Ende 4. Aufzug / 6. Szene – Nach Ablieferung der Briefe führen die Matrosen Horatio zu Hamlet

Hamlets Schlafgemächer

Hamlet in zerrissener Wäsche. Es klopft.
HAMLET
Jetzt nicht!
HORATIO
Horatio hier. Ihr rieft.
HAMLET
Komm rein!
Horatio betritt das Zimmer, die Tür schließend, hält er einen Moment inne.
HORATIO
Mein Herr, wie seht Ihr aus?
Hamlet lässt lachend die Kleidung, die er eben neu anziehen wollte, zurück aufs Bett fallen
HAMLET
Schlimmer, als der wahre Zustand, Horatio.
Horatio atmet sichtbar erleichtert auf, beim Klang der durchaus aufgeweckten Stimme.
HORATIO
Was ist geschehen auf der Überfahrt? Ich ersuch' Euch, sprecht!
HAMLET
Sprechen – verlang' das jetzt nicht von mir, Horatio. Ich bin allein froh, hier zu sein. Alles andre – mag's im Morgen erörtert und bedacht werden. Mein Geist ist müde, nach Ruhe verlangend.
HORATIO
Natürlich, das versteh' ich. – Doch dann, welch' Zweckes rief Ihr mich?
HAMLET
Komm.
Horatio geht mit leichtem Schritt auf ihn zu. Er bleibt vor Hamlet stehen, abwartend. Das andauernde Schweigen beginnt eine Spannung aufzubauen. Blaue Augen treffen blaue Augen und es scheint die Luft um beide Männer zu elektrisieren. Ein erschöpftes, doch aufrichtiges Lächeln, fern jeder Schauspielerei, legt sich auf Hamlets Lippen. Dann, mit einer sachten Bewegung, legt er seinen Kopf behutsam auf Horatios rechte Schulter und schließt die Augen.
HAMLET
Die erste Nacht auf dem Schiff stand ich draußen, einen Moment lang allein unter den Sternen.
Ich hätte stundenlang dort stehen können. Es ist schon seltsam. Manchmal habe ich Angst vor dieser allumfassenden Finsternis, aber an manchen Tagen liebe ich sie.
Es vom jeweils anderen nicht wissend, haben beide bei Hamlets flüsterndem Monolog die Augen geschlossen. Horatio legt kaum spürbar seine Hände auf Hamlets Rücken.
HAMLET
Man steht da, fühlt des Windes Liebkosung im Gesicht und wenn man ganz still ist, kann man all die armen Seelen im Wind spüren.
HORATIO
Seltsam, dass Ihr das sagt.
HAMLET während er wieder einen Schritt zurück tritt
Weshalb?
HORATIO
Entgegen meiner Natur, stand auch ich in jener Nacht nach Eurer Abreise unterm Firmament und lauschte stumm.
HAMLET
Und hörtest auch die gepeinigten Seelen?
HORATIO
Nein, mein Herz vernahm eine engelsgleiche Stimme – es war die Eurige.
Hamlet lächelt unter diesen Worten, jedoch es stirbt das Lächeln, als neue Gedanken sich in seinen Geist schieben.
HAMLET
Es scheint mir, Horatio, als läge alles, was ich je zu besitzen hoffte, je zu lieben vermochte, in einem eisigen Grab. – Liebe, was für eine Illusion! Mutterliebe, Frauenliebe – alles vergangen und dazu verdammt, nie wiederzukehren!
HORATIO
Was Euch bleibt, ist die Hoffnung.
HAMLET
Hoffnung? Was ist, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, Horatio?
Was, wenn es nur noch Schmerz gibt?
Mit einem schweren Seufzen holt Horatio Hamlet zurück in die seltsame Halbumarmung.

HORATIO
Ich weissage Euch, dass der Quell Eures Leidens einst versiegen wird.
HAMLET erstickt
Die Narben sind es, die niemals verschwinden werden.
HORATIO
Aber mit ihnen könnt Ihr leben lernen.
Hamlet atmet in Horatios Nacken tief durch, unwissend, dass er eine Gänsehaut hinterlässt.
HAMLET sich wieder aufrichtend
Die Matrosen, die mich an Land begrüßten, hießen mich herzlich willkommen und segneten mich für meine glückliche Heimkehr. Es war zynisch.
HORATIO
Wieso sollte dies ihre Absicht gewesen sein?
HAMLET
Nah, nicht zynisch ihre Zunge, nur der Klang ihrer Worte in meinem Herzen.
HORATIO
Warum dies?
HAMLET flüsternd, wobei er bei jedem Wort wieder ein Stückchen näher auf Horatio zukommt.
Man ruft mein Wiederkehren aus, aber in Wahrheit bin ich in meinem ganzes Leben – noch nie wirklich nach hause gekommen.
Die letzten Worte, Horatio ins Ohr gehaucht, hinterlassen in dessen Nacken erneut diese verwirrendangenehme Gänsehaut.
Diesem Gefühl erliegend, weicht er einen Schritt zurück. Hamlet ringt für einen Moment mit dem Verlust Horatios Körperwärme. Bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen, schluckt er einmal hart und zeichnet sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, das in Horatios Augen schrecklich verzweifelt aussieht.

HORATIO
Bestraft sie nicht für ihre Dummheit. Es wird Euch auch nicht die Erlösung bringen.
HAMLET
Nein? O, welch' trefflicher Gedanke, meine Fäuste so lange in ihrem Gesicht bersten zu lassen, bis es nur noch eine rote Pampe ist und man sehen kann, was sie wirklich sind – nichts!
HORATIO wieder einen Schritt nach vorn richtend und Hamlets Schultern packend
Eure Gedanken sind gefährlich!
Hamlet zuckt unter diesen Worten, sich selbst nicht eingestehend, dass es weniger deren Inhalt, als der Hauch Horatios Atems auf seinen Lippen ist.
HAMLET
Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre einen Tag ihr Leben zu leben. Wie sich das wohl anfühlt? – Aber dann denke ich mir, vielleicht fühlt sich das auch nach nichts an.
Vielleicht ist der Grund ihres Sorgloseins einfach das Fehlen tiefer Gefühle und dann möchte ich doch nicht mit ihnen tauschen. Denn sie werden irgendwann sterben, ohne gewusst zu haben, was hinter dem Begriff „Emotionen" wirklich steckt. Ich glaube das ist es, was uns zu etwas Anderem macht. Die Menschen werden uns immer hassen, weil wir anders sind, vielleicht auf eine gewisse Weise perfekter. – Ich stelle mir manchmal vor, wie schön es wäre, über die Kadaver der Menschenbrut zu steigen, aber am Ende wäre ich dann nicht besser als sie.
HORATIO
Und Ihr seid in Eurem Herzen auch kein Mörder.
HAMLET die Augen schließend
Mir wird einmal mehr bewusst – gerade im schwärzesten Augenblick der Zeit – wie wichtig Du mir bist...
Es gibt tatsächlich noch etwas in mir, das zu lieben fähig ist.



Bilde ich mir das ein, oder ist dieser Teil ziemlich „slashy" geworden? Also ich bin mir keiner Schuld bewusst (liedchen pfeif) ;)

Es kommt noch ein letzter, Abschlussmonolog Horatios, nach Hamlets Tod. Ich bin nun mal am Besten im Schreiben von Trauerspielen...