Liebe und Angst

Kapitel 11: Ich habe meinen eigenen Bruder getötet

Die Mächtigen Drei und Leo beamten in ein altes, dunkles Gebäude und sahen sich schnell nach Chris und Wyatt um. Sie konnten sie jedoch nicht finden und Piper geriet langsam in Panik. „Wo sind sie, Leo?", fragte sie verängstigt.

Leo wollte seine Augen schließen, um nach ihren Söhnen zu suchen, doch plötzlich konnten sie gedämpftes Schluchzen von dem Raum links von ihnen hören. Piper rannte sofort hinüber; ihre Schwestern und Leo folgten ihr rasch. Sie drückte die Tür auf und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie sah was in dem Raum vor sich ging. Neben einen Haufen Asche, der anscheinend das Überbleibsel eines Dämons war, waren ihre Söhne. Der jüngere hielt seinen Bruder in seinen Armen, der reglos dalag, während Chris in seine Schulter weinte und die Leute, die gerade den Raum betreten hatten nicht bemerkte.

Leo, Phoebe und Paige blieben ebenfalls im Türrahmen stehen, nicht sicher was sie tun sollten. Als Piper jedoch das Schluchzen ihres Sohnes hörte, ging sie schnell zu ihnen und kniete sich zögernd neben sie. Sie versuchte angestrengt nicht auf das bleiche Gesicht ihres älteren Sohnes zu starren, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit Chris zu, der noch immer weinte und ihre Präsenz offenbar noch immer nicht wahrnahm. Piper holte tief Luft, um sich zu beruhigen, bevor sie sanft fragte: „Chris, was ist passiert?"

Chris bemerkte sie nun endlich und sein Kopf ruckte zu ihr hoch. Er sah sie für einen Moment mit roten, geschwollenen Augen an und senkte dann seinen Blick wieder hinunter auf seinen toten Bruder. Er konnte seiner Mutter nicht in die Augen sehen, nicht nach dem, was er gerade getan hatte. Sie würde ihn hassen. Und sie hatte jedes Recht dazu. Ein weiteres Schluchzen entwich ihm, während er Wyatt ansah. Es war fast, als würde er Baby Wyatt ansehen. Sein Bruder sah so friedlich und unschuldig aus, es war nichts Böses mehr da.

„Chris, bitte sieh mich an", flehte Piper verzweifelt, als ihr Sohn weiter weinte.

„Ich – ich hab ihn getötet", würgte Chris hervor; er wagte es noch immer nicht seine Mutter anzusehen. „Ich hab meinen eigenen Bruder getötet."

Bei diesem Satz konnte Piper nicht anders und wandte ihren Blick Wyatt zu. Chris lag halb auf seiner Brust, doch sie konnte sehen, dass eine Menge Blut auf dessen schwarzen T-Shirt war. Sie konnte nicht glauben, dass Chris das getan hatte. Es ergab keinen Sinn. Wie hätte er Wyatt ohne seine Kräfte töten können? Und Chris hätte ihm nicht angetan, selbst wenn er könnte… zumindest hatte sie das gedacht. Sie streckte ihre Hand aus, um das Gesicht ihres älteren Sohnes zu berühren und ihr stiegen dabei die Tränen in die Augen. Er war vielleicht böse, aber er war noch immer ihr Sohn.

Leo sah inzwischen voller Sorge seinen jüngeren Sohn an. Er wusste, was durch dessen Kopf ging. Er hatte gesehen wie sehr Chris fürchtete, dass sie ihn hassten und es war mehr als offensichtlich, bei der Art wie er Piper nicht mal ansehen konnte, dass seine Angst zurückgekommen war. Er verfluchte seine Frau innerlich, als er sah wie sie weiterhin nur Wyatt anstarrte und nichts tat, um Chris zu trösten. Leo war auch betroffen von dem Anblick des toten Körpers seines älteren Sohnes, aber als er daran dachte wie wenig sich Wyatt um Chris gekümmert hat, wusste er, dass sein jüngerer Sohn höchstwahrscheinlich nur in Notwehr gehandelt hatte.

Paige musste Phoebe stützen, die wieder einmal Chris' heftige Emotionen fühlen konnte. Da war so viel Schuld, Angst und Schmerz, dass sie ein paar Schritte zurücktrat, um etwas Abstand zwischen sich und ihren Neffen zu bringen, damit die Gefühle sie nicht mehr ganz so stark erreichen konnten. Sie und ihre jüngere Schwester sahen vom Türrahmen aus zu wie Leo sich auf die andere Seite von Chris kniete.

„Chris, es ist okay, du hast nichts Falsches getan", sagte Leo beruhigend und legte eine tröstende Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Du hast dich nur…"

„Nichts Falsches?", rief Chris, während er versuchte die Hand seines Vaters abzuschütteln. Das war allerdings nicht einfach, denn sein ganzer Oberkörper tat noch immer weh von den Attacken seines Bruders. „Ich habe meinen eigenen Bruder getötet! Ich hab deinen Sohn getötet! Wie kannst du sagen, dass das nichts Falsches ist? Es sieht ziemlich falsch in meinen Augen aus!"

Leo packte ihn instinktiv an den Schultern und zog ihn von seinem Bruder weg, um ihn zu umarmen, doch dann keuchte er auf, als er bemerkte, dass das ganze Blut nicht nur von Wyatt war; Chris blutete ebenfalls von mehreren Wunden auf seiner Brust. Leo hielt schnell seine Hände darüber, um ihn zu heilen, doch er war nur zur Hälfte fertig, als Chris wegzuckte.

„Hör auf damit! Ich hab deinen Sohn getötet! Du solltest mich nicht heilen! Du solltest froh sein, wenn ich für das was ich getan habe bezahle!", schrie Chris und holte Piper damit endlich aus ihrer Trance heraus.

„Chris, nein. Leo hat Recht", brachte sie hervor und drehte sich zu ihrem jüngeren Sohn um.

„Nein, hat er nicht! Ich habe ihn getötet, Mom!", wiederholte Chris mit einer groben, lauten Stimme. „Ich hab ein verfluchtes Stück Holz genommen und es durch sein Herz gestochen!"

Piper konnte nicht anders und brach erneut den Augenkontakt mit Chris, um Wyatt anzusehen. Ihre Gedanken huschten zu dem unschuldigen, süßen Baby, das sie das letzte Jahr über großgezogen hatte. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass das sein Schicksal sein sollte. Aufzuwachsen, um Leute zu terrorisieren, Unschuldige zu töten, gegen seinen eigenen Bruder zu kämpfen, bis schließlich der eine den anderen ermordet. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und fing an heftig zu weinen. Dabei entging ihr das bittere Lächeln, das sich über Chris' Gesicht legte.

„Sieht so aus, als wärst du nicht ganz so stolz auf mich, wie du in den letzten paar Tagen behauptet hast", flüsterte er zu Piper gewandt, doch Leo hörte ihn auch.

„Chris, du musst aufhören dich deswegen fertig zu machen", sagte Leo, in dem Versuch seinem Sohn klar zu machen, dass er nur getan hatte, was nötig war. „Er war böse. Und er hat versucht dich umzubringen. Du hast dich nur verteidigt. Da ist nichts Falsches dabei."

„Ich bin hierher gekommen, um ihn zu retten und nicht um ihn umzubringen", zischte Chris wütend. Wie konnte sein Vater nur so tun, als hätte er nicht gerade seinen Sohn getötet?

„Und das kannst du noch immer tun. Du kannst ihn noch immer retten, Chris", sagte Leo sanft. „Du kannst euch beiden ein schreckliches Schicksal ersparen und viele Unschuldige retten. Du bist ein Held."

Chris schnaubte. „Ja, sicher. Ich nehme ein Stück Holz und steche es durch den Rücken meines Bruders mitten in sein Herz – das ist sehr heldenhaft", sagte er sarkastisch und sah dann wieder hinunter auf Wyatt, der noch immer in seinen Armen lag. Er schloss die Augen, da er es nicht mehr ertragen konnte ihn anzuschauen. Aber dadurch kam unweigerlich die Erinnerung an das was gerade geschehen war zu ihm zurück.

RÜCKBLENDE / EINE HALBE STUNDE FRÜHER

Chris hatte noch nie so viel Schmerz gespürt wie in diesem Moment. Sein Bruder elektrisierte ihn langsam zu Tode und das fühlte sich nicht gerade sehr gut an. Er musste hier weg, er musste diese Verbindung irgendwie lösen. Er schloss die Augen und betete für ein Wunder, das ihn noch retten konnte. Das nächste was er wahrnahm war, dass er einen Meter von der Wand, an die er gerade noch gekettet gewesen war, entfernt am Boden lag. Hatte er sich gerade gebeamt?

Wyatt stöhnte frustriert auf, als er das sah. Er war nicht in der Lage gewesen Chris auch seine Fähigkeiten als Wächter des Lichts zu nehmen, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Chris war schon viel zu schwach, um aus dem Gebäude herauszubeamen. „Es ist Zeit Leb Wohl zu sagen, kleiner Bruder", sagte er, während er zusah, wie Chris versuchte von ihm wegzukriechen. Er streckte seine Hand aus, um einen Energieball zu formen, doch zu seiner großen Überraschung passierte nichts. Verwirrt konzentrierte er sich stärker, aber seine Kraft funktionierte nicht. Er versuchte das plötzliche Gefühl der Angst zu unterdrücken und wollte das alte, hölzerne Bücherregal neben Chris explodieren lassen, doch erneut geschah nichts.

Chris sah verwirrt dabei zu wie Wyatt einen Energieball formte, ihn dann wieder verschwinden lies und das Bücherregal sprengte. Er hielt sich die Arme über den Kopf, um sich von den umherfliegenden Holzstücken zu schützen. Dann blickte er wieder hinüber zu seinen Bruder und hätte beinahe aufgeschrieen, als er sah, dass Barbas hinter ihm stand. Jetzt wusste er was los war. Barbas benutzte Wyatts größte Angst gegen ihn. Die Angst davor seine Kräfte zu verlieren. Chris duckte sich schnell, als Wyatt eine Ladung Eis in seine Richtung schoss. Die Kraft verfehlte ihn nur knapp und traf die Wand hinter ihm. „Wyatt! Barbas tut das! Dreh dich um!", rief er instinktiv aus, während Furcht sein eigenes Herz umklammerte. Er wusste, dass Wyatt gerade versucht hatte ihn umzubringen, es eigentlich noch immer versuchte, aber er wollte auch nicht, dass Barbas seinen Bruder tötete.

„Von was zur Hölle redest du?", knurrte Wyatt und warf mehrere Energiebälle durch den Raum, ohne es überhaupt zu realisieren, dass er sie wirklich warf.

Chris schrie leicht auf, als einer sein linkes Bein traf, aber er konzentrierte sich auf Wyatt. „Du Idiot! Jetzt benutz doch einmal deinen Verstand, oder was davon übrig ist und denk darüber nach! Wer könnte dir deine Kräfte von einer Sekunde auf die andere stehlen, ohne dass du es bemerkst?", schrie Chris ihn an und hoffte, dass Wyatt verstehen würde.

Wyatt runzelte sogleich die Stirn. Sein Bruder hatte Recht. Und er konnte die Macht noch immer in sich spüren. „Also was willst du damit sagen?", fragte er noch immer leicht verwirrt.

„Barbas benutzt deine Ängste gegen dich. Er steht genau hinter dir und wie's aussieht will er gerade fliehen", antwortete Chris, der sah, dass Barbas verschwinden wollte.

Aber er war zu langsam. Wyatt hatte sich schnell umgedreht, ihn bei seinem Kragen gepackt und etwas hochgehoben. „Hast du wirklich gedacht, du könntest mich töten?", zischte er gefährlich.

„Wenn dein Bruder schon tot wäre, hätte ich es geschafft", sagte Barbas und las damit Wyatts zweitgrößte Angst. Die Furcht, dass er seinen kleinen Bruder vielleicht doch brauchte.

„Er wird in ein paar Minuten tot sein, aber zuerst wirst du bezahlen", sagte Wyatt und warf Barbas zurück auf den Boden, bevor er seine neuen Ältestenkräfte nutze, um den Dämon der Angst ein für alle mal zu vernichten.

In der Zwischenzeit versuchte Chris wegzubeamen, doch er war zu schwach. Er schaffte es nur sich ein, zwei Meter von seinem jetzigen Platz zu entfernen, bevor er wieder materialisierte und schmerzhaft auf den Boden aufschlug. Plötzlich hörten Barbas' Schreie auf und Chris sah hinüber zu seinem Bruder, der seinen mörderischen Blick jetzt wieder ihm zuwandte. Aber er hatte doch gerade Wyatts Leben gerettet; bedeutete ihm das denn gar nichts? Offenbar nicht, denn Wyatt ging nun rasch auf ihn zu, mit einem kalten Grinsen im Gesicht.

„Weißt du was, Chris? Diese kurze Zeit in der ich geglaubt habe keine Kräfte zu haben hat mir eine Sache deutlich vor Augen geführt", sagte er und Chris sah ihn daraufhin etwas hoffnungsvoll an. Er lachte und hockte sich neben seinen kleinen Bruder. „Ich will dich für deinen Verrat mit eigenen Händen erledigen", schloss er und der Ausdruck von Hoffung auf Chris' Gesicht wich schnell einem von Furcht. In der nächsten Sekunde stieß Wyatt sein Knie kräftig in Chris' Magen.

Chris keuchte schmerzerfüllt auf, aber bekam keine Chance seinen Atem wiederzuerlangen, denn Wyatt legte seine Hände um dessen Hals und drückte fest zu. Er versuchte sich loszukämpfen, doch sein Bruder war viel stärker als er und er wurde beinahe bewegungslos auf den Boden gedrückt. Verzweifelt versuchte er zu atmen, doch Wyatt zog seine Hände nur noch enger zusammen. Chris' Blick verschwamm zunehmend und er suchte wild mit seinen eigenen Händen nach irgendetwas, dass er als Waffe benutzen konnte. Endlich berührten seine Finger etwas. Es musste ein Holzstück des Bücherregals sein, das Wyatt vorhin gesprengt hatte und er nahm es schnell in die Hand. Er zögerte eine Sekunde, bevor er das Holz hochhob und es in den Rücken seines Bruders stach.

Augenblicklich löste sich dessen Griff und Chris keuchte nach Luft. Für einen Moment war er erleichtert, doch als sein Blick auf seinen Bruder fiel verschwand das Gefühl schnell wieder. Wyatt lag bewegungslos neben ihm, das Stück Holz ragte aus seinem Rücken und aus seiner Brust heraus. Chris' Augen weiteten sich in absolutem Horror. Er hatte es nicht bemerkt, dass das Holzstück so lang war. Er wollte es aus dem Körper seines Bruders herausziehen, doch plötzlich kamen weiße Lichter aus ihm und trafen Chris. Er wusste sofort was geschehen war. Er hatte seine Kräfte wieder. Aber das würde bedeuten…

Chris benutzte schnell seine telekinetischen Kräfte, um das Holzstück heraus zu stoßen und zog seinen Bruder in seine Arme, wobei er die Schmerzen von seinen eigenen Wunden ignorierte. Er suchte verzweifelt nach irgendeinem Zeichen dafür, dass Wyatt noch lebte, ein Puls oder ein schwaches Atmen, aber er fand nichts. Wyatt lag absolut reglos in seinen Armen. Tot. Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute fand es Chris schwer zu atmen. Was hatte er nur getan? Er hatte seinen eigenen Bruder umgebracht. Den Menschen, den er geschworen hatte hier in der Vergangenheit zu retten. Tränen traten in seine Augen und er senkte den Kopf auf Wyatts Schulter. „Es tut mir so Leid, Wy", schluchzte er. „Ich hab versagt. Ich habe geschworen dich zu retten und ich habe versagt… es tut mir so Leid…"

ENDE DER RÜCKBLENDE

Chris weinte erneut in die Schulter seines Bruders, aber dieses Mal zuckte er nicht weg, als sein Vater ihn von Wyatt wegzog, um ihn zu heilen. Er hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Er war sich nicht einmal sicher, ob es noch etwas gab wofür es sich zu kämpfen lohnte. Leo hatte ihn nun ganz geheilt und umarmte ihn, während er ihm die ganze Zeit sagte, dass er nichts Falsches getan hatte und dass er ihn liebte. Chris konnte es nicht leugnen, dass die Worte seines Vaters ihn berührten, doch er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Alles was er wollte war die Bilder und die Erkenntnis von dem was er gerade getan hatte aus seinem Kopf zu bekommen…

Fortsetzung folgt… (Das nächste Kapitel ist das Letzte und ich werde es wahrscheinlich morgen ins Internet stellen! Es wird auf jeden Fall etwas fröhlicher als der Rest der Geschichte sein, also freut euch!)