16. Kapitel
Hoffnungslosigkeit
Die Hinrichtung war das Gesprächsthema auf den Straßen der Hauptstadt. So war es auch kein Wunder, dass am nächsten Tag mehr als tausend Menschen sich auf dem Marktplatz von Bryn Shander versammelten, um der Urteilsvollstreckung beizuwohnen. Drizzt, der sich einen Platz durch die dichte Menschenmenge erkämpfte, konnte nicht einmal mehr von Jarlaxle zurück gehalten werden. Vier stämmige Männer der Stadtwache, stellten sich dem jungen Drow entgegen, indem sie ihn fest an den Armen packten, bevor er auf das hölzerne Podest hechten konnte, wo das Urteil vollstreckt werden sollte. Seine Augen waren geschwollen und das Gesicht nass von Tränen. Der Dunkelelf hatte den letzten Tag und die Nacht hindurch weder aufgehört zu weinen noch hatte er geschlafen. Nicht einmal sein Drowfreund war in der Lage, sein Gemütszustand zu lindern. Jarlaxle hegte Hass für die Menschen von Bryn Shander und Cassius, aber er konnte offensichtlich nichts an der Situation ändern, die sich vor seinen Augen abspielte, zumindest nicht ersichtlich. Die Bewohner hätten es auch lieber gesehen, wenn der Drow auf dem schnellsten Wege verschwinden würde. Sie akzeptierten ihn auch nur, weil er ein Freund von Drizzt Do'Urden war.
Doch der immer so gewiefte Dunkelelf hatte eine Lösung für ihr Problem gefunden. Zwei Stunden nach Mitternacht, nahm Jarlaxle seinen Teleportationsstab zur Hand und traf sich mit dem Psioniker Kimmuriel Oblodra in Menzoberranzan. Dieser schuldete ihm immer noch einige kleine Gefälligkeiten und so geschah es auch in der letzten Nacht. Der Drow erfuhr, dass es durch einen kleinen Trick möglich war, das Leben seines Freundes zu retten, doch es musste alles innerhalb von sechs Stunden passieren, sonst würde jede Rettung für den Menschen zu spät kommen. Die Person, die eine seltene Mischung aus bestimmten Kräuter und geheimen Zutaten zu sich nehmen würde, würde nach der ablaufenden Zeit wieder zu Bewusstsein kommen, bevor sie zuvor in einen todesähnlichen Schlaf gefallen war, nur die Hilfe sollte rechtzeitig erfolgen. Dabei würde es bei jedem den Anschein erwecken, dass der leblose Körper tot wäre, das Herz und die Lunge wären dabei auf das Mindeste ihrer Kraft hinabgesetzt. Des Weiteren waren sich auch Beide darin einig, dass wahrscheinlich damit nur der Tod von Artemis aufgeschoben wurde. So war es der Psioniker, der Jarlaxle zuerst drei Heiltränke überreichte und sich für den nächsten Abend, an der Oberfläche im Grat der Welt, verabredete. Auch wenn Kimmuriel es lieber gesehen hätte, dass der Mann tot wäre, konnte er sich den Anweisungen seines Anführers nicht widersetzten. Keine Stunde später kehrte Jarlaxle, zusammen mit einer kleinen Kräuterkugel in seiner Tasche, fröhlich zurück nach Bryn Shander und freute sich bereits innerlich auf den kommenden Morgen. Drizzt bekam von alle dem nichts mit.
Artemis wurde gerade durch die dichte Menschenmenge geführt, umgeben von kräftigen Stadtwachen. Als er auf dem erhobenen Podest stand, ließ der Mann den Blick über die Menschen schweifen. Im Publikum entdeckte er den Zwerg Bruenor, Catti-brie und Regis. Allesamt mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Unmittelbar neben ihnen sah er Drizzt und Jarlaxle. Zum ersten Mal, seit fast zwei Tagen, fing er an, an seinem Plan zu zweifeln. Als er den jungen Elfen, den er mehr als alles auf der Welt liebte, in diesem verzweifelten Zustand erblickte, fühlte Artemis, dass er einen Fehler begangen hatte. Er würde ihn, seinen Freund Jarlaxle und sogar die kleine Diana für immer verlassen und es gab kein zurück mehr. Erst jetzt fing er an, sich gegen die festen Griffe der Wachen zu währen, doch es war zu spät. Entreri bekam sein Hemd vom Oberkörper gerissen und wurde mit dem Rücken zur Menge hin an einen hohen Holzpflock angekettet. Mit seinem Gesicht schaute er direkt auf die nackten Mauern der großen Ratshalle und in seinem Rücken konnte er die hasserfüllten Blicke der Zuschauer förmlich auf seiner Haut spüren.
"Halt!", rief in dem Moment Drizzt zu dem Henker hinauf, der gerade im Begriff war, seine Peitsche in Schwung zu bringen.
Überrascht schaute er auf den Drow hinunter und dann gleich darauf hinüber zu Cassius, der keine fünf Fuß von dem angeketteten Mann stand.
"Was willst du noch Drizzt Do'Urden? Das Urteil wird vollstreckt werden, daran führt kein Weg vorbei", sprach der Stadtmeister so laut, dass die umherstehende Menge auch jedes seiner Worte verstand.
"Ich möchte meinen Geliebten wenigstens verabschieden dürfen … diesen Wunsch müsst ihr mir bitte gewähren", sprach der Waldläufer darauf und wand sich dabei wild hin und her, um aus dem festen Griff der Wachen zu entkommen.
Cassius schaute ihn einen Moment fragend an, fand aber keinen Grund, wieso er diese letzte Bitte nicht erfüllen sollte. Er nickte den vier Männern zu, die sofort den Drow los ließen. Drizzt rannte hinauf und direkt auf Artemis zu, der an seinen Fesseln hing, drehte ihn zu sich herum und umarmte diesen. Als er im nächsten Moment in die Augen seines Geliebten schaute, sah er dort die Tränen, die selbst Entreri nicht mehr zurück halten konnte.
"Bitte verzeih' mir", flüsterte Artemis ihm leise entgegen.
Doch der junge Dunkelelf konnte nicht antworten, er hatte einen Kloß ihm Hals. Außerdem wollte er stark bleiben, er wollte Entreri die Kraft geben, die er jetzt gleich brauchen würde. So nickte er nur und streichelte mit seinen Händen sanft das Gesicht von Artemis. Er beugte sich nach vorne und gab dem Mann den er liebte einen langen, intensiven Kuss. Als sich die beiden voneinander lösten, hörten sie plötzlich Jarlaxle reden.
"Ich möchte mich auch von meinem Freund verabschieden", verkündete der ältere Dunkelelf mit trauriger Stimme Cassius.
Dieser riss zum ersten Mal seine Augen weit auf, denn so was gab es noch nie. Doch es gab auch wieder keinen Grund, dass er den Wunsch des schillernden Drow ablehnen konnte.
"Na gut, wenn es sein muss, dann tut es allerdings gleich", antwortete der Stadtmeister.
So steckte sich Jarlaxle, im Bruchteil einer Sekunde die Kräuterkugel in den Mund, schritt darauf durch die dichte Menschenmenge, direkt auf das Podest und auf den angeketteten Entreri zu. Jarlaxle schaute im Vorbeigehen Drizzt in seine nassen lavendelfarbenen Augen, die ihn mit einem verwirrten Blick anschauten. Doch der ehemalige Söldnerführer verzog keine Miene und lief direkt auf Artemis zu. Dabei schupste er zaghaft den jungen Drow beiseite und blickte nun in die ebenfalls verwirrten Augen von Entreri.
Dann ging alles sehr schnell. Der Söldner beugte sich nach vorne und berührte mit seinen Lippen, die seines völlig unvorbereiteten Freundes.
Artemis riss seine Augen noch weiter auf, als er auch schon im nächsten Augenblick spürte, dass der Drow versuchte seinen Mund mit der Zunge zu öffnen und ihm daraufhin eine kleine runde Kugel in den Mund schob.
Für alle Anwesenden schaute es so aus, als ob er dem Mann einen ebenfalls so leidenschaftlichen Kuss gegeben hatte, wie Drizzt nur einige Augenblicke zuvor, aber in Wahrheit war es die Kugel aus ganz speziellen Kräutern, die der Drow in Entreri's Mund schob.
Als sich Jarlaxle wieder von seinem Freund gelöst hatte, flüsterte er Artemis zu, „cahallin abbil" (Essen mein Freund).
Die Menschen auf dem Marktplatz, sowie Cassius, der Henker und Drizzt konnten weder sehen noch verstehen, was der Söldner soeben getan hatte. Stattdessen winkte Cassius nun zwei weitere Wachen zu sich, die Jarlaxle bestimmend von dem Podest verwiesen, damit die Hinrichtung vollzogen werden konnte.
Drizzt war wieder damit beschäftig, sich erneut gegen die Wachen zu stemmen, die ihn nach seinem Kuss wieder nach unten geführt hatten.
Es dauerte keine Minute mehr und Artemis, der der Anweisung seines Freundes nachkam und diese Kugel aus Kräuter heimlich kaute und fast im Ganzen schluckte, spürte den ersten Hieb auf seinem nackten Oberkörper. Er fühlte die volle Wucht, als sich die sechs Striemen der Peitsche mit jeweils drei Knoten an jedem Strang, sich in seine Haut brannten. Gleich darauf folgte schon der zweite Hieb. Doch Entreri biss sich mit den Zähnen auf die Lippen.
Nach dem fünfundzwanzigsten Schlag der Peitsche konnte Artemis nicht mehr an sich halten, er schrie aus Leibeskräften den Schmerz hinaus. Er spürte, wie sich jeder Knoten und jeder Striemen sich in sein Fleisch schnitten. Wie tausend kleine Nadelstiche kroch der Schmerz dabei immer mehr in die Wunden. Nach weiteren zehn Schlägen war sein Rücken blutüberströmt und an manchen Stellen war bereits die Haut vollständig abgelöst, so dass die Peitsche direkt auf das Muskelgewebe traf.
Drizzt schrie ebenfalls seinen Schmerz heraus, „Aufhören, bitte ihr dürft nicht weiter machen!".
Aber es half nichts, stattdessen wurden die Griffe der vier Stadtwachen, die ihn an beiden Armen festhielten nur noch heftiger. Er fühlte sich in einem Alptraum gefangen, der nicht mehr aufhören wollte. Er riss und zerrte immer wieder und versuchte an seine Krummsäbel in seinem Waffengürtel zu kommen. Der junge Drow schaute auf das Schauspiel, was sich vor seinen Augen abspielte und jeder Hieb, der den Rücken seines Geliebten traf, ließ ihn augenblicklich selbst zusammen zucken.
Artemis dagegen spürte, wie seine eigene Kraft mit jedem weiterem Schlag unaufhörlich mehr von ihm abließ. Seine Arme wurden schwerer und die Fesseln an seinen Handgelenken schnitten tiefer in sein Fleisch, als er schlaff angekettet an dem Holzpflock hängte. Er spürte plötzlich nichts mehr, sein ganzer Körper fühlte sich taub an und schon im nächsten Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er sank in eine tiefe, traumlose Ohnmacht.
Drizzt schrie im gleichen Augenblick auf. Artemis hang in den Ketten und sein Kopf sank nach weiteren Peitschenhieben bewusstlos zur Seite.
„NEIN!", schrie der Waldläufer.
Dann hob Cassius zum ersten Mal seine Hand, um den Henker zu bedeuten, er solle mit dem nächsten Hieb warten. Daraufhin kam ein älterer Mann auf das Podest gestiegen und lief geradewegs auf den bewusstlosen Artemis zu. Er hob eine Hand an Entreri's Hals und überprüfte, ob er noch einen Puls bei dem Mann feststellen konnte.
Drizzt schaute mit weit aufgerissen Augen dem älteren Mann zu, der wohl ein Heiler sein musste. Als dieser mit dem Kopf schüttelte wusste er, dass sein Geliebter immer noch lebte.
Augenblicklich wand er sich erneut im festen Griff der Männer. Doch das brachte ihm nur ein, dass die Wachen ihren Griff um seine Arme nur noch verstärkten. Dann gab Cassius dem Henker ein Zeichen, dass er mit dem Auspeitschen fortfahren sollte.
Das war auch der Zeitpunkt, wo Jarlaxle hoffte, dass die Kräuter ihren Zweck erfüllen würden.
Nach weiteren dreißig Schlägen wurde noch einmal der Puls von Artemis überprüft. Wieder hoffte Drizzt innerlich, dass sein Geliebter stark genug war, diese Qualen zu überleben. Er dachte stets daran, dass er nur träumen und dann schweiß gebadet aufwachen würde, neben sich den Mann, den er liebte. Dann erkannte er augenblicklich, wie der Heiler wieder nur den Kopf schüttelte. Diese Geste machte Drizzt abermals Hoffnung.
Es folgten wieder dreißig weitere Peitschenhiebe und die Menschenmenge zählte nun laut mit, bis Cassius erneut inne halten ließ, um überprüfen zu lassen, ob der Meuchelmörder sein Leben ausgehaucht hatte.
Es wurde totenstill und Drizzt spürte, wie sein Herz förmlich stehen blieb. Dann kam erneut der ältere Mann auf Artemis zu, der wie ein Häuflein Elend an seinen Fesseln hing. Und diesmal nickte der Mann zufrieden Cassius und der Menge zu.
"NEIN", schrie in diesem Moment der junge Drow laut auf.
Jarlaxle ging zu seinem Freund hinüber und beide schafften es mit gemeinsamen Kräften Drizzt von den Stadtwachen zu befreien. Doch es war zu spät. Auch wenn sie jetzt niemand mehr aufhielt und sie auf das erhöhte Podest und zu ihrem Freund hinauf rannten, sahen sie nur noch den leblosen Körper von Entreri, der an seinen Fesseln hing.
Drizzt spürte, wie er den Halt unter seinen Füßen verlor und auf seine Knie sank. Sein Gesicht vergrub er schmerzlich und voller Tränen in den Händen. Jarlaxle kniete sich zum ihm hinunter und nahm den Waldläufer zaghaft in seine Arme. Währenddessen jubelte und applaudierte die Menschenmenge auf dem Marktplatz, dass der Meuchelmörder tot war. Es war zwar noch lange nicht das Ende erreicht, aber selbst der Stadtmeister fühlte sich bei jedem weiteren Schlag auf den leblosen Körper unwohl in seiner Haut.
Nach qualvollen Minuten hob Cassius seine Hand, um wieder Ruhe einkehren zu lassen.
"Das Urteil ist vollstreckt. Der Meuchelmörder Artemis Entreri hat seine gerechte Strafe erhalten", rief der Stadtmeister in die Menge.
Diese schrie wiederum enthusiastisch. Er sah den jungen Drow, der zusammen gekauert auf dem Boden lag und von seinem Dunkelelfenfreund festgehalten wurde.
Dann gab Cassius ein Zeichen und der Henker löste die Fesseln des toten Körpers von Artemis und dieser sank schlaff auf den Boden des Podestes.
Im gleichen Augenblick löste sich der Waldläufer aus der Umarmung seines Freundes und rutschte die zwei Fuß zu seinem Geliebten hinüber. Drizzt schaute durch einen Tränenschleier auf seinen Freund hinab. Dieser lag auf dem Rücken vor ihm und sein Kopf ruhte so, dass der Drow direkt in das schmerzverzerrte Gesicht von Artemis sehen konnte, die grauen Augen waren geschlossen. Im gleichen Moment überkam dem Elf eine erneute Welle der Trauer. Er schluchzte auf. Mit seinen Händen strich er verzweifelt über die Wangen seines Geliebten.
„Aufwachen Artemis. Komm wieder zu mir!", flüsterte er verzweifelt.
Dabei beugte er sich nach vorne und gab Artemis einen Kuss erst auf die Stirn, auf die Nase und zum Schluss auf dessen Mund. Dann schob er seinen Kopf zu dessen Ohr und hauchte leise, „Ich liebe dich".
Drizzt erhob sich danach wieder und flüsterte abermals, "Ich liebe dich, vergesse es nie".
Der junge Drow spürte plötzlich abermals einen Arm auf seiner Schulter und als er seinen Kopf drehte, schaute er statt in die erhofften roten Augen von Jarlaxle, in die blauen Augen von Catti-brie. Er erschrak.
"Lass mich sofort los! Fass mich noch einmal an und du bist so tot wie Artemis. Ich will dich nie wieder in meinem Leben sehen. Du hast schon vor Jahren einen anderen Mann mir vorgezogen und dann habe ich endlich meine eigene große Liebe gefunden und du trägst die Schuld mit dran, dass ich sie verloren habe. Er war ein anderer Mensch … jemand den du und dein Vater nicht akzeptieren wolltet. Ihr habt Diana den Vater genommen und ich hoffe … ihr werdet in den Neun Höllen schmoren", schrie Drizzt sie aus Leibeskräften an und schob grob den Arm der Frau von seiner Schulter.
Jetzt war es Catti-brie, die zusammenzuckte und ihr dabei augenblicklich die Tränen in die Augen traten.
"Ich ….. es tut mir leid. Ich ….. wusste wirklich nicht, wie …. wie viel dir dieser Mann bedeutete", stammelte sie unter einem Schluchzen hervor.
"Das wirst du jetzt auch niemals mehr tun können", schrie er sie erneut an und drehte ihr in diesem Moment den Rücken zu.
Bruenor und Regis standen immer noch unten auf dem Markplatz und schauten hilflos der Szene zu, als der Waldläufer die Frau angefahren hatte.
Gleich darauf schaute Drizzt noch einmal zu dem leblosen Körper seines Geliebten und drehte sich jwieder herum. Seine Augen funkelten vor Zorn und Trauer und diesmal schrie er über den ganzen Markplatz Bruenor und Regis an, „Ihr werdet niemals wieder mich und Diana sehen. So ein Abschaum wie ihr nennt euch Freunde".
Doch bevor die ganze Situation eskalierte, packte Jarlaxle nun seinen Freund am Arm und flüsterte in Drizzt's Ohr, „Komm schon, sie sind es nicht wert".
Diese Worte schienen den jungen Drow etwas zu beruhigen, denn er ließ sich ohne umschweife von dem Dunkelelfen am Arm wegziehen, hinunter auf den Marktplatz und hinaus aus der Stadt. Doch Drizzt schaute unter einem weiteren Tränenschleier so lange wie möglich auf den anscheinend leblosen Körper von Artemis. In den Augenwinkeln sah er, dass der Heiler von vorhin, Entreri's Körper mit einem weißen Tuch abdeckte und zwei Stadtwachen die Leiche auf einen Karren hievten. Dann war er auch schon mit seinem Freund um eine Ecke gebogen.
Erst als sich Jarlaxle sicher war, dass niemand mehr einen Blick auf die beiden Dunkelelfen warf und sie sich in sicherer Entfernung zur Stadtmauer befanden, blieb er plötzlich stehen. Drizzt, den er immer noch am Arm hielt, blieb ebenfalls stehen. Verwirrt schaute er durch seinen Tränenschleier zu dem Drow.
"Ich bitte dich jetzt inständig keine falsche Bewegung zu machen und auch keine Regung zu zeigen, denn ich muss dir etwas sagen", sprach Jarlaxle in der Sprache der Drow zu seinem jüngerem Freund. „Artemis ist nicht tot … wenn alles so funktioniert hat, wie ich es geplant habe, dann ist jetzt Entreri in einem todesähnlichen Schlaf, der alle lebenswichtigen Organe versorgt, aber für alle scheint er seinen letzten Lebenswillen ausgehaucht zu haben. Und bevor du mir jetzt antwortest, höre gut zu", sagte der Drow hastig weiter. „Uns bleiben keine sechs Stunden mehr unsere Sachen zu packen, Diana zu holen und Artemis Körper zu holen".
Bei diesen Worten riss Drizzt seine Augen weit auf und verstand mit einem Mal die Welt nicht mehr. „Er ist nicht tot?", flüsterte er verwirrt unter seinem Schluchzen Jarlaxle zu, wobei er nun auch die Sprache der Drow benutzte.
"Wir gehen jetzt zusammen zu den Zwergen, werden Diana holen, packen unsere Sachen und in spätestens fünf Stunden wirst du Artemis wieder in deinen Armen halten können, das verspreche ich dir, mein Freund", erwiderte Jarlaxle und sein gewohnt listiges Grinsen erschien auf dessen Gesicht.
Danach griff er erneut fester nach Drizzt's Arm und beide verschwanden auf der Straße Richtung Norden zu Kelvin's Steinhügel und zu ihrer Höhle.
Der junge Drow war den ganzen Weg zu Kelvin's Steinhügel und zu ihrer Höhle schweigsam. Er überlegte, ob er Jarlaxle richtig verstanden hatte und ob er auch wirklich die Wahrheit sagte. Ihm gingen so viele Dinge durch den Kopf und er wollte nichts sehnlicheres, als Diana jetzt fest in seinen Armen halten und Artemis sehen. Und so verging die Zeit fast schon wie im Fluge während er in Gedanken versunken neben Jarlaxle wanderte, und als der Waldläufer jetzt aufblickte, standen sie bereits vor dem Eingang zu König Bruenor Heldenhammer's Feste.
"Ich werde Diana holen … warte du solange hier draußen", sprach ihn Jarlaxle von der Seite an.
"Ich werde dich begleiten … wir holen zusammen Diana. So schnell wird mich hier niemand mehr sehen", antwortete Drizzt seinem Freund.
"Wie du meinst", kam die knappe Antwort des älteren Drow. Doch er hatte die Befürchtung, falls sie Bruenor, Catti-brie oder Regis begegnen sollten, dass die Situation eskalieren würde und Drizzt höchstwahrscheinlich sogar in seiner Wut etwas ausplaudern könnte, was ihren geschundenen Freund betraf.
Mit einem tiefen, aber deutlichen Seufzer legte Jarlaxle dem Waldläufer einen Arm um die Schultern und schubste ihn sanft an, um ihm zu bedeuten, dass sie sich in die Höhle des Löwen wagen würden. Dann kam ihm die Idee, seinen Freund doch noch ablenken zu können.
"Drizzt … wir müssen auch noch unsere Sachen aus der Höhle heraustragen. Wie wäre es denn, wenn du es machen würdest. Somit sparen wir Zeit, die wir dringend benötigen, meinst du nicht auch?", sprach Jarlaxle schnell und benutzte dabei wieder die Sprach der Drow, damit niemand ein Wort verstehen konnte, falls ungebetene Zuhörer in ihrer Nähe sein sollten.
Der Waldläufer blieb abrupt stehen und schaute dem Dunkelelfen in die Augen. Er war so durcheinander, dass er nicht mehr wusste, was er denken oder fühlen sollte. Auf der einen Seite war seine unsagbare Wut auf seine früheren Freunde tief in seinem Inneren und auf der anderen Seite gleichzeitig die Angst um seinen geliebten Artemis. Oder war es sogar möglich, dass sein Freund noch etwas ausheckte und es still und heimlich über die Bühne bringen wollte? Nein, sagte ihm sein Bauchgefühl, Jarlaxle hatte wirklich Recht. Je schneller er hier von diesem Ort und seinen verräterischen Freunden verschwinden würde, desto schneller wäre er wieder bei seinem Geliebten, der auf ihn wartete.
"Xas", lautete jetzt die knappe Antwort von Drizzt und sprach ebenfalls wieder in der Sprache der Dunkelelfen und meinte damit „Ja".
Jarlaxle lächelte ihn beruhigt an und er war froh, dass doch noch alles nach seinem Plan verlaufen würde und so verließ er auch kurz darauf den Waldläufer und verschwand im Inneren der Zwergenfeste.
Drizzt ging zur ihrer Höhle, die früher sein zu Hause war und wollte sich eigentlich beeilen, aber als er durch dein Eingang trat, holten ihn augenblicklich die Erinnerungen wieder ein. Alles lag noch so da, wie sie es vor zwei Tagen verlassen hatten, als sie sich überstürzt auf die Suche nach Artemis machten. Eine Welle aus Trauer, Wut und Enttäuschung brach über dem Drow zusammen und er musste sich an einer Höhlenwand festhalten, als wieder die Tränen in seine Augen traten. Er dachte an das Ereignis, was Entreri erst dazu veranlasste so unüberlegt zu handeln und dass es seine früheren Freunde waren, die dazu beigetragen hatten alles zu ihrem Vorteil heraus zu schlagen. Dann sah er Artemis schlaff und ohnmächtig an den Ketten hängen, sein Rücken aufgerissen und blutend. Dieses Bild ließ Drizzt zusammen sacken. Er stützte sich weiterhin zur Seite hin an der harten Steinwand ab und kniete sich auf den Boden. Vor ihm lag sogar die Wolldecke, mit der Artemis sich immer zudeckte und er griff nach ihr. Der junge Drow nahm sie in seine Hand und roch an ihr, sie hatte den unverwechselbaren Geruch nach dem Mann, den er liebte. Und so begann er, langsam und ganz sachte den Stoff zu streicheln und in seinem Kopf stellte er sich vor, es wäre Artemis.
Nach etlichen Minuten konnte sich Drizzt erst wieder beruhigen und die Wut auf Bruenor, Catti-brie und Regis stieg abermals in ihm auf. Ihn überkam das ganz dringende Bedürfnis hier für immer seine Zelte abzubrechen und nie wieder zurückzukehren. Bald, wenn Jarlaxle Recht hatte, würde er wieder seinen Liebsten in die Arme schließen und glücklich mit ihm und Diana zusammen leben können. Das veranlasste den jungen Dunkelelfen sich endlich aufzurichten und in Windeseile ihre Habseligkeiten einzusammeln und diese in ihren Rucksäcken zu verstauen.
Voll bepackt kam er dann nach fast einer halben Stunde zu der Stelle, wo er Jarlaxle verlassen hatte und sah diesen zusammen mit Diana schon aufgeregt warten.
"Wo warst du denn so lange?", wollte der Söldner wissen und machte in der Luft eine Geste mit der Hand, dass er sich beeilen sollte.
"Es tut mir leid", antwortete Drizzt kurz und versuchte dabei die drei prall gefüllten Rucksäcke, sowie Artemis Waffen an ihren bereits gesattelten Pferden zu befestigen, die Jarlaxle schon von der Weide geholt hatte. Diana spielte stattdessen ganz unbeirrt auf der Wiese und war schon ganz aufgeregt, als ihr Onkel ihr versicherte, dass sie gleich wieder auf einem Pferd reiten durfte.
"Wir müssen uns beeilen", sprach Jarlaxle und war gerade im Begriff auf sein Reittier zu steigen, da vernahm er eine Frauenstimme.
"Bitte Drizzt", rief es hinter dem Rücken von den beiden Drow und der kleinen Diana. Es war Catti-brie, die aufgeregt und völlig aufgelöst aus dem Eingang zur Zwergenfeste hinaus getreten kam. „Bitte Drizzt … es tut mir leid … das musst du mir glauben", stotterte sie unter einem Schluchzen.
Der junge Drow drehte sich auf der Stelle um und sah in ihre Augen, die vom Weinen gerötet waren.
"Lass mich, meine Freunde und Diana in Ruhe", fuhr er sie unverblümt an.
Doch Jarlaxle hatte Angst, dass sein Freund in einem erneuten Wutanfall etwas über ihren Plan aussprechen könnte, ließ sein Pferd stehen und stellte sich zwischen die Beiden.
"Drizzt, lass sie einfach … sie sind es doch gar nicht mehr Wert, dass du überhaupt noch mit ihnen ein Wort wechselst. Lass uns hier verschwinden", versuchte er zu schlichten.
Der Junge Drow sah aus, als würde er über diese Worte nachdenken und atmete tief ein und aus.
"Ich bitte Euch, nehmt wenigstens einer meiner Planwagen", erklang gleich darauf eine weitere Stimme. Es war Bruenor Heldenhammer, der hinter seiner Adoptivtochter hervor trat. „Wir haben vermutlich wirklich einen Fehler begangen, auch wenn ich es bis jetzt nicht verstehen kann. Das Einzige was ich möchte, nehmt einen meiner Wagen und wenn es nicht für Euch ist, dann wenigstens für das Kind", sprach Bruenor hektisch weiter, weil er Angst hatte, der Elf würde erneut wieder laut seine Wut hinaus schreien, ohne jemals seinen Vorschlag gehört zu haben.
Bevor noch Drizzt etwas erwidern konnte war es Jarlaxle der antwortete, „Wir sollten Danke sagen, aber dieses Wort klingt in der Sprache der Oberfläche wie eine Lüge. Wir werden ihn nehmen und freuen uns darauf, nie wieder einen von Euch sehen zu müssen".
Daraufhin erschien ein sarkastisches Lächeln auf seinen Lippen und er wandte sich zu Drizzt um. Er gab ihm mit einer kleinen Geste seiner Hand zu verstehen, er solle einfach nur seine Entscheidung hinnehmen und Ruhe bewahren.
