4. Aufzug / Während der Spanne zwischen der 3. zur 4. Szene – Die Nacht vor Hamlets Abreise nach England

Hamlets Schlafgemächer

Hamlet in Schlafkleidung. Es klopft.

HAMLET Dienerschaft um diese graue, mitternächt'ge Stunde? Geht! Euren Fürsten um diese Zeit zu bestürmen. Schande über euch! Das Klopfen reißt nicht ab. Daraufhin Hamlet eilend im wütigen Sturmschritt zur Tür gelangt und im Aufreißen derselben schreit er
HAMLET
Bei Gott, welch' Seel' will gen Hölle fahren, beim Herausfordern meiner Geduld! – Horatio!
HORATIO
Verzeiht, mein Prinz.
HAMLET
Nicht, guter Horatio, nicht! Mein soll die Entschuldigung sein. Die erhob'ne Stimme rechnete nicht mit Deiner lieben Erscheinung. Aber die Frage brennt, was tust Du um diese fragliche, nächtg'e Stunde!
Hamlet dreht sich um, zum Bett den Gang richtend. Er bleibt stehen, als er merkt, dass Horatio ihm nicht folgt. Irritation im Mienenspiel dreht er sich zu ihm zurück.
HAMLET
Horatio? Willst Du Dir den Tod holen, im eisigen Gang? Weshalb kommst Du mir nicht nach?
HORATIO
In des Prinzen Schlafgemach? Zur nächtlichen Stunde jemand dies sieht, was soll man denken!
HAMLET amüsiert
Ei, interessiert's uns! Herein mit Dir! Und sag' mir dabei, wie lang' ist's her, dass Anstand, dieses nöt'ge Adelsübel zwischen uns stand, Horatio?
Horatio schließt leise die Tür, wonach er sich sichtlich etwas leichter fühlt.
HORATIO
Gute 13 Jahre, mein – Hamlet.
HAMLET
So lang schon bist Du der Mann, der die tiefsten Geheimnisse meiner Seele herzubeten weiß und doch stets den Finger auf dem Mund hat. Welch' Wunder Gott einem armen Sünder wie mir schenkt.
HORATIO
Gott behandelt jeden nach seinem Verdienst. Seine Meinung von Euch, mag demnach meiner in nichts nachstehen. Und solang' das Herz in dieser Brust schlägt, mag nichts meine Liebe endigen.
HAMLET
Sowenig, wie die meine. Darauf Edelschwur, Horatio. – Aber sag', was Dich zu dieser Stunde an meine Tür trieb.
HORATIO
Ich fürcht', mich zu blamieren.
HAMLET
Ach, ich möchte aufs Heftigste abstreiten, dass ein Gedanke aus diesem so vertrauten, wachen Geist je des Spottes Opfer werden kann. Setzen wir uns aufs Bett und dann geradeheraus gesagt!
Horatio geht zögerlich zu dem großen, mit Kissen ausstaffierten Bett. Hamlet, daraufhin lachend, tritt neben ihn und zieht ihn beinah zu herzlich zum Sitzen nieder.
HORATIO nachdem das Gleichgewicht er wiedergefunden hat
Denkt Ihr manchmal an unsre gemeinsame Zeit in Wittenberg?
HAMLET
O Gott, Horatio, manchmal? Wie vermiss' ich die unbeschwerten Jugendtage. Damals dachte ich noch, dass es sie ewig geben wird: Tage, Stunden, Momente, in denen man völlig zufrieden, völlig frei und entspannt ist.
HORATIO
Es werden neue Tage dieser Art kommen.
HAMLET
Ich bezweifle es, Freund Horatio. Mag dies alles auch einst vorbei sein und ein gutes Ende genommen haben, nie werde ich wieder völlig entspannen, niemals wieder völlig zufrieden sein können. Die Antwort auf das Warum? Weil ich erinnere; weil meine Erinnerungen an Kummer und Qual mich niemals mehr loslassen.
HORATIO
Ich glaube, das ist es nicht allein.
HAMLET neckend
O, jetzt reizt Du mich, alter Philosoph. Was ist denn in des Gelehrten Augen der Grund?
HORATIO
Die Naiven glauben die Welt zu kennen, aber sie erahnen nicht einmal die Stöße, die man auf ihrer dunklen Seite ertragen muss. Ihr habt es erlebt, in aller Härte, wie sie einem Menschen nur überhaupt zu Teil werden kann.
Nun seht Ihr die Welt allzu genau, um Euch noch wirklich fallen lassen zu können. Ihr wisst zuviel, um noch wirklich glücklich sein zu können.
Stille.
HAMLET
Oha, jetzt erinnere ich mich wieder, wieso so viele Prüfungen ich nur Deinetwegen bestanden habe.
HORATIO
Ihr habt außer in Mathematik nie wirklich Hilfe für den Stoff gebraucht, nur –
HAMLET
– Hilfe gegen meine Faulheit?
HORATIO grinsend
Das habt Ihr jetzt gesagt, mein Prinz.
Hamlet lässt sich lachend nach hinten aufs Bett fallen. Dann wird er wieder ernst und die Arme hinterm Kopf verschränkend, blickt er zur Stuckdecke.
HAMLET
Wie kreisen jetzt die Erinnerungen an jene schönen Tage durch meinen Kopf, Horatio und wecken doch nur weiberhafte Melancholie. – Wieso stelltest Du mir die Frage nach meinem Gedenken an Wittenberg?
HORATIO sich bewusst nicht nach hinten drehend, um Hamlets Blick auszuweichen
Ich dachte, wenn nach Eurer Heimkehr eine Sehnsucht Euer Herz bewohnte, könntet Ihr nachvollziehen, wie ich mich jetzt fühle, in Anbetracht Eures morgigen Aufbruchs nach England.
Hamlet, sich auf seine Ellenbogen aufstützend, starrt einen Moment sprachlos Horatios Rücken an.
HAMLET
Ist das Dein Ernst?
HORATIO nicht umblickend
Ja.
HAMLET
Heda, Horatio!
Hamlet drückt sich vom Bett hoch, steckt 2 Finger in Horatios Kragen und zieht den überrascht Aufschreienden mit sich rücklings aufs weiche Bett.
HORATIO
Mein Prinz, ich bitt' Euch!
HAMLET lachend
Worum?
HORATIO
Wenn jemand kommt!
HAMLET
Das Risiko steigt, wenn Du so rumschreist.
HORATIO
Aber –
HAMLET
Widersprichst Du Deinem Prinzen?
Horatio öffnet den Mund zur erneuten Erwiderung, als Hamlet neben sich greift, ein Kissen nimmt und mit halber Kraft auf Horatios Kopf schleudert. Horatio nimmt das Kissen und für einen Moment ist die Szene wie eingefroren: Hamlets herausforderndes Grinsen und Horatios Unschlüssigkeit. Dann grinst er ebenfalls und schlägt das Kissen mit voller Wucht zurück. Ein tolles Handgemenge entsteht, als die Beiden sich auf dem Bett rollend gegenseitig wild lachend bewerfen.
Nach einigen Minuten gewinnt – wie zu erwarten war – Horatio die Oberhand und über Hamlet kniend, holt er zu einem letzten Schlag aus.

HAMLET die Arme vors Gesicht haltend
O Gott, Gnade! Gnade, Horatio!
Innehaltend wird sich Horatio in Anbetracht der Kissen wieder bewusst, in welchem Raum er ist und welche nächtliche Stunde herrscht.
HORATIO
Wir haben die Zeit vergessen!
HAMLET
Und?
Horatio klettert, jetzt doch in Anbetracht der Stellung errötend, von Hamlet herunter.
HORATIO
Ich sollte gehen, Euer Schiff bricht im Morgengrauen auf.
HAMLET
Ich bin nicht müde.
HORATIO
Die schwarzen Ringe unter Euren Augen zeugen gegen Eure Worte.
HAMLET
Gut, Du hast recht. Es ist wohl eher die unvernünft'ge Angst.
HORATIO
Wovor?
HAMLET
Es ist der Gedanke des Einschlafenden, am nächsten Morgen wieder die Augen öffnen zu müssen und wieder einen ganzen, ewigen Tag vor sich zu haben. Das entsetzt mich so sehr.
HORATIO
Ich bitt' Dich, kuschle Dich fest in die Decken, gönn' Deinem Körper die verdiente Ruhe und die Augen schließe, dass sie Ungerechtigkeit einige Stunden nicht sehen mögen.
Dies befolgend und an Horatios Hand ziehend, bewegt Hamlet den Sitzenden dazu, sich wieder hinzulegen. Mit einem winzigen Lächeln kuschelt er sich behutsam an Horatios Seite.
HAMLET mit geschlossenen Augen flüsternd
Ich möchte nicht, dass wir morgen scheiden.
HORATIO ebenfalls flüsternd
Vergiss' das Morgen. Vergiss' des Geistes Racheauftrag. Heute Nacht ist eine andere Welt.
Schlaft, mein Prinz. Ich werde beten.
HAMLET
Wofür?
HORATIO
Das zur Vollendung Eurer Bestimmung ein Wunder geschehen mag.
Hamlet hebt noch einmal die Lider und sieht in die blauen Augen des handbreitentfernten Gesichtes
HAMLET
Horatio, weißt Du, es gibt keinen Menschen, der mich nicht mindestens einmal völlig an den Rand der Beherrschung und des Verstandes gebracht hat. Nur Du hattest irgendwie immer diese seltsame Gabe. Bei Dir bin ich immer mehr ich selbst, als irgendwann sonst.
Das ist mir Wunder genug.


TBC – Once again ;)