Die Ankunft

"Willkommen in der Schweiz" murmelte Seth leise während er Sandy und Kirsten durch die Passkontrolle folgte. Ryan schlurfte gleich neben ihn, den Arm seines Bruders fest umklammert, die Farbe seines Gesichtes von grün zu weiss wechselnd.

"Ouch" stiess Seth aus wenn der Griff von Ryan stärker wurde. Er stolperte und versuchte, auf den Füssen zu bleiben.

"Sorry…" murmelte Ryan und tastete nach seinem Pass.

"Grüezi" begrüsste die Frau hinter dem schusssicheren Fenster die zwei Jungs und wartete, bis sie ihr die Pässe reichten.

"Uhm… hi" grinste Seth als Antwort, während er immer noch Ryan stützte, der aussah, als würde er sich gleich übergeben.

"Was fehlt ihm?" fragte die Zollbeamtin Seth besorgt.

"Oh, erster Transatlantik Flug seines Lebens. Ich denke es war nicht unbedingt schlau, ihn mit einem 12 Stunden Flug in die Freuden des Lufttransport einzuführen."

"Ok" nickte sie und warf Ryan ein mitfühlendes Lächeln zu, während sie ihm seinen Pass zurück gab und die zwei durchwinkte.

"Wie geht's dir Mann?" fragte Seth als sie beim Gepäckband anhielten und warteten, bis ihre Koffer durchkamen. Ryan liess sich schwer in einen Stuhl fallen und nahm einen tiefen Atemzug, um die Übelkeit in den Griff zu kriegen.

"Mir ging's schon besser"

Seth lachte leise und ging dann zu seinen Eltern hinüber um die Koffer von sich selbst und von Ryan vom Band zu nehmen, sobald sie ausgeladen waren.

"Wie geht es ihm?" fragte Kirsten Seth mit einem kurzen Blick zu Ryan.

"Er wird's überleben, mach dir keine Sorgen Mum, die frische und reine Luft der Alpen werden ihn schon wieder auf die Beine bringen, aber lass den armen Kerl bitte in Ruhe, ich kümmere mich um ihn, ok?" warnte er seine Mutter ohne seine Augen vom Förderband wegzubewegen.

Als sie alles Gepäck zusammen hatten platzierten sie es auf einem Gepäckwagen. Seth half Ryan aufzustehen und liess ihn wieder nach seinem Arm greifen, um ihn zu stützen, bevor sie sich alle auf den Weg nach draussen zur Automietstelle machten.

"Tut mir leid Jungs, aber ihr werdet hier keinen eigenen Wagen haben können, ihr müsstet schon 21 sein um einen Mietwagen zu bekommen" erklärte Sandy, während er die Papiere für den SUV ausfüllte.

"Dieses Land ist scheisse!" jammerte Seth und schaute sich im Flughafen um. Er stoppte als ihm ein Poster in die Augen sprang.

'Welcome to the Big Apple' stand da über einen riesigen Apfel geschrieben, darunter stand in grossen Buchstaben 'Visit Thurgau'.

Er schüttelte den Kopf ab diesen komischen ersten Impressionen bevor er einen Blick auf Ryan warf, der seinen Kopf hängen liess und offenbar nichts davon mitbekam, was um ihn herum geschah.

Schliesslich zeigte der Typ vom Autovermieter ihnen den Weg zur Garage. Erschöpft luden sie alles Gepäck in den Kofferraum des SUV und steigen ein.

Sandy fuhr als dann an den Taxis vorbei aus dem Flughafengelände und nahm die Autobahn Richtung Chur. Kisten hatte in der Zwischenzeit Ryan eine Flasche Mineralwasser und eine Tablette gegen die Reisekrankheit gegeben, bevor sie ihm riet, etwas zu schlafen, da sie nochmals 2 Stunden fahren mussten. Als Ryan zitterte griff Seth nach einer Wolldecke im Kofferraum und deckte seinen Bruder zu. Obwohl Seth alles, was er am Fenster vorbeiziehen sah und jede neue Impression die sein Hirn erfasste, eigentlich kommentieren wollte, blieb er ruhig und beobachtete die wunderbare Szenerie während sie näher an ihr Ziel kamen. Er wusste, dass er einen gesunden Ryan brauchte um die nächsten 10 Tage zu überleben und deshalb würde er alles tun um seinem Bruder zu helfen, sich bald wieder besser zu fühlen.

Als Sandy die Autobahn verliess und in die Passstrasse nach Klosters bog, begann sich Ryan noch mieser zu fühlen, während er auf dem Rücksitz des SUV umherschleuderte bei jeder Kurve die Sandy nahm.

Schlafen konnte er nicht mehr, weshalb er sich damit ablenkte, die Landschaft zum Fenster hinaus zu betrachten und Seth zu ignorieren, der mit lauten Worten seinem Ärger Luft machte, dass die Eltern die Freundinnen nicht eingeladen hatten, mitzukommen.

Ryan wunderte sich, weshalb die Schweizer Natur von Touristen immer als so wunderschön bezeichnet wurde, alles was er im Moment sehen konnte waren dunkle Täler, Wälder und kleine Strassen. Alles in diesem Land erschien ihm irgendwie klein und winzig im Gegensatz zu Amerika und er fragte sich, ob die Schweizer wohl nie Platzangst bekamen.

Plötzlich brach die Sonne durch die Wolken und tauchte das kleine Dorf vor ihnen in hellen Sonnenschein. Sandy und Kirsten liessen ein erstauntes "Wow!" hören, welches die Aufmerksamkeit der Jungs erweckte und sie folgten dem Blick ihrer Eltern.

"Wow!" rief sodann auch Seth als er die bildschöne Landschaft sah, welche sich vor ihnen öffnete. Ryan beobachtete nur ehrfürchtig die niedlichen Chalets, welche unter Tonnen von Schnee begraben schienen, die grossen Berge, welche das Tal umgaben. Der Sonnenschein, welcher sich auf dem Schnee reflektierte machte ihn beinahe blind.

Sandy fuhr die Familie langsam durch das Dörfchen und hielt Ausschau nach dem Hotel Verein, in welchem sie ihre Zimmer gebucht hatten. Die Welt um sie herum schien ruhig, keine Geräusche oder Laute waren zu hören, alles wurde durch die enormen Schneemassen absorbiert. Schliesslich entdeckte Kirsten den Wegweiser zum Hotel und sie fuhren die Einfahrt hoch, bevor sie vor einem eindrucksvollen Gebäude den Wagen abstellten und mit offenen Mäulern aus dem Auto steigen.

"Dies muss ein Traum sein! Aspen wird absolute überschätzt!" rief Seth fassungslos, verzweifelnd nach seiner Sonnenbrille suchend, welcher er sodann auf seine Nase setzte und die Umgebung noch genauer studierte.

Bäume, kleine Chalets und Bauernhäuser umgaben das Hotel, kleine Wege waren überall in den Schnee gestapft worden und alles sah aus, als wäre es mit Zucker übersäht.

"Willkomma in Kloschters"

Die Familie drehte sich um und wurde vom Concierge des Hotels begrüsst, welcher sie freundlich anlächelte.

"Tut mir leid, was?" fragte Sandy verwirrt.

"Willkommen in Klosters" wiederholte der Concierge in Deutsch und fügte hinzu "kann ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?"

Zusammen mit dem Portier trugen die Männer die Koffer ins Hotel, wo Kirsten alle eincheckte, bevor sie zu ihren Apartments geführt wurden.

Ryan und Seth erhielten ein eigenes Zimmer mit zwei separaten Betten, während sich Sandy und Kirsten ein Zimmer mit Doppelbett teilten.

Es war bereits 17.30 und die Eltern entschieden sich, ihre Koffer auszupacken und es sich in ihrem Zimmer gemütlich zu machen, was bei Seth ein Nasenrümpfen und einen angewiderten Blick hervorrief.

Der Junge mit den schwarzen Locken entschied sich trotzdem, sich nicht von seinen perversen Eltern den ersten Tag nicht ruinieren zu lassen und drehte den Fernseher an um zu sehen, welche Programme im Land des Käses ausgestrahlt wurden.

Ryan ignorierte Seth und liess sein Gepäck zu Boden fallen, während er ins Bett plumpste und das weiche Gefühl der Matratze unter sich genoss. Die Horizontale Lage beruhigte sofort seinen Magen. Er wickelte sich in die Decke ein, welche er anschliessend über den Kopf zog, um wärmer zu bekommen, bevor er in das Land der Träume abtauchte.

Seth bemerkte, dass er wieder einmal ganz alleine war und seufzte tief, während er begann, in Erinnerungen zu schwelgen. Er dachte daran, wie es gewesen war, bevor er Ryan kennen gelernt hatte und er nicht zu jeder Tages und Nachtzeit mit jemandem reden konnte, der ihn wieder aufstellte. Er zwang sich selbst aufzustehen und etwas gegen seine Laune zu tun, die sich dramatisch verschlechterte. Seth entschied sich, das Hotel genauer unter die Lupe zu nehmen.

Er nahm die Treppe in die Lobby, wo er den Frühstücksraum inspizierte und dann kurz mit der Receptionistin plauderte, welche ihn informierte, dass im Keller eine kleine Bar versteckt sei. Nachdem er sich für den Tipp bedankt hatte, stieg er die kleinen Stufen ins Untergeschoss hinab, während er sich überlegte, welcher halbwegs normale Architekt wohl auf die Idee gekommen war, den besten Raum des Hotels im dunkelsten Ecken zu verstecken. Die Bar war in einem Kellergewölbe untergebracht, welche ihr einen mysteriösen und ein bisschen gefährlichen Touch verlieh. Seth fischte nach seiner gefälschten ID Karte und warf einen letzen Blick auf das Photo, welches ihm überhaupt nicht ähnlich sah, aber er nahm an, dass man das in diesem dunklen Raum sowieso nicht bemerken würde.

Er setzte sich an der Bar nieder und wartete darauf, bis er vom Mädchen, dass gerade Bier abzapfte, entdeckt wurde, während er leise die Worte wiederholte, die er sagen wollte. Vertieft in seine Gedanken bemerkte er nicht einmal, wie die Barmaid vor ihm auftauchte, bis sie ihn fragte:

"Was dörfs sie?"

Erschrocken hob Seth seinen Kopf und schaute in zwei schöne braune Augen, die im Licht der Bar schimmerten. Sein Witz verschwand so schnell wie sein Herz anfing zu klopfen, als ein Bild von Summer vor seinem inneren Auge auftauchte.

'Sie will nur deine Bestellung du Idiot! Du bist jetzt ein Mann Seth, du hast eine Freundin verdammt noch mal Werde nicht jedes Mal rot wenn ein Mädchen in deinem Alter dich anspricht' schalte er sich selbst.

Das Mädchen schaute sich in der Bar um und entschied, dass alle Gäste bedient waren, da die Bar sowieso halbleer war. Sie ging also um die Bar herum und setzte sich neben Seth auf einen Barhocker, amüsiert über Seth's Schüchternheit und den schockierten Ausdruck auf seinem Gesicht. Also streckte sie ihm ihre Hand hin.

"Ich ha der ganz abu ziit. Ich bi d'Stephanie "

Seth schien aus seiner Trance zu erwachen, griff nach ihrer hand und antwortete:

"Ich habe keine Ahnung, was du gesagt hast, aber ich bin Seth"

"Stephanie, du bist Amerikaner, richtig?"

"Yeah" grinste er, während er fühlte, dass er sich beruhigte.

"Also Seth, was kann ich dir bringen?"

"Uhm… Könnte ich…. ein Bier haben…"

"Sicher, kein Problem"

Stephanie stand auf und ging zurück zum Zapfhahnen, wo sie ihm ein Glas Bier abzapfte.

"Könntest du es aufs Zimmer schreiben, es ist Nr. 211. Du brauchst meine ID Karte nicht, oder?" fragte Seth und zuckte sofort zusammen, als diese Worte seine Lippen verliessen und er spürte den Drang, sich selbst zu schlagen- und zwar hart.

"Warum? Bist du unter 16?" lachte Stephanie und lächelte ihn fröhlich an, während sie ihm das Bier vor die Nase stellte, die Rechnung daneben.

Nachdem er einen grossen Schluck der bitteren Flüssigkeit probiert hatte, setzte Seth das Glas wieder hin und warf der Barmaid einen überraschten Blick zu, bevor er fragte:

"Die Altersgrenze für Alkohol ist in der Schweiz bei 16?"

"Für Bier und Most, ja, für alles andere ist es 18" erklärte Stephanie während sie auf den Stuhl neben Seth zurückkehrte.

"Also, was machst du in Klosters?" fragte das braunhaarige Mädchen.

"Familienferien"

"Ouch… in deinem Alter? Ah…. Du bist wohl ein Einzelkind!" neckte sie ihn sarkastisch.

Traurigkeit war kurz in Seth's Augen zu sehen, Schmerz und Trauer für einige Sekunden auf seinem Gesicht, aber sogleich wurden die Gefühle weggefegt und das gut trainierte Pokerface kam wieder zum Vorschein. Er schluckte kurz bevor er grinste und antwortete.

"Naja… das ist nicht ganz einfach zu beantworten"

Stephanie warf ihm einen fragenden Blick zu und wunderte sich, über was er wohl sprach.

"Ich wurde als Einzelkind geboren, doch vor zwei Jahren wurde ich mit einem Bruder gesegnet..."

"Ich sehe das Problem nicht, das ist doch nicht kompliziert! Ausser du weisst nicht, wie das funktioniert…"

Seth verzog einen Schmollmund nach ihrer Bemerkung und presste seine Hände zusammen als sei er Spock, erster Offizier der Enterprise, bevor er fortfuhr.

"Unterbrich nicht den Meister des Geschichtenerzählens und du wirst verstehen" höhnte er und zog eine Augenbraue hoch.

Stephanie warf ihm einen belustigten Blick zu, bevor sie schweigend ihr Lippen versiegelte und ihre Arme über der Brust verschränkte um ihm zu zeigen, dass sie sich jetzt ganz auf seine Geschichte konzentrierte.

"Also, Ryan – mein Bruder – hat nicht die Gene meines Vaters, wurde aber auch nicht von meiner Mutter geboren" erzählte er auf geheimnisvolle Weise.

Als Stephanie nicht so überrascht reagierte, wie er gehofft hatte, sagte er schliesslich:

"Ok, wir haben Ryan vor zwei Jahren adoptiert als er Stress mit seiner Familie hatte. Und dies sind jetzt also unsere ersten, offiziellen Familienferien alle zusammen."

"Und wo ist dein Bruder jetzt?"

"Obwohl mein Vater und ich den jüdischen Magen geerbt haben, hat Ryan die Reisekrankheit erwischt. Er liegt im Bett und schläft. Hoffentlich geht es ihm morgen wieder besser, ich will nicht ganz alleine Snowboard fahren! Es macht viel mehr Spass Ryan dabei zuzusehen, wie er so tut, als hätte er Spass hier!"

Stephanie grinste über Seth's Bemerkung, bevor sie in die Hände klatschte und Aufstand.

"So, ich muss zurück zur Arbeit, aber ich werde morgen das Frühstück servieren, falls du also nicht auf sein wirst, wie kann ich deinen Bruder erkennen?"

"Naja, mein Bruder ist 18 Jahre alt, hat dunkelblonde Haare, spricht selten, ist nicht mit dem Cohen Charme gesegnet aber ist trotzdem ein ziemlicher Weiberheld. Aber warum willst du ihn denn erkennen?"

"Vielleicht möchte ich ihm eine Mitteilung für dich geben?" flirtete Stephanie grinsend, bevor sie Seth kurz zuwinkte und sich dann wieder an die Arbeit machte.

Seth's Gesicht wurde rot wie eine Tomate in Hochsaison und er dankte schweigend Jehova für das dunkle Licht in der Bar. Wortlos stand er auf und wanderte zurück auf sein Zimmer. Er hoffte, dass Ryan noch auf war, weil diese Begegnung musste er heute Abend noch jemandem erzählen!