchte ein Lächeln.
"Aber du musst fort... dieses Gefühl kenne ich. Weißt du schon wohin du gehen willst?" Wieder nahm er einen Schluck Tee und stellte die Tasse danach in einem ähnlich wackligen Manöver wie zuvor wieder zurück.
"Das ist mein Problem - ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Ich würde gerne Ruhe haben, vielleicht auf irgendeinem entlegenen Hof leben oder im Wald... Hauptsache, es ist einsam. Ich dachte, vielleicht könntest du mir helfen, denn ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte."
Wieder ein verständnisvolles Lächeln, dann Stille. Er dachte nach, das sah sie seinem konzentrierten Gesichtsausdruck an. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. "Weißt du, ich hätte da eine Idee...", sagte er.
Als Rowenna eine Stunde später das Zimmer verließ, wusste sie nicht recht, ob sie sich freuen oder weinen sollte. Denn jetzt war es klar; sie hatte nun keinen Grund mehr, noch länger hier zu bleiben. Gut, eine Weile würde es wohl noch dauern, bis Donvan wieder vollends genesen war... Aber dann musste sie Abschied nehmen. Dann gab es kein Zögern mehr... Dann musste sie sich sicher sein. Doch genau diese Sicherheit, die sie für ihr Vorhaben so dringend brauchte, fehlte ihr im Moment noch. Jetzt war alles nur noch ein großes Durcheinander... Und sie wusste, dass es nichts bringen würde, wenn sie noch länger darüber nachdenken würde. Ein pochender Schmerz in ihrem Kopf bestärkte diesen Gedanken. Sie brauchte dringend etwas Zerstreuung. Ziellos lief sie durch die Gänge und merkte nicht, dass sie unbewusst den Weg zur Küche gewählt hatte. Erst, als sie direkt vor der weit geöffneten Tür stand und den Lärm wahrnahm, klärte sich ihr Blick wieder. Suchend sah sie sich um und entdeckte Nûemyn, die nicht weit von ihr einen riesigen Berg Gemüse schnitt. Gerade legte sie das letzte Stück auf das riesige Holzbrett und hackte es mit geübten Schnitten in kleine Würfel. Erst, als sie diese Arbeit beendet hatte, sah sie hoch und bemerkte Rowenna. Sie wechselte einige Worte mit einer der Köchinnen und und kam dann zur Tür herüber. "Ich habe gesagt, dass ich dringend von einem Gast gerufen wurde", erklärte sie ihrer Freundin und wischte ihre Hände an der einstmals wohl weißen Schürze ab, die sie sich umgebunden hatte. "Es hat auch sein Gutes, wenn man ständig durch alle Zimmer hetzen muss. Niemand fragt, wenn ich einfach gehe." Sie entledigte sich ihrer Schürze und hängte sie an einen Haken nahe der Tür. Dann schob sie Rowenna aus der Küche in den Gang, wo es deutlich kühler war, da die Hitze des Herdes fehlte.
Sie gingen einige Schritte, dann blieb Nûemyn plötzlich stehen und sah Rowenna durchbohrend an. "Was ist los?", fragte sie besorgt. "Geht es dir nicht gut?"
Rowenna verfluchte wieder einmal die Fähigkeiten der Elben, jedes kleine Gefühl sofort wahrzunehmen. Doch wahrscheinlich hätte sogar ein Zwerg erkennen können, dass es ihr schlecht ging; sie hatte nicht in den Spiegel gesehen, aber so, wie sie sich fühlte, musste sie sehr blass aussehen. Nachdem sie nichts sagte überlegte Nûemyn kurz und schien dann eine Idee zu haben. "Du gehst je wieder schön in dein Zimmer. Ich komme gleich nach", bestimmte sie und eilte auch schon davon.
Rowenna hatte sich auf ihr Bett gelegt und tat genau das, wovon sie sich eigentlich hatte abhalten wollen: Sie grübelte. Dabei hatte sie ihre Stirn in Falten gelegt und starrte kritisch auf eine Vase mit Blumen, die auf dem Tisch stand. Dann klopfte es, und sie hob widerwillig den Kopf. Nûemyn kam herein und schob einen kleinen Wagen vor sich her, wie er auch zum Servieren von Speisen benutzt wurde. Er war mit einem weißen Tuch verdeckt, und auf ihm standen drei Krüge, die bis zum Rand mit Wein gefüllt waren. Die Elbe schob den Wagen bis in die Mitte des Zimmers und blickte sich dann beifallheischend um. "Wenn das nicht reicht, um dich wieder zum Lachen zu bringen, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Ach übrigens, ich habe Legolas unterwegs getroffen; er kommt in ein paar Minuten auch vorbei. Ich hoffe das ist dir recht. Aber wir können ja schon anfangen..." Sie nahm einen von den drei Bechern, die ebenfalls auf dem Wagen standen, und füllte ihn bis oben. Dann reichte sie ihn Rowenna, die skeptisch eine Augenbraue nach oben zog. "Du willst mich abfüllen?" Sie nahm den Becher zwar an, stellte ihn aber sofort auf ihr Nachtschränkchen, ohne einen Schluck getrunken zu haben. "Danke, aber ich habe schon Kopfschmerzen, die mir fürs Erste wirklich reichen."
Bevor Nûemyn noch etwas erwidern konnte, klopfte es wieder, und Legolas steckte seinen Kopf zur Tür herein. "Guten Tag die Damen", sagte er höflich, jedoch mit einem verschmitzten Lächeln. Dann stieß er die Tür ganz auf und gab den Blick auf ein kleines Holzfass frei, dass er mit beiden Armen umklammert hielt. "Ich dachte mir, nach der Anstrengung der letzten Tage haben wir uns ein kleines Schlückchen verdient..." Erst jetzt sah er den Wagen mit den Krügen darauf. "Aber wie es scheint, seid ihr schon vor mir auf diese Idee gekommen... Nun ja, ein bisschen mehr kann auch nicht schaden." Er schob die Tür mit einem Fuß zu und balancierte dann das Fass zum Tisch hinüber, wo er es vorsichtig abstellte.
Rowenna sah verwirrt von einem zum anderen und überlegte, was sie sagen sollte. Sie wollte zwar nicht unhöflich sein, aber das wurde ihr doch alles ein wenig zu viel. "Also, ich...", setzte sie an. Nûemyn hatte schon zwei weitere Becher gefüllt und einen davon Legolas gereicht. Beide setzten sich nun einfach zu Rowenna auf das Bett, die wohl oder übel ein Stück zur Seite rücken musste und sich schließlich hinsetzte. Legolas drückte ihr ihren Becher wieder in die Hand und widerwillig nahm sie einen Schluck.
Eine Stunde später. Die Krüge waren geleert und auch Legolas' Fass wurde schon von beträchtlich viel Luft statt Wein ausgefüllt. Die drei Freunde lagen auf dem Bett, lachten und redeten durcheinender und auch Rowenna hatte nach dem dritten Becher angefangen, sich am Gespräch zu beteiligen. Als sie jetzt versuchte aufzustehen, schwankte die Welt um sie herum schon beträchtlich und sie musste die Arme ausstrecken, um das Gleichgewicht zu halten. Legolas sah das und stubste sie von seiner Position am Rande des Bettes so an, dass sie beinahe umgefallen wäre. Dabei kicherte er vergnügt wie ein kleines Kind und verschüttete ein Paar Schlucke des Weines auf die Bettdecke. Betroffen starrte er darauf und lenkte damit Nûemyns Aufmerksamkeit auf sich. "Leck es doch ab", schlug sie hilfsbereit vor und schenkte sich selbst einen neuen Becher ein. Als er ihr auffordernd seinen Becher hinhielt, der nun nur noch halb voll war, schob sie das Fass, dass neben ihr auf dem Boden stand, schnell einige Zentimeter weit weg, um es aus seiner Reichweite zu entfernen. "Nix da", bestimmte sie, "wenn du immer alles verschüttest."
Rowenna hatte in dieser Zeit endlich ihr Gleichgewicht wiedergefunden, dummerweise erst, als sie schon auf dem Boden saß. Glücklicherweise war ihr Becher, der ihr vor Schreck aus der Hand rutschte, nur noch halb voll. Er flog einige Zentimeter und landete dann kurz vor dem Bett auf dem Boden, wobei er seinen Inhalt großzügig verteilte. Da er sich in der Luft drehte, landete auch ein bedächtlicher Teil auf Legolas' Tunika, ein anderer auf dem Boden. Der Elb, mit dieser Situation nun völlig überfordert, lenkte seinen Blick widerwillig von dem Fleck, den er verursacht hatte, zu dem, der sich nun auf seiner Tunika ausbreitete. Er öffnete seinen Mund um etwas zu sagen, doch er brachte nur ein weinerliches Geräusch heraus, das unweigerlich an ein dreijähriges Kind erinnerte. "Ist doch nich so schlimm, Leggilein", tröstete Nûemyn ihn und tätschelte seine Schulter. "Papi kauft dir eine Neue... Noch Wein?" Da vergaß Legolas seinen Kummer und hielt ihr seinen Becher hin, den er zuvor mit einem großen Schluck geleert hatte.
"Kinder", sagte Rowenna und stand vom Boden auf, wobei sie sich ihr Hinterteil rieb, auf dem sie zuvor etwas unsanft gelandet war, "ich glaube, es reicht." Legolas sah sie ungläubig an. "Wie meinst du das denn? Willst du schon aufhören?"
"Nein, ich meinte nur, wenn ihr so weiter trinkt, bleibt für mich nichts mehr übrig. Also habt ihr jetzt genug. Her mit dem Fässchen!"
Legolas seufzte erleichtert auf. Als er jedoch erkannte, dass er mit "ihr" auch gemeint war, weiteten sich seine Augen vor Schreck und er rutschte über das Bett in Richtung des Weinfasses, das Nûemyn jedoch erfolgreich aus seiner Reichweite entfernt hatte. "Och, ihr seid ja so gemein!", grummelte er vor sich hin und trank schnell seinen Becher leer, als hätte er Angst, auch dieser könnte ihm noch genommen werden. "Seht ihr, ich hab gar nichts mehr. Und außerdem hab ich auch noch fast gar nichts gehabt!" Endlich schaffte er es, das Fass zumindest mit den Fingerspitzen zu berühren. Vor lauter Eifer rutschte er aber etwas zu weit und fang sich kurz darauf wie schon Rowenna zuvor auf dem Boden wieder. Nûemyn überlegte, ihm das Fass wieder ein Stückchen weit wegzuziehen, ließ es dann aber bleiben und hielt ihm stattdessen auch ihren Becher zum Befüllen hin.
Nach zwei weiteren Stunden war Ruhe eingekehrt: Legolas lag quer auf dem Bett, Nûemyn an einer Ecke. Rowenna hatte am entgegengesetzten Ende gelegen, setzte sich nun aber auf. Ein lautes Schnarchen ertönte, und sie konnte nicht genau definieren, von wem es gekommen war. Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Sie fühlte sich völlig nüchtern, und auch ihr Gang war absolut sicher. Im ersten Moment wunderte sie sich darüber, doch dann erinnerte sie sich, dass ihr ähnliches vor kurzem schon einmal widerfahren war. Anscheinend hatte sie wirklich die Fähigkeit, Alkohol in einem unheimlichen Tempo abzubauen.
Draußen war es dunkel, und das Licht der wenigen Kerzen, die sie angezündet hatten, spiegelte sich in den Fensterscheiben.
Es ist Zeit, zu gehen.
Zuerst ignorierte sie diesen Gedanken und beobachtete weiter die Bäume, die sich draußen im Wind neigten. Doch dann hörte sie ihn wieder: Es ist Zeit zu gehen, Rowenna. Erst jetzt bemerkte sie, dass es nicht ihr eigener Gedanke gewesen war. Sie musste sich wohl erst noch daran gewöhnen, dass sie nun auch andere Stimmen in ihrem Kopf hören konnte, und noch war sie sich uneins, ob sie sich darüber freuen sollte. "Zeit, zu gehen", wiederholte sie die Worte leise und stand dabei so nah vor der Scheibe, dass diese ein wenig beschlug. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern, wo er schließlich auf dem Bett hängen blieb, auf dem Legolas und Nûemyn lagen und schliefen. Doch ihr Zögern dauerte nur kurz. Sie hatte sich bereits zu diesen Schritt entschlossen und nun würde sie ihre Entscheidung nicht mehr ändern. Sie wusste, dass es so das Beste war, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte.
Nun ging sie zu ihrem Schrank und nahm ihre Tasche heraus, die dort schon fertig gepackt und verschnürt auf sie wartete. Sie stellte sie auf dem Boden ab und nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken neben der Tür. Bevor sie ihn überzog, bewegten sich ihre Füße jedoch noch einmal wie von selbst zu den beiden schlafenden Personen. "Macht es gut, ihr beiden", flüsterte Rowenna leise, obwohl sie auch lauter hätte sprechen können, ohne sie aufzuwecken. "Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen werden. Aber ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt." Sie strich Nûemyn zärtlich eine Locke aus dem Gesicht und gab Legolas einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor sie den Mantel überstreifte und ihre Tasche nahm. Als sie das Zimmer verließ, traute sie sich nicht, noch einen Blick zurückzuwerfen, da sie nicht wusste, ob sie ihre Entschlossenheit dann noch würde aufrecht erhalten können. Die Tür fiel ins Schloss und das leise Klicken löste bei Rowenna einen eisigen Schauer aus. Ja, es war an der Zeit, zu gehen, und genau das würde sie nun tun.
Rowenna verließ den Palast durch die kleine Tür an der Rückseite. Als sie in die kühle Nachtluft hinaustrat, fühlte sie sich gleichzeitig befreit und ängstlich; sie wusste nicht, was als nächstes kommen würde, und nun war sie allein. Nein, das stimmte nicht, denn in diesem Moment trat eine Gestalt auf sie zu. "Bist du fertig?" Rowenna nickte. Gemeinsam gingen sie zum Ende des Platzes, wo Donvan an einem Baum zwei Pferde angebunden hatte. Er befestigte Rowennas Gepäck am Sattel des einen und stieg dann auf das andere. Rowenna war keine gute Reiterin, genau genommen hatte sie kaum mehr als ein halbes dutzend Mal überhaupt auf einem Pferd gesessen, doch ihre Kenntnisse würden reichen müssen. Denn sie wusste, dass sie zu Fuß viel zu langsam wären und andere Transportmittel gab es nicht.
Sie sprachen kaum ein Wort, während sie den Hof verließen. Die Stimmung war gedrückt, denn beide hatten ein schlechtes Gewissen ob ihrer heimlichen Abreise. Doch Rowenna wusste, dass dies für sie die einzige Möglichkeit war. Andernfalls hätten Legolas und Nûemyn sie zum Bleiben überredet, doch das konnte sie nicht zulassen. Zuerst musste sie ihren Platz in dieser Welt finden.
Und auch Donvan hatte Gründe für den hastigen Aufbruch. Er konnte nicht unter der Last dessen leben, was beinahe geschehen wäre und jeden Tag denen begegnen, die er um ein Haar getötet hätte. Er brauchte genau wie Rowenna einige Zeit und Ruhe, um mit der neuen Situation klarzukommen und zu dem zu werden, für den er gehalten wurde: ein ehrenwerter Elb. Er musste sich von der Vergangenheit lösen, und das konnte er nicht, wenn er ihr jeden Tag begegnete.
In den ersten Stunden sprachen sie kein Wort. Nur das Geräusch der Hufe auf dem Waldboden durchschnitt die Stille. Irgendwann breitete sich ein roter Schimmer über allem aus, doch die Zeit bis dorthin kam Rowenna unendlich lang vor. Schon nach kurzer Zeit wusste sie nicht mehr, wie sie auf dem Sattel sitzen sollte, und ihre Knochen begannen wehzutun. Also veränderte sie alle paar Minuten ihre Sitzposition, wobei eine so gut war wie die andere.
Die Stille ließ ihr viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Sicher schliefen Legolas und Nûemyn noch, ausgestreckt auf ihrem Bett, und erwarteten, am Morgen mit ihr aufzuwachen. Was würden sie denken, wenn sie erfuhren, dass sie nicht mehr da war? Sicher würden sie sich verraten fühlen, und das war der Punkt gewesen, der Rowenna beinahe zum Bleiben gebracht hätte. Es tat ihr im Herzen weh, ihren Freunden, denen sie so viel zu verdanken hatte, wehzutun.
Du tust das Richtige, sagte sie sich immer wieder. Ja, vermutlich tat sie das. Aber warum tut es dann so verdammt weh?
Weil es niemals einfach war, das Richtige zu tun.
