Kapitel 3
Hermi
Während alle anderen feierten und geräuschvoll zum Zug gingen, war Hermine äußerst beunruhigt. Was würde sie sagen, wenn sie ihn das nächste Mal sah? Würde er es ansprechen?
Vielleicht würde sie Glück haben, und er würde sie einfach ignorieren. Darin hatte er sich in den letzten sieben Jahren sicherlich als talentiert erwiesen. Um die Mitte des sechsten Schuljahres hatte sie schließlich aufgehört, auf seine Fragen hin die Hand zu heben. Sie rief sich mit Bitterkeit ins Gedächtnis, wie er es kommentiert hatte, mit den Worten: „Doch nicht so schnell von Begriff, wie einige Ihrer anderen Lehrer behaupten, was, Ms Granger? Sie haben ja auch nur sechseinhalb Jahre gebraucht, um zu lernen, ihre Hand unten und ihren Mund geschlossen zu lassen."
Bei genauerem Nachdenken verdiente er den kleinen Spitznamen, den er so verabscheute. Sie war sicher, daß ihr mit ausreichend Zeit noch passendere einfallen würden. Aber als sie ihn eine Woche später am Grimmauld-Platz Nr. 12 in der Küche traf, war ihr Zorn vergessen und durch die Angst und den Respekt, die er einflößte, ersetzt.
„Guten Abend, Professor Snape", sagte sie automatisch und verfluchte sich dann dafür, daß sie überhaupt gesprochen hatte. Sie hatte vorgehabt, den Mann wie die Pest zu meiden, wie es so ziemlich jeder außer Albus tat, aber vielleicht war es besser, dem hier und jetzt ein Ende zu machen.
„Ah, sie kehren also zurück zu „Professor", ja?" fragte er abfällig.
„Ich dachte, Sie würden das vielleicht vorziehen, aber wenn es Ihnen lieber ist, daß ich Sie „Sevie" nenne, ist mir das auch recht", erwiderte sie bissig.
„Sie können mich nennen, wie Sie wollen, wenn sie Todessehnsucht haben, Mine."
„Ich hasse diesen Namen!" rief sie aus, ohne nachzudenken.
„Oh, das hatte ich so gehofft", schnurrte er.
Selbstverständlich hatte er versucht, es ihr heimzuzahlen. Sie hätte es besser wissen sollen, als ihn so einfach die Oberhand gewinnen zu lassen.
„Oder wie wär's mit „Hermi"? Ich persönlich finde den ziemlich gut", fuhr er fort.
„Ich werde Lavender und Parvati umbringen", murmelte sie. Die beiden hatten sie überhaupt erst in diesen Schlamassel hereingebracht. Deretwegen stritt sie jetzt mit dem Zaubertränkelehrer darüber, ob er sie „Hermi" nennen sollte.
„Was war das?" fragte er scharf. „Ich sehe nicht, was Ms Brown und Ms Patil mit dieser Sache zu tun haben."
„Das alles hat wegen eines dämlichen Spiels angefangen, das Lavender und Parvati mich letzten Winter zu spielen gezwungen haben."
Und damit erzählte sie die ganze Geschichte. Den Teil mit den vier Kindern und der Hütte hätte sie wahrscheinlich weglassen können, aber als sie erst einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Er stand da und sah sie seltsam an, aber zum ersten Mal seit sie sich erinnern konnte unterbrach er sie nicht. Er schien von ihrer Erzählung wie versteinert zu sein.
„Ist das eine Art kranker Scherz?" zischte er, als sie schließlich geendet hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Und dann dämmerte es ihr plötzlich, weshalb er ihr den Spitznamen so übelnahm. Er hatte gedacht, sie würde sich über ihn lustig machen. Nachdem er jahrelang „Schniefelus" genannt worden war, fand er keinen Gefallen an ihrer Abkürzung für seinen Namen, und sie konnte es ihm offen gesagt nicht verdenken.
Aber hatte sie sich über ihn lustig gemacht? Sie konnte es kaum sagen. Normalerweise war sie seine überzeugteste Verteidigerin, wenn Ron und Harry ihn beschimpften oder seinen Professorentitel vergaßen.
Nein, entschied sie, sie hatte es nicht als Veralberung gemeint, sondern als Zuneigungsbekundung, als Kosenamen. Irgendwie hatte sie eine Schwärmerei für ihren verhaßten Zaubertränkelehrer entwickelt. Denselben Mann, der sie offen verhöhnte, nie eine Bemerkung über ihre Zaubertränke machte, außer um sie zu kritisieren, und der nie ein nettes Wort zu ihr gesagt hatte, und sie mochte ihn? Es schien unmöglich.
Warum konnte sie nicht jemand Vernünftiges mögen, wie Ron? Ron, der gerne lachte, der verhinderte, daß sie zu ernsthaft wurde, und der nicht nur in ihrem Alter war, sondern außerdem ein anständiges menschliches Wesen.
Sie war eins von diesen Mädchen geworden, die „gefährliche Männer" mochten, oder vielleicht lag es nur daran, daß er Autorität über sie hatte. Sie hatte schon früher davon gehört, daß Mädchen ihre Lehrer mochten, aber nicht die abscheulichen, gemeinen und gehässigen. Es war ein „kranker Scherz", wie Professor Snape es so treffend gesagt hatte, ein kranker Streich, den das grausame Schicksal ihnen spielte.
„Nein, Sir. Ich fürchte, es ist kein Scherz. Das wäre nie passiert, wenn Madame Pince in der Woche nicht krank geworden wäre. Es ist gefährlich, dazu gezwungen zu sein, sich mit Lavender und Parvati drinnen aufzuhalten."
„Es scheint so", knurrte er, aber er sah sie ernst an.
„Eine Hütte und vier Kinder?" fragte er einen Augenblick später. Sein Ärger schien etwas abgeflaut zu sein. Sie nickte.
„Ich bezweifle, daß Sie sich je dazu herablassen würde, in einer Hütte zu leben, Ms Granger. Und was Kinder betrifft, ich verabscheue sie. Ich habe tagsüber genug davon. Ich würde sicherlich nicht nach Hause kommen wollen, um noch vier mehr zu sehen."
„Natürlich nicht, Sir."
„Außerdem würde ich sie niemals heiraten. Besonders dann nicht, wenn Sie darauf bestehen würden, mich bei diesem grauenhaften Namen zu nennen."
„Und ich fürchte, das würde ich", sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Diese Unterhaltung hatte sich wirklich merkwürdig entwickelt, dachte sie.
„Damit wäre das geklärt. Ms Brown und Ms Patil sind Vollidiotinnen", schloß Snape.
„Paradebeispiele für verschwendetes Potential", beklagte sie.
„Sie halten ihnen zu viel zugute, wenn sie davon ausgehen, daß sie überhaupt irgendwelches Potential hatten", sagte er mit einem finsteren Blick.
Ah, da war der grausame und abscheuliche Mann, den sie kannte und liebte. Sie hätte wissen sollen, daß die Verspieltheit nicht lange andauern würde. Dann, als wäre ihm plötzlich die Dauer und - mit Sicherheit - der Inhalt ihrer Unterhaltung bewußt geworden, und als wäre ihm das peinlich, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Ich suche Bill Weasley. Haben Sie ihn gesehen?" fragte er ungeduldig.
„Nein, Severus, hab ich nicht", erwiderte sie ruhig. Sie hoffte, ihre Stimme würde ihre Nervosität nicht verraten. Er blickte abrupt von seiner Uhr auf, um zu sehen, daß sie ihn leicht anlächelte.
„Nun, wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, er soll sich sobald als möglich per Kaminnetzwerk bei mir melden, Hermine", sagte er, bevor er sich abwandte, um zu gehen. Es war das einzige Mal, daß sie je ihren Namen ohne Spott oder unterschwelligen Sarkasmus aus seinem Mund gehört - oder zu hören erwartet - hatte. Es war schön, eine Erinnerung, die sie in Ehren halten würde.
Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht markierte der heutige Tag einen Wendepunkt, und er würde sie wirklich als Erwachsene sehen. (Sie hatte immerhin ihre Erwachsenenstimme benutzt, und das sehr erfolgreich.) Und vielleicht würde sie über seine dornigen Abwehrmechanismen hinwegsehen können und seine innere Charakterstärke schätzen lernen.
Sie lachte über diese Absurdität. Es war ungeheuerlich, daß sie ihn überhaupt mochte, entgegen aller Logik. Und am Ende würde sie sich von Logik leiten lassen.
„Was ist so witzig?" fragte Ron, als er ins Zimmer kam.
„Ach, nichts", sagte sie rasch. „Ich hab nur über etwas gelacht, was Severus gesagt hat."
„Severus?" fragte er ungläubig.
„Du weißt schon, Ron... Professor Snape." Er starrte sie mit offenem Mund an. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, was zwischen ihr und Zaubertränkelehrer vorgefallen war, entschied sich dann aber dagegen. Es war im Moment eine zu private Geschichte, als daß sie sie hätte erzählen können.
Darüber hinaus würde Snape sie umbringen, sollte er jemals davon erfahren. Er hatte ihr einmal widerstrebend verziehen, daß sie ihn „Sevie" genannt hatte, aber wenn er herausfand, daß sie es Ron und Harry erzählt hatte, würde sie nie wieder etwas trinken können, ohne befürchten zu müssen, daß es vergiftet war. Es wäre schlimmer, als mit den Zwillingen zusammenzuleben.
Sie würde die Wahrheit zusammen mit den anderen belanglosen Begebenheiten begraben, die einem nie im Gedächtnis zu bleiben schienen. Jemand könnte das Thema Vornamenzeremonie in Jahren aufbringen, und sie würde nur vage antworten: „Ach ja, das war schon was, nicht?"
Oder... Er würde es vielleicht nie erfahren, aber für sie würde er immer „Sevie" sein.
Anmerkung: Ein herzliches Dankeschön an alle fleißigen Reviewer! (-:
