Kapitel 11: Erinnerungen

Harry klappte das Buch zu. Er konnte es immer noch nicht fassen, die Erinnerungen seiner Mutter gelesen zu haben. Sie hatte sie irgendwann einfach aufgeschrieben, nachdem sie all ihre Gedanken in das riesige Denkarium, was sich in seinem Zimmer befand, gepackt hatte. Jetzt wusste er wieder mehr über seine Mutter und seinen Vater, als sie in seinem Alter waren. Dass das Leben zu ihrer Zeit nicht einfach war und sich für dieses Paar sehr kompliziert gestaltet hatte. Das ganze Leid seiner Eltern, vordergründig seiner Mutter, hätte sich Harry nie vorgestellt: Kayne Swenson, die Entführung und der anschließende Kampf, Savannahs schreckliche Krankheit, ihr Tod, der Streit zwischen James und Sirius, dann einige Dinge, dich Harry nicht wusste, denn das Buch war zu Ende, aber letztendlich Lilys eigener Tod.

Harry hatte sich immer über so viele Kleinigkeiten beschwert, aber ihm wurde nie klar, wie schlecht es anderen Menschen doch gehen konnte. Er dachte immer, dass Lily eine Zicke war, was sie durch ihre ersten Schuljahre auch bestätigte, aber dass sie so sensibel sein kann, wusste er nicht. Das letzte Jahr auf Hogwarts muss eine Tortur für sie gewesen sein. Es gab zwar auch glückliche Erlebnisse, wie zum Beispiel die ganzen Partys, die die Clique feierte, doch diese konnten die Schrecklichkeit nicht kaschieren. Immer wenn Harrys Mutter dachte, dass das Leben nun geordnet weiterlaufen würde und sie einfach nur glücklich werden konnte, wurde sie aus der Bahn geworfen und das Glück war meilenweit entfern. Wenn sie dachte, es würde bergauf gehen, wurde sie in die Schlucht zurückgerissen.

Harry stand auf und verließ das Zimmer. Er ging in die Küche und brühte sich einen Tee auf. Er hatte das ganze Buch auf einmal gelesen und nicht für eine Seite aus der Hand gelegt.

Als Harry den Tee auf den Tisch im Wohnzimmer stellte, hörte er die Haustür, die von Remus Lupin geöffnet wurde. Harry wohnte für kurze Zeit bei ihm, denn er hatte noch keine gute Wohnung gefunden und die Weasleys waren schon cool, aber er wollte ihnen nicht auf der Tasche liegen.

„Harry!", sagte Remus freundlich, als er den Raum betrat.

„Hi Remus", sagte Harry betrübt.

„Aber was ist denn, Harry?"

„Nichts. Alles in Ordnung. Alles Roger."

Remus sah ihn fragend an und schaute auf den Tisch. Dann erblickte er das Buch von Lily Evans, das Harry nicht weggeräumt hatte.

„Lily hatte ein Buch geschrieben?", fragte Remus.

„Das wusstest du nicht? Ihr wart doch so gute Freunde, auch nach der Schule, oder?"

„Wo endet das Buch, Harry?"

„Bei der Beerdigung von Moms Freundin Savannah."

„Oh ja, ich erinnere mich. Wir trauerten alle, besonders Sirius."

„Und dann war Dad sauer auf ihn."

„Es gehört sich für einen feinen Mann nicht, die Freundin seines besten Freundes zu küssen. Aber nach dieser Theorie bin ich auch kein feiner Mann."

„Erzähl!"

„Nein, ist doch nicht so wichtig."

„Och Menno, Remus! Erst sagste, es gehört sich nicht und bla bla und dann lässte das Spannendste aus!"

„Willst du es wirklich hören?"

„Ja natürlich, schieß los!"

„Bevor ich losschieße, will ich dir sagen, dass ich die absolute Wahrheit erzähle. Es sind keine Lügen in dieser Erzählung, klar? Ich weiß nämlich, dass du mich als Lügner beschimpfen würdest, wenn ich diese Worte im Vornherein nicht gefasst hätte."

„Oh Remus, spann mich nicht so auf die Folter."

„Okay."

„Ich höre zu."

„Harry, könntest du aufhören, mich ständig zu unterbrechen?"

„Klaro!"

„Also: Alles begann zu der Zeit, als James Sirius vorwarf, dass dieser sich an Lily ranmachen wollte. Lily hatte es dir bestimmt ausreichend geschildert. Sie konnte es überhaupt nicht verstehen, denn für sie war es nur ein Ausrutscher und James war früher halt ein richtiger Casanova. Er hatte selbst Lily in dem Streit angeschrieen. Sie war sehr erschrocken, schließlich hatte sie James in so einer Verfassung noch nie erlebt."

„Sie hat es mir recht genau geschildert, die Sache mit dem Verlobungsring und so."

„Ja, das war ein echt harter Schlag für sie. Savannah war zu dieser Zeit ja schon sehr krank und Lily wollte Sirius nur beistehen. Sie hat halt die Kontrolle über sich verloren, doch James wollte ihr partout nicht glauben.

Dann kam sie zu mir, um mir ihr Herz auszuschütten. Ich weiß nicht, warum sie nicht zu Cameron gegangen ist, aber ich kann mir vorstellen, dass sie sie nicht belasten wollte, da sich Cam damals alles sehr zu Herzen nahm. Also Lily redete mit mir und sie tat mir sehr, sehr leid. Sie redete wie ein Wasserfall und ich hörte trotzdem zu, denn ihr Leid war auch gleichzeitig mein Leid.

Dann plötzlich bemerkte ich so ein komisches Gefühl in der Magengrube…"

„Was? Das heißt doch nicht etwas, dass…"

„Oh doch, Harry, das heißt es. Ich war sehr in Lily verliebt und als sie mir heulend in die Arme fiel wegen dieser James/Sirius – Sache, da hielt ich sie ganz fest, doch ich wusste, dass ich sie nicht lieben durfte, denn sie war vergeben! All die Jahre bin ich super mit ihr klar gekommen und sie war eine gute Freundin für mich, ich dachte, dass zwischen uns nie Liebe entstehen würde, da wir zu gut befreundet waren. Ich hatte falsch gedacht."

„Oh mein Gott. Und was geschah mit Cameron?"

„Cameron und ich trennten uns und schworen uns, trotz dem Beziehungs-Aus, Freunde zu bleiben. Leider war das nur eine Utopie. Während der Prüfungen hatte ich keine Zeit für Freundschaften, daher blieb der Kontakt zu Cam nur sehr mager. Nebenbei musste ich ja auch die Gefühle für deine Mutter unterdrücken, denn die Wahrheit durfte nie ans Tageslicht kommen."

„Was hast du zu Cameron gesagt? Wegen der Trennung, mein ich."

„Cameron erfuhr als Einzige die Wahrheit. Wir waren so glücklich und vertraut gewesen, sodass sie verdiente, die Wahrheit zu erfahren und nicht mit einer Lüge abgespeist zu werden."

„Was sagte sie?"

„Sie war erstmal ziemlich geschockt, dann bedrückt und nach und nach fasste sie wieder neue Kraft. Sie versprach mir, es niemandem weiter zu erzählen. Lily durfte nie von dieser heimlichen Liebe erfahren. Ich durfte sie nicht haben, selbst wenn sie nicht mit James zusammen gewesen wäre, hätte ich sie nicht haben dürfen, da ich sie jeden Monat in Gefahr gebracht hätte."

„Als Werwolf."

„Genau, Harry. Nach den bestandenen Prüfungen zog ich weit weg von dem Ort, wo James und Lily sich niederließen. Ich hatte beschlossen, sie Beide nie wieder zu sehen. Cameron schrieb mir einen Brief, doch ich antwortete nicht, also kam daraufhin keine Nachricht mehr von ihr an. In einer Zeitung erfuhr ich, dass sie später einen tollen Wissenschaftler geheiratet hatte. Ich wünschte ihr von Herzen ein schönes Leben, jedenfalls in meinem Kopf, denn geschrieben habe ich ihr nicht.

Lily und James schickten ihre Eule zu mir. An ihr hing ein Briefumschlag, den ich sofort öffnete. Es war eine Einladung zur Hochzeit der Beiden."

„Und dann?"

„Ich ging nicht hin, ich wollte diesen Schmerz um die heimliche Liebe zu Lily nicht wieder aufleben lassen. Doch ich sah ihr Hochzeitsfoto im Tagespropheten. Lily sah so bezaubernd aus in dem Brautkleid und James an ihrer Seite war schon der Richtige, dass musste ich mir eingestehen. Ich durfte nicht um diese Frau kämpfen."

„Oh Mann, das ist ja schrecklich."

„Ich gewöhnte mich so langsam an das einsame Leben. Wer einsam ist, dem kann das Herz nicht gebrochen werden. Sirius sah ich auch ewig nicht, irgendwann hörte ich, dass er nach Askaban kam. Das war nach dem Tod deiner Eltern."

„War das die ganze Geschichte?"

„Nein. Ein Aspekt bleibt noch und ich bin innerlich zerrissen darüber, denn einerseits würde ich es am liebsten rückgängig machen, aber andererseits konnte ich den Ballast von mir werfen."

„Was meinst du?"

„Die Liebe zu deiner Mutter, Harry. Eines Tages, die Hochzeit musste schon Monate zurück liegen, da klingelte es an meiner Haustür und ich sah diese schöne Elfe dort stehen. Lily sah von oben bis unten perfekt aus. Doch ich spürte mal wieder dieses Stechen in meiner Brust, als ich sie sah. Einerseits freute ich mich, Lily wieder zu sehen, andererseits wurde ich damit auch an all die Schmerzen erinnert."

„Hast du sie reingelassen?"

„Ich bat sie hinein zu Tee und Plätzchen, denn gute Gastfreundschaft war nicht ausgestorben. Sie war so perfekt. Doch etwas schien sie zu bedrücken. Ich fragte sie, was denn sei, doch sie antwortete, dass es ihr gut ginge. Ich weiß nicht, was mich überkam, aber ich gestand ihr schließlich meine Liebe. Warum und wieso, ich kann es dir nicht sagen, Harry, aber es war einfach so und das Gefühl war sehr befreiend. Ich wusste, dass sie mich abweisen würde, doch das war mir in diesem Moment egal, denn der Verstand setzte bei mir aus. Ich bereitete mich schon auf das Schlimmste vor, doch es trat nicht ein."

„Mom war wohl sehr verständnisvoll."

„Ja, das war sie. Sie umarmte mich und sagte, dass alles in Ordnung sei und ich mich jetzt nicht schämen bräuchte. Diese Worte waren mein Elixier, denn ich wusste nun, dass das Leben immer weiter gehen würde, selbst nach so einem schwierigen Geständnis.

Doch was dann geschah, hätte ich mir nie vorstellen können. Lily schien sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben, genau wie bei Sirius, und küsste mich. Der Unterschied lag darin, dass James nicht auftauchte. Manchmal wünschte ich, er wäre an diesem Abend aufgetaucht, denn sonst hätten Lily und ich niemals die Nacht gemeinsam verbracht. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Lily bereits weg."

„Du und meine Mutter? Was? Wieso?"

„Nach dieser Nacht stellte ich mir auch einen Haufen Fragen: Warum konnte Lily sich nicht unter Kontrolle halten? Warum habe ich das alles nicht verhindert? Würde ich jetzt mit James im Streit auseinander gehen, weil ich Lily, die bereits seine Frau war, nicht nur geküsst hatte? Wenige Tage später stand Lily erneut vor meiner Tür und sagte mir, dass es ein Fehler war und wir James niemals etwas davon erzählen durften, nicht mal eine andere Person durfte es erfahren. Dann verabschiedete sich Lily von mir mit einem Kuss auf die Wange. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Ich versuchte, sie zu ignorieren, doch es ging nicht. Als ich davon hörte, dass sie und James ums Leben gekommen waren, da versetzte es mir erneut einen Stich ins Herz."

Harry konnte es immer noch nicht fassen. Der beste Freund, den er hatte, seitdem Sirius tot war, hatte Lily geliebt und zwar von ganzem Herzen und er hatte auf die Liebe verzichtet, um ihr ein gutes Leben zu geben.

„Wann erfuhrst du, dass es mich gibt?", fragte Harry.

„Es ist einige Jahre her. Du erinnerst mich sehr an die Beiden."

„Ja, ich weiß.

„Ich werde nun Schlafen gehen. Gute Nacht, Harry."

„Gute Nacht."

Remus ging die Treppe zu seinem Schlafzimmer nach oben. Harry saß noch eine Weile starr auf dem Sofa und ließ alle Ereignisse Revue passieren. Dann nahm er das Buch und betrachtete den Einband.

„Ich liebe dich, Mom", flüsterte Harry und drückte das Buch ganz fest gegen seine Brust. Dann löschte er das Licht und stieg ebenfalls die Treppe hinauf.

Morgen war die Zeit reif, die Gräber seiner Eltern zu besuchen.

Damit ist der Bittersweet Symphony - Komplex abgeschlossen!

An alle Leser: Danke, dass ihr so geduldig wart und meine Gedanken einfach mal gelesen habt. Ich hoffe, ihr seid wieder mit dabei, wenn ich eine neue FF schreibe.

An alle Reviewer: Ihr seid die Besten! Den größten Dank für alle eure Nachrichten und Meinungen. Ich habe mich tierisch über sie gefreut!

An alle Leute da draußen: Schreibt einfach mal eure Gedanken auf! Ihr seht, was daraus alles entstehen kann.

Bis möglichst bald

Houseofterror