Der Schnee

Nachdem Seth aus dem Zimmer geflohen war rannte er nach unten, in der Hoffnung, dass die Bar bereits geöffnet hatte und er sich dort für einige Zeit verstecken konnte. Er hatte Ryan nicht erzählen wollen, dass es seine Schuld war, dass darum die Familie auseinanderbrach, es war einfach die einzige Erklärung die er im Moment hatte. Eigentlich war das nicht wahr, aber es war die einzige Erklärung welche nicht ihn zum Sündenbock machte und er wollte unbedingt glauben, dass dies die einzig wahre Version war.

"Hey Seth"

"Hey Stephanie" murmelte er.

"Du bist früh dran"

"Ja, kann sein… Kann ich zwei shots haben bitte?" fuhr er fort, während er auf die Tafel hinter ihr deutete auf welcher geschrieben stand 'Freitags 2 shots für den Preis von 1'.

"Ich.. Ich glaube nicht Seth, es ist 10 Uhr Morgens!"

"Warum macht ihr denn die Bar auf, wenn ihr euch trotzdem nicht traut, zahlende Kunden zu bedienen?" fauchte er, bereute seine Worte aber bereits als sie seine Lippen verliessen.

Schulterzuckend ignorierte Stephanie sein schlechtes Benehmen und füllte ihm zwei Schnapsgläser mit Whiskey, bevor sie diese dem Jungen mit den schwarzen Locken hinstellte.

Seth nahm das erste Glas, legte seinen Kopf zurück und leerte es in einem Zug. Laut knallte er dann das Glas auf die hölzerne Bar, bevor er nach dem zweiten Glas griff und es ebenso schnell leerte wie das vorige.

"Nochmals zwei" krächzte er dann und hielt zwei Finger in die Höhe um anzuzeigen, dass er es ernst meinte.

Stephanie wusste, dass es nicht ihre Aufgabe war, ihn aufzuhalten, aber so wie sie seinen Charakter einschätzte, war sie sicher, dass er kein notorischer Trinker war und dass ihn offenbar etwas beschäftigte.

Sie griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Rezeption, wo sie nachfragte, ob Maya diesen Morgen hier war. Als sie eine negative Antwort bekam bat sie darum, dass eine andere Kellnerin kurz zur Unterstützung zu ihr an die Bar geschickt wurde.

Seth hatte sich in der Zwischenzeit auf den Barstuhl gesetzt und seinen Kopf auf seine Arme gelegt. Offenbar zeigten die ersten zwei shots bereits Wirkung.

Als Scarlet in der Türe erschien winkte Stephanie sie zu ihr hinüber und deutete schweigend auf den zusammengesunkenen Teenager, welcher vor ihr sass, bevor sie der anderen Kellnerin andeutete, ihr in die Küche zu folgen.

"Chänntisch du dich churz um di bar chümmru? Ich cha nu nit la süffu."(Könntest du dich kurz um die Bar kümmern, eine Stunde oder so? Ich kann ihn nicht saufen lassen).

"Kei problem" (Kein Problem)

Stephanie kehrte an die Bar zurück und sah Seth in Action, wie er sich gerade zwei weitere Schnapsgläser füllte.

"Hey Seemann, vielleicht willst du's ein bisschen ruhiger angehen lassen."

"Warum sollte ich? Heute ist der beste Tag sich voll laufen zu lassen" antwortete Seth undeutlich, die Auswirkungen des Alkohols nicht verheimlichend.

Stephanie zögerte keine Sekunde sondern packte seinen Arm und zog ihn an den dunkelsten Tisch des Raums, wo sie ihn zwang, sich hinzusetzen. Mit einem strengen Blick deutete sie ihm an, dort zu bleiben, während sie zwei heisse, scharze Kaffees holen ging.

Als sie zurückkehrte sass Seth immer noch am gleichen Ort, seine Augen halb offen. Offenbar hatte er es nicht gewagt, sich einen weiteren alkoholischen Drink zu besorgen.

"So, trink das erst mal und dann erzähl mir, was dich beschäftigt"

"Es ist… privat…"

"Ich bin Barmaid, ich kann schweigen und ich bin dafür bekannt, gute Ratschläge zu geben. Ausserdem bin ich ziemlich angsteinflössend, also muss ich wohl kein zweites Mal fragen!"

Seth warf ihr einen respektvollen Blick zu, während er einen Schluck des schwarzen Kaffees nahm, seinen Mund öffnete und sagte:

"Meine Mutter hat uns zu diesen Familienferien gezwungen weil wir einige Probleme in der Familie haben. Weißt du, meine Mum hatte mich in ihren frühen Zwanzigern und seit ich geboren bin, wollten sie ein zweites Kind. Da sie aber vor meiner Geburt eine Abtreibung gehabt hat, was wir erst vor einigen Monaten herausgefunden haben, meinten die Ärzte, dass es schwer für sie werden würde, nochmals ein Baby auszutragen…."

Stephanie nickte und bedeutete dem amerikanischen Jungen weiterzusprechen.

"Nachdem wir Ryan adoptiert hatten dachte ich, dass nun alles perfekt war. Meine Eltern hatten einen zweiten Sohn und ich einen Bruder. Aber etwa vor einem Jahr wurde meine Mum nochmals schwanger. Sie war ausser sich vor Freude, genauso mein Dad."

Seth stoppte und hustete kurz als seine Stimme zu zittern begann.

"Ich war zuerst überrascht und auch ein bisschen eifersüchtig auf das neue Baby, aber nach einiger Zeit hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt und war ebenfalls glücklich."

Er stoppte wieder und nahm einen weiteren Schluck Kaffe, bevor er Stephanie ernst ansah.

"Ryan war eine völlig andere Geschichte… Natürlich hat er uns erzählt, dass ihm der Gedanke an ein Baby gefalle. Wir haben ihn in alles einbezogen, versucht ihm zu zeigen, dass er immer noch ein Teil der Familie ist, dass er ebenfalls ein Geschwisterchen bekommen würde. Ich denke es war noch schwerer für ihn da er dachte, er würde Probleme bereiten, wenn das Baby hier war, dass wir den kleinen Platz den er in unserer Familie beansprucht für das Baby brauchten. Als ob wir jemals darüber nachgedacht hätten, das Baby im Poolhaus unterzubringen!" brummte er.

"Sorry, was?"

"Nicht so wichtig" seufzte Seth und versuchte sich zu erinnern, wo er gewesen war. Ein Schatten fiel über sein Gesicht, seine Augen wurden dunkel als der Schmerz aufblitzte.

"Im fünften Monat hat meine Mutter mein Schwesterchen verloren…"

"Das tut mir so leid…." Sagte die Barmaid erschrocken und schlug ihre Hand vor ihren Mund.

"Es war sehr hart für uns alle, aber vor allem für meine Mutter und Ryan. Meine Mutter machte sich für die Fehlgeburt verantwortlich und begann zu trinken. Ryan's Mutter war Alkoholikerin und er machte sich dafür verantwortlich, dass nun auch meine Mutter sich der Flasche zuwandte. Ausserdem hatte seine Ex-Freundin einige Monate zuvor ein Kind verloren, welches er als seines akzeptiert hatte."

Der Junge mit den schwarzen Locken seufzte, der Schmerz und die Trauer in seinem Gesicht deutlich sichtbar, der Schmerz schnitt tief in Stephanie's Herz.

"Ryan sorgt sich sehr um meine Mum und er hat ihre Alkoholsucht wochenlang vor uns verheimlicht, hat hinter ihr aufgeräumt und nach ihr geschaut wenn sie betrunken war. Ich denke sie müssen einen grossen Streit gehabt haben und sie muss ihn ziemlich verletzt haben, aber wir wissen nicht, was genau passiert ist. Seither sprechen sie nicht mehr miteinander."

Stephanie schluckte kurz. Sie hatte sich ausmalen können, dass Seth deprimiert war, aber sie hatte sicherlich nicht solch eine Geschichte hinter den trüben Augen des betrunkenen Jungen erwartet.

„Meine Mutter ist jetzt clean, aber wir laufen seit Wochen wie auf Eierschalen, niemand traut sich, das Thema anzusprechen, unsere Gefühle zu offenbaren. Mein Vater hat eine Therapie vorgeschlagen, aber wollte meiner Mutter Zeit geben, sich wieder an die Familie zu gewöhnen nachdem sie aus der Rehab zurückgekehrt war."

"Was ist heute passiert?"

"Mein Vater… er sorgt sich mehr um seine Beziehung mit Mum und scheint vergessen zu haben, dass wir auch noch existieren. Alles was er tut ist Befehle zu erteilen, uns zu sagen was wir zu tun haben, aber er hat sich nie die Zeit genommen, um mit uns über alles zu sprechen. Deshalb habe ich mich heute wieder einmal an Ryan gewandt. Wir haben uns um einander gekümmert, obwohl er eher der ruhige, stille Typ ist und nie viel spricht, weiss ich doch, wie er sich fühlt. Er hat mir zwar nie erzählt, was zwischen ihm und Mum passiert war, aber er hat mir geholfen in dieser Zeit zurechnungsfähig zu bleiben."

Schuldbewusste schaute er das Mädchen neben sich an, seufzte und fuhr dann mit versagender Stimme fort:

"Ich habe ihn heute sehr verletzt… Ich habe ihm gesagt, er sei für meine Eltern bloss ein Projekt…"

Stephanie zuckte zusammen und warf Seth einen entsetzten Blick zu. Langsam verstand sie die Situation der einzelnen Familienmitgliedern.

"Es tut mir so leid, glaube mir, ich wollte das nicht sagen, ich wollte nur... es tut so weh meine Schwester und meine Eltern auf einmal zu verlieren…"

Stephanie zog den nun schluchzenden Jungen in ihre Arme und liess ihn an ihrer Schulter weinen, während sie ihn mit sanften Worten zu beruhigen versuchte.


Währendessen in einem Café….

Sandy war verzweifelt. Er hatte immer geglaubt seine Familie sei stark, dafür geschaffen jedes Drama zu überleben, schliesslich musste es so sein, wohnten sie doch in Newport Beach. Niemals hatte er sich vorstellen können, dass das Vertrauen in seine Ehe erschüttert werden konnte, oder dass er und Kirsten sich so auseinander leben konnten.

Nachdem sie vor ein paar Monaten ihr Baby verloren und um das Mädchen getrauert hatten, liess es ihn trotzdem nicht los. Also hatte er mit den Ärzten gesprochen, hatte versucht herauszufinden, weshalb das passiert war und es für Kirsten möglich wäre, nochmals ein Baby auf die Welt zu bringen.

Der Besuch beim Arzt war eine der merkwürdigsten Erfahrungen seines Lebens gewesen. Der Fakt, dass Kirsten kein weiteres Kind mehr austragen konnte war es nicht gewesen, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Aber zu hören, dass sie einige Monate, bevor er sie kennen gelernt hatte, ein Kind abgetrieben hat, fühlte sich an als ob ihm jemand den Boden unter den Füssen wegzog.

Sandy wusste, dass Kirsten neben ihm nur einen Sexualpartner gehabt hatte, nämlich Jimmy Cooper. Ihm war klar, dass sie nie die Chance gehabt hätten, zusammen zu kommen, wenn sie nicht diese schwerwiegende Entscheidung getroffen hätte. Er konnte trotzdem nicht verstehen, weshalb sie ihm nie davon erzählt hatte. Sie waren seit über 20 Jahren verheiratet und er dachte wirklich, dass sie alles teilten, alle kleinen Geheimnisse, alle Fehler die sie ihm Leben gemacht hatten.

Er wusste, dass das Schicksal seiner Familie abhängig war von der Beziehung zwischen ihm und Kirsten. Deshalb war Sandy fest entschlossen, die Kluft zwischen ihnen zu schliessen, den Glauben von beiden an die Zukunft ihrer Ehe wiederherzustellen.

Als Kirsten in den Alkoholismus abdriftete unternahm Sandy alle nötigen Schritte, um sie in einer Rehab Klinik unterzubringen, um ihr zu helfen, ihre Trauer um den Verlust ihres Baby's und die Probleme zwischen ihnen zu bewältigen.

Bereits einige Wochen nach Kirsten's Rückkehr musste Sandy lernen, dass es nicht einfach werden würde, wieder in den Alltag zurückzukehren. Während der Zeit die er benötigte, sich um seine Frau zu kümmern, waren die Jungs völlig auf sich gestellt gewesen, hatten nur miteinander sprechen, sich gegenseitig aufeinander verlassen können, und offensichtlich ging es ihnen gar nicht gut.

Sandy hatte wirklich gehofft, dass sie während diesen Ferien Zeit finden würden, die Beziehungen untereinander in Ordnung zu bringen, die Resignation und die Wut der Jungs abzubauen und wieder eine Familie zu werden.

Hier sass er nun, in diesem kleinen Café vis-à-vis von Kirsten, trank seinen Kaffee und dachte darüber nach, wie er seine Frau sachte darauf vorbereiten konnte, wie es den Jungs ging, warum sie verletzt waren und wie er glaubte, ihnen helfen zu können. Er war sicher, dass Kirsten die Probleme zu Hause gespürt hatte, aber sich selbst lieber mit der Hausarbeit beschäftigt hatte, um nicht zurück in die Sucht zu fallen, dass sie deshalb nicht weiter nachgefragt hatte, wenn die Jungs ihre höflichen Fragen ignorierten.

"Was zum Teufel geht in unserer Familie vor, Sandy?"

Die besorgte Stimme von Kirsten brachte ihn zurück in die Realität und er schaute in ihre Augen, suchte nach einem Hinweis um herauszufinden, was sie meinte.

"Was stimmt nicht mit den Jungs, mit unserer Familie?" fuhr sie fort, ein strenger Ausdruck auf ihrem Gesicht.

"Ich habe sie im Stich gelassen… Ich war so beschäftigt mit uns, unserer Beziehung, dass ich die Jungs vergessen habe, vergessen habe dass auch sie trauerten…. Ich war nicht für sie da…."

"Es ist unser beider Fehler, Sandy. Ich habe niemals begriffen, dass der Verlust unseres Babys solche Auswirkungen auf die Jungs haben könnte. Ich meine, das Baby war niemals auf der Welt! Und mit der Rehab und allem war ich einfach zu beschäftigt mich selbst zu heilen, dass ich vergass, eine gute Mutter zu sein…"

"Kirsten" antwortete er sanft. "Wir sollten jetzt nicht in Selbstkritik baden. Es ist an der Zeit mit den Jungs zu reden, auf ihre Gefühle einzugehen und ihnen zu zeigen, dass wir für sie da sind und dass wir uns Sorgen machen…"

Kirsten erhob sich energisch von ihrem Stuhl, warf ihm einen Blick zu und entgegnete:

"Auf was warten wir dann noch?"

Sandy schaute nur erstaunt zu wie seine Frau die Rechnung bezahlte und zum Ausgang lief, wo sie stehen blieb und ihm bedeutete, ihr nachzukommen. Er stand auf, ging zu ihr hinüber, lächelte sie kurz an und küsste sie zärtlich während er flüsterte:

"Willkommen zurück Schatz!"


Im Hotel

Stephanie hielt Seth immer noch in ihren Armen, tröstete ihn, als sie durch plötzliche Vibrationen unterbrochen wurden. Sie schauten hoch und bemerkten, wie die Deckenlampe anfing zu schaukeln, das Geräusch von zerspringenden Gläsern im Raum.

Die zwei jungen Leute sprangen von ihren Sitzen hoch, warfen verängstigte Blicke umher und griffen dann nach zwei Balken, vergruben ihre Hand im Holz, um nicht umzufallen.

"Erdbeben?" fragte Seth in Panik.

"Ich bezweifle es, eher eine Lawine, eine ziemlich grosse sogar…" antwortete Stephanie mit Angst in der Stimme.

"Lass uns hoch gehen, dort ist es sicherer!"

Als sie halbwegs die Treppe erklommen hatten, stoppten die Vibrationen und sie beeilten sich, die restlichen Stufen hoch zu rennen. In der Lobby gesellten sie sich zu den anderen Gästen, welche sich ängstlich versammelt hatten. Seth suchte nach bekannten Gesichtern und entdeckte seinen Vater, der seine Mutter beschützend im Arm hielt.

„Dad!"

"Seth! Gott sei Dank dir geht es gut!" schrie Kirsten als sie den zitternden Jungen erreichte und ihn in ihre Arme zog.

"Was passiert hier Mum?"

"Eine Lawine, in der Nähe des Dorfes, daher die Vibrationen" erklärte Kirsten mit erzwungener ruhiger und gelassener Stimme.

"Ich dachte du wärst da draussen am snowboarden!" rief Sandy, erleichtert dass sein Sohn seine Pläne von heute Morgen geändert hatte.

Kirsten sah sich um und bemerkte, dass jemand fehlte.

"Wo ist Ryan?"