7. Kapitel
„Aniron", las Drizzt seinen beiden Freunden das Ortschild vor, „Wir sind da".
Der Waldläufer zog sich bei seinen eigenen Worten den Umhang fest um seinen Körper. Damit wollte er sich einmal vor dem kalten Wind schützen, dem sie schon mehr als zwei Wochen ausgesetzt waren, und gleichzeitig die beiden Krummsäbel vor neugierigen Blicken verbergen.
Vor vier Tagen passierten sie die Stadt Yartar und ritten fast fünfzig Meilen nordöstlich auf der Handelsstraße weiter. Es war die gleiche Straße, wo sie den Kaufmann Renn getroffen hatten und die auf der Route zwischen Triboar und Silbrigmond lag. Seit diesem Zusammentreffen, begegneten die drei Gefährten keinem Menschen mehr und der Ort vor ihnen, war die erste bewohnte Siedlung seit Yartar.
Ein Quengeln war von Diana zu hören und erinnerte Artemis daran, dass sie sich beeilen sollten. Am heutigen Tag hatte die Sonne kräftig ihre Wärme abgegeben, doch dafür würde die Nacht kalt werden. An diesem Morgen war der erste Raureif auf den Gräser, Sträucher und Blätter der Bäume zu erkennen gewesen.
"Wieso zögern wir noch?", fragte Entreri seine beiden Freunde. Ein ängstlicher Unterton in seiner immer festen Stimme verriet Jarlaxle und dem Waldläufer sehr viel. Denn auch sie hatten Angst. Wenn das Schauspiel, wie bei dem Kaufmann Renn vor einigen Tagen nicht funktionieren würde, wäre eine ganze Stadt gegen sie. Damit konnten nicht mal die drei Freunde zusammen fertig werden und ihre schlimmste Befürchtung war, sie könnten Diana dabei verlieren, falls sie hier vor ein Gericht gestellt wurden. Sie bauten sich schon seit einigen Stunden mit einigem Wortgeplänkel selbst auf, dass ja Drizzt Do'Urden bei ihnen wäre und Artemis seine Vaterrolle ernst nahm.
"Dann auf in die Höhle des Löwen!", antwortete Entreri Jarlaxle und trieb sein Pferd voran. Der Waldläufer und der Drow sahen sich ein letztes Mal an, nickten sich zu und ritten hinter dem Mann in die Stadt.
Jarlaxle hatte seinen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, seinen Umhang wie Drizzt fest um seinen Körper gewunden und beobachtete neugierig die Menschen auf den Straßen. Doch sie schienen kaum Notiz von den Reitern zu nehmen. Vielleicht wegen der Tatsache, dass es eine kleine Handelsstadt war, die an immer neue Reisende gewöhnt zu sein schien. Außerdem bot ihnen die Dunkelheit des Abends Schutz, so wurde die Hautfarbe der beiden Drows nicht auf den ersten Blick bemerkt. Drizzt hatte seine Kapuze des Umhanges über den Kopf gezogen und verbarg somit seine langen weißen Haare. Nur Artemis ritt offen durch die Straßen, mit dem kleinen Bündel vor seiner Brust.
Vor dem Wirtshaus „Taverne zum Tanz der Feen", am Rand der Stadt, hielt Entreri an.
"Wie wäre es mit diesem hier?", kam daraufhin die Frage an die beiden Freunde.
"Alles ist besser als nichts", antwortete ihm Jarlaxle trocken. Drizzt war in diesem Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er überhaupt die Frage des Mannes gehört hätte. Dem Waldläufer gefiel der Gedanke nicht, dass Artemis hier der Vater von Diana sein sollte. Erst als er sah, dass seine beiden Freunde von ihren Pferden gestiegen waren, wurde er aus seinen Überlegungen gerissen.
Nun standen sie zu Dritt vor einem alten, aber nicht heruntergekommenen Gebäude, was teils aus Holz und teils aus Stein gebaut worden war. Aus den kleinen Fenstern fiel Licht auf die Straße und ein Stimmengewirr drang an ihre Ohren.
"Scheint wohl gut besucht zu werden", kam die Feststellung von Artemis, der dabei einen leisen Seufzer ausstieß. Der Mann gestand sich damit ein, dass er Angst um seine Freunde hatte. Ja, sagte Entreri zu sich selbst, er mochte die beiden Dunkelelfen. Jarlaxle war seit mehr als fünf Jahren sein Freund. Und so seltsam auch die ganze Angelegenheit war, er akzeptierte den Waldläufer genauso, wie er sich gab. Kein Hass war mehr zwischen ihnen. Es war das kleine Wesen, was er in den Armen fest vor sich hielt, dass diese Angelegenheit ein für alle mal aus der Welt geschaffen hatte.
Artemis schaute nochmals kurz über seine Schultern und nickte den beiden Freunden zu. Dann öffnete er die Tür und schritt erhobenen Hauptes in den warmen Schankraum hinein. Der Mann ging geradewegs auf die große Theke zu, die auf der anderen Seite zu erkennen war, direkt an vielen kleinen und großen Tischen vorbei, an dem soeben noch sich die Gäste fröhlich miteinander unterhielten. Ihm dicht auf den Fersen folgten Drizzt und Jarlaxle. In ihren Augenwinkeln konnte beide Drows erkennen, wie einige nach ihren Waffen suchten und andere bereits versteckt die Waffen kampfbereit umklammert hielten.
"Guter Herr, bestünde die Möglichkeit, dass ich hier mit meiner Tochter und meinen beiden Freunden Zimmer für die Nacht bekommen könnte?", sprach Artemis den Wirt mit fester Stimme an, als er vor der Theke stand. Doch der Gastwirt starrte nur mit großen Augen an ihm vorbei, herüber zu den Dunkelelfen.
"D r o w s!", stotterte der Mann.
Entreri räusperte sich, um die Aufmerksam wieder auf sich zu lenken und antwortete, „Entschuldigt, guter Herr. Ich vergesse stets meine beiden Begleiter vorzustellen". Dabei drehte er sich so, dass er mit seinem rechten Arm nun auf den Waldläufer zeigen konnte und sprach weiter, „Darf ich ihnen vorstellen, dass hier ist Drizzt Do'Urden, der Held aus Zehn-Städte, der Beschützer von Mitrhil-Halle".
Bei diesen Worten zog Drizzt seine Kapuze herunter, so dass sein langes weißes Haar und somit auch sein Gesicht zum Vorschein kamen. Dann machte er eine Verbeugung zu dem Wirt. Nach einem kurzen Augenblick der Stille, räusperte sich Artemis erneut und sprach daraufhin weiter, „Und dies hier ist sein Freund Jarlaxle". Er zeigte sodann mit seiner Hand auf den Drow hinter dem Waldläufer. „Ich bin in Begleitung dieser zwei tapferen Krieger, die mich und meine Tochter auf meinem langen und schwierigen Reise nach Silbrigmond beschützen".
Und wie auf Kommando ließ Diana ein Quengeln von sich hören und streckte eines ihrer kleinen Ärmchen aus der Mulde.
Die unheimliche Stille, die sich in diesem Raum bei ihrer Ankunft ausgebreitet hatte, wurde gespenstisch. Nichts, bis auf das Quicken des Babys war zu hören. Doch vor den drei Gefährten schien der Wirt, sein angespanntes Gesicht in ein Lächeln überzugehen. Ob es nun Diana zu verdanken war oder ob Entreri überzeugend genug gesprochen hatte, konnte später niemand mehr sagen. Der Mann antwortete überraschend in einem freudigen Ton.
„Drizzt Do'Urden! Wer kennt ihn nicht. Er entspricht den Beschreibungen meines Cousins. Er wohnt in Bryn Shander. Von ihm habe ich jede Kleinigkeit der berühmten Schlacht um das Eiswindtal erfahren. Sie sehen genauso aus, wie in den Erzählungen von Muar und jetzt stehe ich dem leibhaften Held gegenüber. Ich fühle mich zutiefst geehrt". Daraufhin war es der Wirt, der sich vor dem Waldläufer verbeugte.
Nun löste sich auch die innere Anspannung von Jarlaxle, der jedoch die ganze Zeit relativ zuversichtlich war. Ihm gefiel die Vorstellung seines Freundes. Und Drizzt, dessen Name nicht nur in Menzoberranzan sondern auch auf der Oberfläche bekannt war, schien sich immer mehr als Glücksfall zu erweisen. So sprach der Drow, „Was für ein Glück".
Erst als der Wirt mit den Worten „Auch euch grüße ich, Freund des bekannten Drizzt Do'Urden", antwortete, bemerkte Jarlaxle, dass er laut gedacht hatte. Wenn der Mann nur wüsste, wen er da soeben herzlich begrüßte, dachte der gewiefte Dunkelelf und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Der Schankwirt verstand natürlich diese Geste anders, als sie gemeint war. Doch Artemis deutete sie richtig und fiel in das gleiche verschmitzte Lächeln mit ein.
Es sprach sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt Aniron herum, dass Drizzt Do'Urden hier weilte. Der Waldläufer musste immer wieder die Geschichten um die Schlacht bei Mithril-Halle und von Zehn-Städte erzählen. Viele neugierige Menschen kannten hier und da bruchstückhafte Berichte darüber. Aber jetzt war jemand in ihre Stadt gekommen, der selbst dabei gewesen war.
Während Drizzt an einem Tisch im Wirthaus „Taverne zum Tanz der Feen" saß und vielen Bewohner gerade erzählte, wie er mit seinen Freunden damals in der Zwergenfeste kämpfte, machten es sich dagegen Artemis und Jarlaxle an einem kleinen Tisch in der Nähe des Kamins gemütlich. Beide Freunde saßen auf einer Bank direkt an der Wand. Diana lag in einem Weidekorb, der mit einer weichen Wolldecke ausgelegt wurde und zusätzlich eine weitere Decke, womit das Baby zugedeckt war. Das Kind schlief. Es waren beides Geschenke zweier Frauen, die vor einer Woche bei ihrer Ankunft in diesem Wirtshaus gesessen hatten, als Artemis seine tragische Geschichte über den Tod seiner Frau und die Reise nach Silbrigmond erzählte. Und jeder glaubte ihm. Den Einzigen, den die Bewohner stets mit einem skeptischen Blick begutachteten, war Jarlaxle. Sein Äußeres missfiel ihnen. Doch daran störte sich der Drow nie. Vor ihnen standen zwei Becher, jeweils gefüllt mit Honigwein.
Die drei Freunde brauchten sich endlich keine weiteren Sorgen um den Winter zu machen. Mit dem Wirt, sein Name war Artor, trafen sie die Vereinbarung, für den Preis von zweihundert Goldstücken, drei Zimmer im ersten Stockwerk bewohnen zu können. Ihre Versorgung wurde durch Drizzt's Anwesenheit so bequem wie möglich gemacht. Sie konnten soviel Essen und Trinken, wie sie wollten und für die kleine Diana wurde auch gesorgt.
Jarlaxle beobachtete gerade wieder die attraktive junge Frau, die soeben aus der kleinen angrenzenden Küche, hinter die Theke getreten war. Ihr Name lautete Tricia. Mit langen schwarzen Haaren, die ihr wallend über die Schultern fielen, ihren tiefgrünen Augen und dem schlanken Körperbau, war der Drow nicht ganz uninteressiert an ihr. Sie war die Tochter des Wirtes Artor, wie sich herausstellte.
Artemis sah ebenfalls zu der jungen Frau, die soeben beschäftig war, zwei neue Becher mit Honigwein zu füllen. Als Artemis Tricia zum ersten Mal gesehen hatte, fand er sie, wie sein Freund ebenfalls attraktiv. Doch gleich an ihrem ersten Abend in dem Wirtshaus, geriet der Mann in eine heftige Diskussion mit ihr. Ein Wort gab das andere und Jarlaxle war dabei sehr amüsiert darüber. Genau die Art Frau, die sein Freund gebrauchen könnte. In ihrer eigentlichen Auseinadersetzung ging es nur um ein Thema. Tricia hatte angeboten, Artemis bei der Versorgung des Babys zu helfen. Doch Entreri war schon immer ein sturer Mann und wollte nicht, dass Diana in fremde Hände gegeben werden sollte. Er hatte stets ein wachsames Auge auf den Weidekorb neben sich. Drizzt und Jarlaxle konnten nach stundenlangen Gesprächen, den Mann endlich dazu bringen, dass die Frau bei der Versorgung des Säuglings nützlich wäre. Das Argument, Tricia wüsste weit aus mehr über Kinder als einer der drei Freunde, durchbrach dann endlich die Sturheit von Artemis. Seine beiden Freunde waren ebenfalls sehr bekümmert, doch niemand von ihnen hatte jemals ein Kind großgezogen, und Diana würde ja, trotz der Fürsorglichkeit von Tricia, unter ihrem Schutz stehen.
"Achtung, sie kommt", flüsterte gerade Jarlaxle seinem Freund zu und ließ ein Grinsen auf seinem Gesicht aufblitzen. „Sie wird dich wieder fragen, also sage jetzt endlich ja".
Der Drow vernahm ein Grummeln neben sich und sein Lächeln wurde noch breiter.
"Hier bitte!", erklang die Stimme der jungen Frau, die soeben an den Tisch der zwei Freunde getreten war und ihnen zwei neue Becher Honigwein hinstellte. Wobei sie bei dem Becher von Artemis zögerte und ihn mit einem scharfen Blick bedachte.
Tricia sah diesen Mann vor sich mit zwei verschiedenen paar Augen. Auf der einen Seite war er sehr attraktiv, wie sie es sich selbst eingestehen musste. In seinen grauen Augen lag etwas Geheimnisvolles, was sie anzog. Dann gab es seine Fürsorglichkeit für seine Tochter, er liebte sie abgöttisch, was nicht zu übersehen war. Doch auf der anderen Seite war dieser Mann, den seine Freunde Artemis nannten, die verkörperte Sturheit in Person. Sie hatte ihm angeboten, sich um das Baby zu kümmern. Sie wollte es nicht nur, weil sie ihm helfen wollte, sondern auch, weil sie das Kind sofort beim ersten Augenkontakt ins Herz geschlossen hatte. Tricia fragte sich immer wieder, was der Mann wohl alles durchmachen musste, bis er vor einer Woche aus heiterem Himmel ins Wirtshaus ihres Vaters kam. Sein gepflegtes Äußeres, die grauen Augen, seine schulterlangen schwarzen Haare, sein muskulöser Körper und das bartloses Gesicht hatten es ihr angetan. Doch jetzt funkelten ihre grünen Augen und sie starrte Entreri an, der ruhig und ohne eine Regung vor ihr saß.
"Haben sie es sich überlegt?", fragte Tricia jetzt Artemis mit forscher Stimme. Doch der Mann rührte sich nicht und machte auch keine Anstalten zu antworten.
"Haben sie es sich überlegt?", kam erneut die Frage von der Frau an Entreri.
Er wollte seine Freunde nicht enttäuschen, auch wenn er sich innerlich nicht mit dem Gedanken abfinden konnte, Diana aus den Augen zu lassen. Die Erinnerung an die Nacht vor drei Wochen, als er sich in Gedanken als kleiner Junge in Calimhafen wieder fand, ließ Artemis nicht mehr los. Dann spürte er, dass Jarlaxle's Blick ebenfalls wie der der Frau auf ihn hafteten. Er machte einen tiefen Seufzer und sah dann Tricia direkt in die Augen.
"Ja, sie dürfen Diana versorgen", knurrte Artemis ihr einfach nur entgegen.
