Einsamkeit Part Three

Durch einen Schleier von Regentropfen blickte sie aus dem Fenster. Wie durch einen bösen Zauber hatte der graue Himmel die Erinnerung an diesen einen Nachmittag vor einigen Wochen heraufbeschworen. Nicht, dass sie sonst nie daran denken musste. Nein! Jeden Morgen in der Schule spürte sie erneut den Schmerz in ihrem Herzen, glaubte aufs Neue sterben zu müssen. Immer wenn sie ihn sah hallte der eine vernichtende Satz wie ein Echo durch ihre Gedanken und erschütterte sie.

Sie hatte versucht diesem Schmerz zu entgehen. Hatte ihren Platz im Klassenraum gewechselt und vermieden auch nur eine Sekunde allein mit ihm zu sein. Meistens war es ihr gelungen, aber die Erinnerung konnte sie nicht löschen. Sie wurde von diesem schmerzlichen Satz verfolgt. Egal wohin, er war bei ihr.

Dabei hatte es doch so gut ausgesehen an diesem Nachmittag vor einem Monat. Sie hatte sich eingeredet, dass sie doch zumindest Freunde sein konnten. Dass sie mit IHRER Gegenwart leben konnte. Sie hatte sich gesagt, dass dieses Mädchen ja nicht immer an seiner Seite bleiben würde. Bisher hatte sie schließlich auch alle Mädchen, die ihm nachliefen, irgendwie verscheucht.

Und dann, als sie ihren Mut zusammen genommen hatte und zu ihm gegangen war, war nach einem anfänglichen Unbehagen auch die Atmosphäre wieder wie früher. Nein, das stimmte nicht. Es war nicht ganz so wie früher gewesen. Sie hatten miteinander geredet, aber er hatte sie anders behandelt. Was war es? Er hatte sie nicht wie sonst geneckt, oder aufgezogen. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte kam ihr ein Wort in den Sinn: Vorsichtig. Ja, er hatte sie vorsichtig behandelt. Fast so, als habe er Angst, alles zu zerstören.

Doch genau das hatte er getan! Mit einem einzigen Satz. Mit so wenigen Worten hatte er alles zerstört. Für immer!

Für immer? War es wirklich endgültig? Ohne zurück? Ein Teil in ihr wehrte sich dagegen. Wollte nicht glauben, dass all die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten vergangen waren. Nur noch als Erinnerung weiter existierten. Sie schüttelte ihren Kopf. Ja, sie glaubte noch daran, dass er wieder bei ihr sein würde. Hoffte, dass dieses Mädchen nicht immer an seiner Seite sein würde, oder dass eine andere ihren Platz einnehme würde. Eine andere als sie selbst.

Für einen Moment schien ihre Stimmung besser zu werden. Wenn dieses Mädchen nicht mehr bei ihm war hätte sie selbst eine Chance, ihm ihre Gefühle zu offenbaren!

Aber bereits nach wenigen Augenblicken erschienen ihr solchen Gedanken unfair. So sehr sie sich auch wünschte, wieder an seiner Seite zu sein, es bedeutete, dass er unglücklich sein würde. Er hatte es doch selbst gesagt. Er liebte dieses Mädchen. Und egal wie sehr sie sich dagegen auch sträubte, er war mit ihr glücklich. Das sah sie.

Und sollte sie ihm das nicht wünschen? Betrachtete sie sich selbst nicht als seine Freundin? Ja, das tat sie. Und als solche sollte sie ihm wünschen, dass er glücklich war, dass es ihm gut ging. Sie sollte sein Glück über ihr eigenes stellen. Ganz egal zu welchem Preis.

Nur dass ihr eine solche Tat, wie selbstlos sie auch sein mag, nicht weiter half. Der Schmerz würde bleiben. Würde sie jemals wieder mit ihm zusammen sein können? Sie wünschte es sich. Doch immer war da die Stimme in ihrem Innern, die ihr weismachte, dass dies nie gehen würde. Sie würde sich Hoffnungen machen. Ein Lächeln von ihm würde ihr Herz vor Freude springen lassen, eine Umarmung wäre der Himmel. Doch danach würde die Hölle auf sie warten. Er würde nicht mit ihr nach Hause gehen. Die Frau an seiner Seite würde nicht sie sein!

Wollte sie das? Wollte sie jedes Mal auf' s Neue die Stiche in ihrem Herzen spüren?

Eine Antwort suchend starrte sie in die grauen Wolken hinauf. Schnell zogen diese über den Himmel und es schien als würden sich zwischen den dunklen Wänden blaue Flecke zeigen.

Plötzlich konnte Kazuha die Stimme ihrer Mutter wieder hören.

„Nichts ist für immer schlecht. Weißt du, auch wenn es regnet, hinter den Wolken scheint die Sonne. Und wenn man nur etwas Geduld hat kann man sie wieder sehen und ihre Wärme spüren."

Lange war es her. Kazuha konnte sich nur noch dunkel daran erinnern. Sie war noch ein kleines Kind gewesen, als sie die tröstenden Worte aus dem Mund ihrer Mutter hörte. Sie wusste nicht einmal mehr, was damals vorgefallen war. Vielleicht war ein Spielzeug kaputt gegangen und sie war deshalb traurig gewesen? Sie wusste es einfach nicht mehr.

Aber das Gesicht ihrer Mutter konnte sie deutlich vor sich sehen. Auch die Wärme der Umarmung war fühlbar und mit einem Mal fühlte sie sich geborgen. Eine Hoffnung erfüllte sie!

Jeder Schmerz verging! Also würde auch dieser mit der Zeit geringer bis er ganz verschwunden sein würde.

Wieder blickte Kazuha in den Himmel. Und tatsächlich! Die grauen Wolken wurden dünner und darunter blitze das wunderschöne Blau. Sie würde es schaffen! Es würde zwar dauern, doch das Gefühl der Hoffnung gab ihr neuen Mut, wenn auch der Schmerz nicht ganz aus ihrem Herz weichen wollte.

Er hatte sein Ziel fast erreicht, ale er merkte, dass seine Schritte langsamer geworden waren mit jedem Meter, den er näher zu ihr kam. Wollte er etwa doch keine Antwort? Einen Moment hielt er inne, horchte in sich hinein…

Nein, es zog ihn noch immer zu ihr. Jetzt, da er endlich die Wahrheit gefunden hatte, wollte er alles wissen. Er wollte die Antwort auf seine Frage wissen. Die kurze Zeit der Ungewissheit, die seit seiner Einsicht vergangen war, war schon viel zu lange. Jede Sekunde, die verstrich glich einer Ewigkeit.

Er schüttelte seinen Kopf und zwang seine Füße weiter zu gehen und endlich stand er vor ihrer Tür. Zögernd hob er den Arm, bereit anzuklopfen, hielt aber inne. Wieder diese Kraft, die ihn zu bremsen schien! Er wehrte sich dagegen, schluckte und bereitete sich darauf vor, ihr gegenüber zu treten.

Ein dumpfes Geräusch drang in ihre Gedanken und sie brauchte einige Augenblicke, ehe sie erkannte, dass jemand an der Tür klopfte. Es fiel ihr schwer sich vom Fenster zu lösen, durch das jetzt die Sonne strahlend warme Strahlen schickte und draußen die Regentropfen auf den Blättern wie Diamanten glitzern ließ.

Als niemand kam um ihm die Tür zu öffnen starrte er noch einen kurzen Moment auf das dunkle Holz, das nun wie eine unüberwindbare Barriere wirkte. So sehr hatte er gehofft, dass sie kommen und dieses Hindernis einreißen würde.

Enttäuscht wandte er sich ab, als mit einem unerwarteten Schwung die Tür aufgerissen wurde! Über seine Schulter zurück blickend sah er sie. Sie musste gerannt sein, denn ihr Atem ging stoßweise und einige Strähnen ihres Pferdeschwanzes hatten sich gelöst und umrahmten nun ihr Gesicht.

Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte, aber sicher nicht ihn. Doch nun stand er hier vor ihr. Die Kleider durchnässt, die Haare im Gesicht klebend. War er etwa bei diesem Regen draußen gewesen? Gar durch den Regen zu ihr gegangen? Als er sich zu ihr umdrehte lag etwas in seinem Gesicht, das sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.